Sterben 2/4

1679 Words
Die weißen Wände flogen nur so an mir vorbei und der Geruch von Desinfektionsmittel ließ meine Schritte noch schneller werden. Dieser Ort hatte selten etwas Gutes zu bedeuten und ich wollte nicht zu spät kommen. „Hey! Man rennt hier nicht, junger Mann!“ Der empörte Aufruf prallte wie alle anderen vor ihm an mir ab. Meine Schritte wurden nicht langsamer, sondern ich beschleunigte sogar noch einmal. Das Zimmer 249 war mein Ziel. Nicht zurücksehen und nicht stehen bleiben. 230. 233. 237. 241. Du wirst zu spät kommen. Die alte Schachtel wird schon tot sein und dann wirst du deine Mutter verfluchen, dass sie es dir nicht früher gesagt hat. Deine ach so tolle Omilein wird sterben bevor du sie auch nur noch einmal zu Gesicht bekommen hast. Was wirst du dann tun? So wie ich dich kenne, bestimmt wieder flennen und dein Meerschweinchen streicheln. Was machst du, wenn das Vieh auch tot ist? Zu wem gehst du dann? Deine Mutter? Der hast du doch noch nie getraut. Taiyo? Den willst du auch nicht mehr sehen. Wirst du es dann wieder tun? Das wäre ein Spaß. Ich zischte und schüttelte den Kopf, um diese Worte zu vertreiben, doch dort war nur ein Lachen. Wie ich diese Stimme hasste, die mir all meine Fehler und Schwächen immer wieder unter die Nase rieb. Alleine bei der Erinnerung an ihr erstes Auftauchen lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Das Gelächter von Timmy hallte in meinen Ohren nach, als sich die Bilder von damals langsam in meinen Geist drängten. Doch ich wollte nicht in die Vergangenheit zurück und konzentrierte mich zwanghaft auf die Zimmernummern: 249. Nur noch zwei Türen weiter. Eine Tür. Ich platzte, ohne zu klopfen, in das Zimmer meines Begehrens hinein. „Oma! Du darfst nicht sterben!“ Irritierte Blicke trafen mich, als ich auf die Ärztin und den Krankenpfleger sah, die vor dem Bett meiner Oma standen. Doch ich ignorierte auch dieses Personal, wie all ihre Kollegen vor ihnen, und stürmte auf das Bett zu, um dann sofort nach ihrer dürren Hand zu greifen. Die Haut fühlte sich trocken und dünn an, sodass ich Angst hatte, sie zerfällt jeden Moment unter meinen Fingern. Doch sie hielt stand und erwiderte schwach mein Drücken. „Oma, bitte, du musst wieder gesund werden.“ „Junger Mann, wir sind gerade mitten in der Visite.“ Ich ignorierte auch diese Ermahnung wieder und sah in das eingefallene Gesicht meiner Oma, die mich schwach anlächelte. Der Glanz in ihren eisblauen Augen, der mir immer Mut und Hoffnung gab, war verschwunden. Auch ihre zweite Hand konnte mir die Angst nicht nehmen. „Es ist schon gut. Er ist mein Enkel. Lassen Sie uns kurz alleine. Wir müssen uns unterhalten und an sich gibt es eh nicht mehr viel zu besprechen.“ Ein Hustenanfall stoppte sie und erst nach einer kurzen Überlegungspause kam eine Antwort vom Personal. „Ist okay, Frau Kage. Sollten die Schmerzen zu stark werden, dann klingeln Sie bitte. Sie müssen nicht unnötig leiden.“ Die Akte wurde zugeklappt und dann verschwanden sie mit ihrem Wagen auch schon aus dem Zimmer. Stille trat zwischen uns, während ich weiter ihre Hand hielt, bevor ich sie dann an meine Stirn drückte. „Du musst gesund werden“, flüsterte ich wie ein Mantra immer wieder vor mich hin, doch ihr kurzes Kichern stoppte mich schließlich. „Tsuki, diesen Satz habe ich mir die letzten Monate immer wieder vorgesagt. Es hat nichts gebracht und ich habe mich damit abgefunden, dass mein Leben sich seinem Ende nähert.