Der Tag wollte kein Ende finden. Es waren erst vier Stunden um und es lagen noch zwei Schulstunden vor mir. Zwei Stunden, in denen du bei mir warst. Dein Duft und deine Wärme unbarmherzig an meiner Selbstbeherrschung rüttelten. Als wäre dahinter der wohl größte Schatz der Welt versteckt.
Ich schluckte trocken als ich mit dir zusammen als einer der letzten den Umkleideraum betrat. Der Duft von Schweiß lag leicht in der Luft und das Lachen und Scherzen unserer Klassenkameraden vertrieb jede noch so kleine Stille.
Mein Herz zog sich zu einem eisigen Klumpen zusammen, der dann unbarmherzig in meine Magengrube schlug. Ich musste den Impuls unterdrücken mich umzudrehen und zu schwänzen, denn hinter mir, in meinem Rücken, warst du. Warm und unbarmherzig. Du verschwandest nicht. Niemals warst du auch nur für einen Moment weg.
Ich trat zögernd und mit gesenktem Blick an einem freien Platz. Legte meine Schultasche und meinen Turnbeutel auf die Bank vor mir, bevor ich mich dann verstohlen umsah. Doch wie immer ignorierten mich alle. Ich atmete erleichtert unter dieser Erkenntnis aus, denn selbst du warst mit dir selbst beschäftigt.
Hastig schlüpfte ich aus meinem Sonnentop und streifte mir das dünne Langarmshirt über den Kopf. Erst dann erlaubte ich es mir, meine Netzhandschuhe auszuziehen. Das kurze Scheuern der Maschen über meine Arme war mir so vertraut, das es einen wehleidigen Abdruck in meinem Geist hinterließ.
Wie von selbst umschloss ich mit den Händen meine Unterarme, als der Wunsch nach Verschwinden in mein Herz zurück kroch. Ich wollte sie nicht mehr haben. Nicht mehr sehen. Nicht mehr spüren. Doch sie blieben. Egal, wie sehr ich mir das Ende ihrer Existenz wünschte.
„Wieso trägst du ein langärmliges Shirt? Das ist doch viel zu warm für den Sport in der Halle.“ Du warst wieder neben mir. Sorge funkelte in deinen Augen und schlug tiefe Furchen der Schuld, sodass ich den Blickkontakt abbrach und mit den Schultern zuckte. Ich wollte es dir nicht sagen. Nicht offenbaren, was alles falsch gelaufen war. Du würdest dann sicher auch verschwinden. Wie alle anderen auch.
„Hast du es immer noch nicht begriffen, Taiyo? Tsuki will keine Freunde. Du wirst niemals zu ihm durchdringen. All dein Tun ist nur vergebene Liebesmühe.“ Ich erschauderte unter der dunklen Stimme, die nie etwas Gutes zuließ, wenn sie an mich gerichtet wurde und so verkrampfte ich mich automatisch. Sofort grub ich meine Finger tiefer in den weichen, langen Stoff, um so nicht dem Gefühl der Bodenlosigkeit zu erliegen.
Neben uns tauchte ein muskulöser blondierter Mitschüler auf. Sein rotes Muskelshirt spannte sich über seine Brust, die er nur dank exzessiven Training sein Eigen nennen kann. Die blauen Shorts zeigte deutlich, dass er auch die Leg-Days definitiv nicht auslässt.
Er sah mich mit seinen braunen Augen abwertend an, doch ich scheute auch dort den Kontakt und sehnte mich wie seine weißen, abgenutzten Turnschuhe nach Erlösung. Verschwindet. Lasst mich doch nur in Ruhe. Ich will nichts mit euch zu tun haben. Warum fixiert ihr euch so auf mich? Nehmt Taiyo mit und habt Spaß zusammen. Ich will doch nur diese Zeit überstehen und dann irgendwo einen Neuanfang starten. Warum müsst ihr es mir nur so schwer machen? Ignoriert mich doch. Damit kommen wir alle am besten klar.
„Verpiss dich einfach, Timmy?“ Du klangst genervt und dein Blick trug denselben Wunsch wie mein Herz in sich, doch mit einem anderen Ziel. Deine Frage forderte ein Schnauben und der Körper neben mir spannte sich an. Ich konnte sehen, wie die Muskeln zum Vorschein kamen und der Wunsch zu verschwinden übermächtig wurde.
