Sterben 3/4

942 Words
Klirrend fiel mein Schlüssel in seine Schale auf dem Schuhschrank neben der Tür. Kaum fiel diese ins Schloss, tauchte meine Mutter schon im Rahmen der Küchentür auf. Tränen liefen über ihre Wangen und sie klammerte sich verzweifelt in ihren Ärmeln fest. „Das Krankenhaus hat schon angerufen. Es tut mir so Leid, Tsuki. Hast du noch mit ihr sprechen können?“ Ihre Stimme zitterte unter den Tränen und sie streckte ihre Arme nach mir aus, doch ich sah sie nur an. Das Loch in meinem Inneren verschlang alles und ihr Verrat schlug tiefe Wellen darin. „Wie lange hast du es schon gewusst?“ Die Frage war nur ein Hauch und dennoch trug die Stille zwischen uns sie zu ihr. „Vom ersten Tag an. Sie bestand darauf, dass ich es dir nicht sage. Es war doch nur eine Lungenentzündung. Sie sollte nicht solange im Krankenhaus bleiben und jedes Mal, wenn ich sie darauf ansprach, dass du es erfahren solltest, hat sie nur abgewunken und gemeint, dass sie nicht will, dass du sie so siehst. Sie würde schon bald wieder draußen sein. Was hätte ich denn machen sollen, Tsuki? Du weißt doch, wie stur sie war.“ Sie streckte ihre Hand nach mir aus, doch ich bewegte mich nicht. Kam nicht näher, aber ließ mich auch nicht von ihr berühren. „Und all die Geschichten, dass sie im Urlaub sei, wenn ich sie besuchen wollte? Alles eine Lüge? Nur um mir nicht zu sagen, dass sie im Krankenhaus liegt?“ Ich wollte es nicht begreifen. Diesen Betrug und die immer wiederkehrende Lüge. „Ich... ich hatte gehofft, dass sie gesund werden würde, Tsuki. Du warst immer so niedergeschlagen. Ich wollte dir nicht noch mehr Kummer bereiten.“ Sie trat einen Schritt auf mich zu, doch ich wich auch jetzt wieder vor ihr zurück. Diese Nähe wollte ich nicht. Immer noch flackerte der Schmerz in mir. Über den Verlust und diesen Verrat. „Ich habe dich nie um Schutz gebeten“, zischte ich und als wäre dies das Startsignal zog sich meine Mutter in die Küche zurück. Ihr leises Wimmern drang aus dem Raum, doch ich folgte ihr nicht, sondern ging ins Wohnzimmer, um mich dort auf die Couch zu setzen. Ich lehnte mich nach hinten, legte einen Arm über meine Stirn und ließ den anderen nach unten baumeln. Dabei starrte ich an die weiße Decke, auf der mir immer wieder das Gesicht meiner Oma erschien. Erst das gesunde, starke und lächelnde, bevor es langsam zerfiel und nur noch dieser Schatten ihres Daseins zurückblieb. Immer wieder verschwamm das Bild vor meinen Augen und ich schluckte die Tränen trocken herunter. Aber sie verschwanden nicht, sondern kehrten zurück und glitten über meine Wangen, als auch ich mir auf die Lippen biss, um ein emporkriechendes Wimmern zu unterdrücken. Jetzt hatte ich nur noch meine Mutter und dich. Dich, meinen Zwillingsbruder, den ich mehr liebte, als ich je eine Person geliebt habe. Den ich begehrte und nicht als Bruder haben wollte. Wie sollte ich dir nun begegnen? Perverser. Du bist einfach nur pervers. Selbst jetzt kannst du nicht von dieser Liebe ablassen. Willst du das Spiel solange treiben, bis er es dir ins Gesicht sagt, wie krank du bist? Die Couch sank ein und dort war das blumige Parfüm meiner Mutter, das mich aus den eisigen Klauen meiner inneren Stimme riss. Ihre Wärme glitt über mich und nahm die Kälte mit, die meine Gedanken immer weiter befielen. „Schatz, es tut mir so Leid, dass der Tod von Oma so plötzlich für dich kam. Ich hätte es dir viel früher sagen sollen, aber...“ Ich ließ sie nicht weitersprechen, denn ohne sie anzusehen, sprach ich die Frage, die mir schon, seit ich es wusste, auf der Zunge brannte, aus: „Warum hast du mir nie gesagt, dass ich einen Zwillingsbruder habe?“ Sie zuckte unter dieser Frage zusammen und entlockte mir dadurch ein verzweifeltes Lachen. „Du hast dir meine Geschichten zu Taiyo angehört und bist nicht einmal da auf die Idee gekommen mir die Wahrheit zu sagen. Wie lange wolltest du es noch vor mir verheimlichen? Wann hättest du mir die Wahrheit gesagt?“ „Du weißt über Taiyo Bescheid? Ich... ich hatte gehofft, dass es ein anderer Junge wäre. Der Plan war, dass ihr euch nie hättet treffen sollen.“ Ihre Worte klangen hohl und waren nur ein Hauch, der sie wie eine Illusion wirken ließ, doch ich hörte sie und nahm sie als wahr an. „Oma hat es mir gesagt. Kurz bevor sie gestorben ist. Sie wusste nicht, dass ich ihn schon getroffen habe, aber sie gab mir vor Jahren meinen Schmuck, damit ich ihn finden kann. Sie hätte es mir früher sagen sollen.“ Ich seufzte und legte meine Hände in meinen Schoß, als ich nach vorne zusammenfiel. Sofort ergriff sie meine Hände und wollte mir Trost spenden, doch ich entzog sie ihr. „Fass mich nicht an. Ich... ich will nichts mit Lügnern zu tun haben. Immer wenn ich mir von dir einen Bruder gewünscht habe, hast du mich eiskalt belogen! Du hast meine Sehnsucht mit Füßen getreten und jetzt verlangst du von mir, dass ich dir das alles so einfach verzeihe! Das kannst du vergessen!“ Ich schlug ihre Hände weg und stand auf. Ein kurzes Funkeln, bevor ich auf die Tür zu trat. „Lass mich einfach nur in Ordnung. Du hast schon genug kaputt gemacht.“ Ohne noch einmal zurückzusehen, verließ ich den Raum und ging in mein Zimmer. Der einzige Ort, der kein Leid zu ließ, weil ich die Welt aussperren konnte. Diese grausame Welt, die nur mein Scheitern wollte. Sonst nichts. Nur meinen Untergang ...
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