“ Ein kräftiger Hustenanfall stoppte sie in ihrem Redefluss. Kurz erhaschte ich den Anblick von Blut, bevor sie es mit einem Tuch von ihrem Lippen wischte und mich dann erneut anlächelte. „Aber ich bin froh, dass du jetzt bei mir bist und vor allem auch, dass du den Schmuck, den ich dir damals geschenkt habe, weiterhin trägst. Das freut mich sehr, denn wie ich schon sagte, verbindet er dich mit deinem Schicksal.“ Erneut unterbricht sie ihr Husten und ich drückte ihre Hand kurz fester. „Schone dich und werde wieder gesund. Du kannst es mir sagen, wenn du wieder draußen bist.“ „Wenn dies der Fall ist, dann kann ich dir gar nichts mehr sagen. Darum ist es gut, dass du hier bist und wichtig, dass du mir jetzt zuhörst, Tsuki. Verstanden?“ Widerwillig nickte ich und ein Lächeln war mein Lohn. Doch sie hustete erneut und wieder wischte sich mit einem Tuch über die Lippen. Es war schon durchtränkt vom Blut. Angst flackerte in ihren Augen, doch sie versuchte sie hinter einem Lächeln zu verstecken. „Wie gerne hätte ich den Tag erlebt, wenn ihr zwei wieder vereint seid. Ich hätte deinen Bruder so gerne noch einmal gesehen. Wie er sich wohl entwickelt hat und ob er ein genauso schöner Junge geworden ist? Bestimmt. Ihr seid ja eineiige Zwillinge.“ Dieses Mal war der Husten nur leicht, der sie unterbrach, doch mir die Chance gab das Wort an mich zu reißen. „Was? Wovon sprichst du? Ich bin ein Einzelkind, Oma! Es gibt keinen Zwilling von mir!“ Doch, den gibt es. Und das weißt du. Schließlich wolltest du ihn unbedingt vögeln. Du bist so pervers. „Ja, ich weiß, dass dir das deine Mutter immer gesagt hat, weil sie dieses Abkommen mit deinem Vater hatte. Doch ich habe mir mit deiner anderen Oma die Sache mit dem Schmuck überlegt. Darum, Tsuki, der Besitzer deines Schmuckes, nur aus Gold und mit Rubinen, ist dein verschollener Zwillingsbruder.“ Der Husten stoppte sie erneut und ließ mir einen Moment, diesen eiskalten Schlag ins Gesicht zu verarbeiten. Du hattest solch einen Schmuck, aber konnte das Schicksal wirklich so grausam sein? Oh ja, und das weißt du. Das Schicksal hasst dich. „Wie ist sein Name?“ Langsam entglitt mir ihre Hand und ich starrte über sie hinweg auf die verschlossene Tür. Warum bin ich hierher gekommen? Ich hätte in die Schule gehen sollen. Zu dir und mich dieser Begegnung stellen, dann hätte ich die nächsten Worte niemals hören müssen: „Sein Name ist Taiyo. Ich weiß nicht, ob sein Vater seinen Nachnamen geändert hat oder nicht. Aber sonst wäre sein Nachname Hikari.“ Ich taumelte ein paar Schritte zurück und Tränen brannten in meinen Augen. Sie hustete erneut und das Piepen der Überwachungsmonitore wurde immer unruhiger. Ihr Atem rasselte und jeder Zug schien qualvoller zu werden. Der Anblick riss mich wieder zu ihr. „Du darfst nicht sterben, Oma. Ich hab meinen Bruder gefunden. Du musst durchhalten, dann kann ich ihn bestimmt mal hierher bringen.“ „Das freut mich. Du warst immer so einsam, Tsuki. Dein Bruder wird dir bestimmt helfen. Grüß ihn von mir, ja? Ich hätte ihn gerne gesehen.