Mit vorsichtigen Schritten zog ich mich langsam zurück, um meine Hose noch zu wechseln, sodass meine Hüftjeans nun einer schwarzen Jogginghose gewichen war. Mein Rückzug blieb nicht unbemerkt von dir und sofort warst du wieder bei mir. Ich wollte nur weg von Timmy, doch solange du an meiner Seite warst, würde dieser Mensch nicht verschwinden. Der Junge, der einer der wenigen ist, die mein Geheimnis kannten.
Bis heute war ich mir nicht sicher, ob dies ein Glück oder Pech war. Denn vor seiner Entdeckung hatte er mich regelmäßig schikaniert und versucht fertig zu machen. Ein Schauer erfasste mich, als seine damaligen Worte zurück in meine Erinnerungen kamen: Nur Schwächlinge gehen auf Krüppel los.
Ein einfacher Satz und doch so schwer, dass er mir eiskalt vor Augen führte, was alles in meinem Leben falsch lief. Aber vor allem, was für eine Schande diese hellen Male auf meinen Armen waren. Erneut umklammerte ich meine Unterarme, als der Wunsch in meinem Herzen auf eine unangenehme Größe wuchs und alles Denken zu erdrücken schien.
„Tsuki, was ist los? Geht es dir nicht gut?“ Du warst sofort wieder bei mir und dein sorgenvoller Blick vertrieb für einen kurzen Augenblick die Kälte aus meinem Geist. Doch dann war dort wieder Timmy, der mich nicht aus diesem Loch herauskommen ließ.
„Warum checkst du es nicht, Taiyo? Der Penner will nichts mit anderen zu tun haben. Lass es endlich gut sein und verschwende deine Zeit nicht mit ihm.“ Die Wärme verschwand unter deinem Knurren und wich einer Kälte, die mich erschaudern ließ, als sie auch dein Lächeln verschlang.
„Und wer hat dich um deinen Rat gefragt?!“ Wut schwang in jedem deiner Worte mit, bei dem du jedes Einzelnes mit Bedacht und Nachdruck aussprachst. „Was hältst du davon, dass du dich aus meinen Angelegenheiten heraushältst? Damit würdest du zumindest mir eine große Freude machen.“
Langsam kroch die Wut von deinen Worten zu deinen Augen, als du dich von mir abwandtest und zu Timmy drehtest, der sogar kurz zurückzuckte. Beschwichtigend hob dieser die Arme und ging ein paar Schritte zurück. „Okay, stay cool, Mann. Ist doch alles okay. War ja nur gut gemeint. Aber wenn du nicht hören willst.“
Das kurze Zucken mit den Schultern machte mich skeptisch und ich wartete auf einen Nachtrag, doch Timmy wandte sich dann von uns ab und ging mit seinen Freunden aus der Umkleide heraus. Mit ihm verschwand auch die Kälte, die sich mit dir als Zentrum langsam im Raum ausgebreitet hatte. Du wandtest dich wieder zu mir und ein Lächeln umspielte deine Lippen.
„Also, nachdem er Idiot endlich weg ist. Was ist los mit dir? Warum trägst du langärmlige Sachen? Da drinnen schwitzt du dich ja zu Tode.“ Du zupftest kurz an meinem Oberteil und ich schreckte durch die unverhoffte Berührung leicht zurück. Lass mich endlich in Ruhe! Bitte, geh doch. Geh einfach mit den anderen. Es ist besser für uns beide.
Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle und blockierte jedes Wort. Ich wollte es dir nicht erklären und dann dieses Mitleid und die Verachtung sehen, die mir immer begegneten, sobald jemand die Wahrheit erfuhr.
Ich senkte meinen Blick und strich mir kurz eine Strähne hinters Ohr. Dein auffordernder Blick blieb und im nächsten Moment griffst du nach meinem Oberarm. Sofort wich ich wieder zurück und mein Herz schlug schneller. Dort war wieder dein Duft, der mich lockte und wohlig umschloss. So viel versprach und doch konnte ich kein Wort davon glauben.
„Tu ich nicht.“ Drei simple Worte und ich schälte mich aus deinem Griff, schlüpfte unter deinem Arm hindurch, um dann ebenfalls in Richtung Turnhalle zu gehen. Wie tausend kleine Spinnen haftete dein Blick auf mir und deine Schritte blieben aus. Endlich warst du nicht an meiner Seite. Hattest du es jetzt endlich verstanden?
Mit leichten Schritten steuerte ich auf die Turnhalle zu, um keinen Ärger vom Lehrer zu bekommen. Ich streckte meinen Arm nach der Klinke der großen Tür aus, doch sie kam nicht an. Ein unbarmherziger Griff stoppte mich und ließ mich meinen Weg nicht mehr fortsetzen.
„Hey, Tsuki. Du hast dein Hündchen vergessen oder langweilt es dich schon?“ Neid trifte aus jedem Wort von Timmy, der Nase rümpfend vor mir stand. Seine Augen waren zusammen gekniffen und ein Knurren schwang in seiner Stimme mit.
Mit einem hoffnungslosen Reißen versuchte ich mich aus dieser Lage zu befreien, doch Timmy ließ mich nicht gehen. Er blieb dort stehen und fixierte mich. Verlangte von mir stumm eine Antwort, die ich ihm nicht geben konnte. All das wollte ich nicht. Weder den Kontakt zu dir noch diese Ablehnung von unseren Mitschülern. Ich wollte nur in der Masse verschwinden und als ein Niemand von dieser Schule gehen.
„Es gefällt mir nicht, dass der Neue so nach deiner Aufmerksamkeit giert, aber du ihn jedes Mal abblitzen lässt. Glaubst du denn, dass du etwas Besseres bist als er. Hast du deinen Platz in diesem System vergessen und muss ich dich nach all der Zeit wieder daran erinnern?“ Diese unterschwellige Drohung ließ mich erschaudern und ich suchte verzweifelt nach meiner Stimme, die sich aber jeglichen Zugang verwehrte.
Doch bevor ich mich zu einer Antwort durchringen konnte, riss man mich aus der Umklammerung und in eine warme, sanfte Umarmung. Dort war wieder dein Duft, der meine Gedankengänge lahmlegte und ich deine Worte nur am Rande wahrnahm, doch ihr Sinn entzog sich im ersten Moment meiner Erkenntnis.
„Lass endlich Tsuki in Ruhe. Wenn du etwas von mir willst, dann komm gefälligst zu mir. Tsuki ist nicht dein Botenjunge! Hast du das jetzt kapiert?“ Du ergriffst erneut Partei für mich. Stelltest dich vor mich und zwangst mich hinter dich. Du nahmst eine Stellung ein, die ich niemanden geben wollte und so kam dieser Trotz in meinem Inneren zurück.
Er kroch langsam aus meinem Bauch hinauf in meinen Geist. Ich brauchte keinen Retter oder gar Verteidiger. Niemand musste sich für mich einsetzen und für mich sprechen. All das konnte ich so weit selbst, dass ich zumindest über die Runden kam und dennoch standest du jetzt hier. Direkt vor mir und botest Timmy die Stirn.
Ich will das nicht! Verschwinde! Halte dich aus meinem Leben raus! Ich brauche keinen Retter oder Verteidiger! Ich brauche niemanden! Verpiss dich endlich!
Ich ignorierte das leichte Ziehen in meinem Bauch, das sofort von dem Groll in meinem Herzen niedergerungen wurde, der sich langsam in meinen Muskeln ausbreitete. Was fällt dir ein? Wieso glaubst du, dass ich so schwach bin, dass ich mich nicht selbst verteidigen kann? Bist du denn so selbstverliebt, dass du nicht siehst, wie es mir damit geht? Verschwinde!
Ein Zucken ging durch meinen Körper und meine Faust prallte auf einen Widerstand. Ich hörte ein schmerzhaftes Stöhnen von dir und sah in deine aufgerissenen Augen. Du hast dich nicht gegen mein Umdrehen gewehrt und auch meinen Schlag hast du nicht kommen sehen. Sogar Timmy lachte kurz überrascht auf, bevor ich euch zurückließ, um in den Sportunterricht zu gehen. Damit dieser Tag ein Ende finden konnte. Endlich ...