“ Sie hob ihre Hand, um mich an meiner Wange zu berühren. Sofort griff ich nach ihr und schmiegte mich in ihr. Sie atmete noch einmal rasselnd ein und dann wurde aus dem Piepen ein durchgehender Ton. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als die Tränen über meine Wange liefen und ich leise wimmerte. Immer noch umklammerte ich ihre Hand und hoffte, dass ich sie so ins Leben zurückholen konnte. Doch sie kehrte nicht zurück. „Todeszeitpunkt 10:15.“ Es war die Ärztin von vorhin und der Pfleger legte mir tröstend eine Hand auf die Schulter. Ich wusste, dass ich loslassen musste, doch ich blieb nur sitzen und ergab mich diesem Schmerz, der durch meine Gedanken und meinen Körper raste. Immer wieder zog sich alles in mir zusammen und ließ mich wimmernd zurück. Man bedeckte ihren Körper schließlich mit der Decke, doch ich konnte die Hand noch nicht loslassen. Immer wieder drückte ich sie und flüsterte ein leises Bitte. Mein Flehen wurde nicht erhöht. Die Hand, die ich hielt, wurde mit jeder Minute, die verstrich, kälter und dennoch konnte ich mich nicht von ihr lösen. Die Alte ist tot. Mach nen Abflug. Du hast jetzt ein viel größeres Problem. Schließlich willst du deinen Bruder vögeln. Was machst du also jetzt? Willst du es ihm sagen oder schweigst du? Aber jetzt weißt du, was für ein Problem der Alte hatte. Er wusste, wer du bist. Aber er hatte keine Lust auf ein zweites Kind. Ich schüttelte den Kopf und hielt weiter die Hand umklammert. Über dieses Thema wollte ich jetzt noch nicht nachdenken. Ja, ich wusste, dass ich das irgendwann musste, aber nicht in diesem Moment. Jetzt wollte ich mich nur diesem Schmerz hingeben und weinen. Nur an ihre sanften Berührungen denken, wenn wir zusammen auf einer Decke in ihrem Garten saßen und sie mir all die Blumen erklärte. Einzig an all die Stunden, in denen ich bei ihr war und wir uns über alles Mögliche unterhielten. Vor ihr habe ich mich als Erstes geoutet und ihre positive Reaktion gab mir Mut für jedes weitere Comingout. Zu viel Mut, denn es blendete mich auch für die Tatsache, dass es nicht alle toll fanden. „Danke, Oma. Danke für alles“, flüsterte ich und küsste ihre Hand. Sie glitt mir aus den Fingern, als ich mich erhob, und hing am Bett herunter. Sonst war sie nur noch ein Körper unter einem weißen Tuch. Ich war alleine. In diesem Raum. Mit meinen Gedanken. In diesem Leben. „Ich liebe dich. Du fehlst mir jetzt schon.“ Mit diesen Worten wandte ich mich von ihr ab und verließ den Raum. Sie war nicht mehr hier. Gegangen für immer. Nur noch eine Erinnerung. Ein leichtes Flattern in meinem Herzen. Alle Menschen, die du liebst, verlassen dich. Du wirst für immer alleine sein. Solange du lebst, wird man dich immer wieder zurücklassen. Du wirst niemals dein Glück finden. Niemals. Die Tür flog hinter mir ins Schloss und der weiße Gang war wieder hier. Pflegepersonal eilte an mir vorbei. Ich wich ihnen instinktiv aus, während die Sicht immer wieder verschwamm. Egal, wie oft ich mir über das Gesicht strich. Die Tränen kehrten zurück. Zusammen mit dem leisen Wimmern. Doch ich blieb nicht stehen. Ich ging weiter. Immer weiter. Denn wenn ich jetzt liegen blieb, dann würde ich nicht mehr aufstehen. Nie wieder.
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD