Das Klingeln meines Weckers holte mich aus meinem traumlosen Schlaf und selbst das Rascheln von Akirai wirkte träge und müde. Es brauchte erst einmal ein paar Atemzüge, bevor ich das störende Geräusch ausschalten konnte und ich mir erneut müde über das Gesicht strich.
Ich machte mich so weit fertig und gab Akirai ihr Frühstück, genauso wie ihren Guten-Morgen-Flausch bevor ich dann in die Küche ging, um selbst etwas zu essen und meine Brotzeit einzupacken.
„Mama? Was machst du hier?“ Ich stockte im Türrahmen, als mein Blick auf meine Mutter fiel, die mit einer Tasse in der Hand am Tisch saß. Sie musterte mich ruhig und nippte an ihrem Getränk. Skeptisch hob ich eine Augenbraue und ging dann an den Kühlschrank, um mir mein Müsli herzurichten.
„Solltest du nicht arbeiten?“ Erneut kam keine Antwort. Ein feuchter Glanz lag in ihren Augen und mich beschlich ein ungutes Gefühl. Hör auf nachzufragen! Du willst die Antwort nicht hören. Scheinbar will sie nicht reden. Akzeptiere das und sei froh darum. Sie wird sich schon noch melden, wenn es anders aussieht.
Ich konnte der Stimme nur kurz zustimmen. Sie schien nicht sprechen zu wollen, doch die Atmosphäre, die sich langsam ausbreitete, erzeugte einen gewaltigen Knoten in meinen Magen, der dabei war mir den Appetit zu nehmen. Diese Verschwiegenheit passte nicht zu meiner Mutter, die sonst immer lächelte und mich zumindest begrüßte.
„Fühlst du dich besser?“ Ihre Stimme breitete sich wie Nebel im Raum aus und durchschnitt die Stille, an die ich mich gerade gewöhnt hatte. Kurz zuckte ich unter ihr zusammen, doch dann nickte ich. „Ja, es ... es geht schon wieder.“
„Willst du darüber reden?“, fragte sie weiter und bekam von mir nur ein Kopfschütteln. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte, weil ich mir selbst noch nicht im Klaren war, wohin ich überhaupt wollte. Außerdem konnte sie mir doch eh nicht helfen. Das, was gestern geschehen war, wurde deswegen nicht rückgängig gemacht und wie es nun weiterging, würde sich erst zeigen, wenn wir wieder miteinander sprachen. Auch jetzt war noch die Angst da, wie dieses erste Aufeinandertreffen aussehen könnte. Vielleicht sollte ich solange zuhause bleiben bis ich selber wusste, wie ich weitermachen wollte.
„Du brauchst heute nicht in die Schule gehen.“ Als hätte meine Mutter meine Gedanken gelesen, erfüllte sie mir meinen Wunsch, doch sie sah mich nicht dabei an und schließlich ließ ich mich mit meinem Frühstück am Tisch nieder.
„Wieso? Wegen dem, was du mir gestern sagen wolltest?“ Ihre Worte hallten ganz leise in meinem Kopf wieder. Sie wollte gestern etwas mit mir besprechen, aber ich hatte nicht den Kopf dafür. War dies vielleicht auch der Grund, warum sie jetzt noch hier und nicht in der Arbeit war?
Ihre Lippen bebten kurz und sie klammerte sich fester an die Tasse in ihren Händen, bevor sie das Zittern hinter einem weiteren Schluck versuchte zu verstecken. Dann folgte ein zögerliches Nicken und sie schwieg erneut einige Sekunden. Warum spricht sie nicht weiter? Was ist passiert, dass ich sogar zuhause bleiben konnte? Ist irgendwas mit Oma?
Erneut brach sie das Schweigen, kaum dass ich diese Vermutung im Geiste aufgestellt hatte, als würde sie nur darauf warten, dass ich selbst auf das Ergebnis kam. „Mutter liegt im Krankenhaus. Sie ... sie hat schon länger über Schmerzen geklagt. Wir haben dir nichts gesagt, weil wir dich nicht beunruhigen wollten. Aber sie hat gestern erfahren, was wirklich los ist und die Ärzte geben ihr nicht mehr lange. Du ... du solltest zu ihr gehen und dich verabschieden. Ich war gestern schon dort. Es tut mir leid, Tsuki. Ich weiß, dass du gerade selber einiges durchmachst, aber ich will dir diese Möglichkeit nicht nehmen.“
Klirrend fiel mein Löffel in die Schüssel, als die Bedeutung der Worte langsam in mein Gedächtnis drang und mein Sichtfeld sich verschleierte. Dort war meine Mutter, doch ich konnte nur trocken schlucken, bevor ich krächzte: „Wo liegt sie?“
„Auf der Onkologie hier in der Stadt. Der Bus fährt direkt dorthin.“ Ich stand auf und stürmte davon. Ohne ein weiteres Wort an meine Mutter oder gar einen Blick zurück. Das war ein schlechter Traum? Der Wecker hatte noch nicht geklingelt und ich erwachte gleich. Nein, das durfte nicht wahr sein. Meine Großmutter lag nicht im Sterben. Jede, nur nicht sie. Nur nicht sie.
Doch ich blieb weiter in diesem Alptraum gefangen, als ich schon bei der Bushaltestelle zum Stehen kam. Niemand war hier und ließ die Situation noch surrealer erscheinen. Wieso hatten sie mir das nicht früher gesagt? War das der Grund, warum ich in letzter Zeit so selten bei Oma war? Es hatte mich damals schon gewundert, als ich die letzten Ferien alleine Zuhause blieb.
Ich fühlte mich von ihnen verarscht. Trauten sie mir denn gar nichts zu? War ich in ihren Augen noch ein kleines Kind? Wieso hatten sie es mir verschwiegen? Ich hätte vielleicht vieles anders gemacht. Mich öfters mit Oma getroffen. Die Zeit besser genutzt, aber jetzt lief sie mir wie Sand durch die Finger. Nicht greifbar und unaufhaltsam dem Ende entgegen.
Mit einem lauten Zischen blieb schließlich der schwarze Bus vor mir stehen. Ich stieg ein und lächelte dem Fahrer flüchtig zu, als ich schon das Ticket kaufte und mir dann in den eher hinteren Reihen einen Platz suchte.
Mein Blick wanderte nach draußen. Ich sah die Häuser vorbeifliegen und als dein Zuhause kurz erschien, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen, doch ich zwang meine Gedanken wieder zu meiner Oma. Mein Opa war schon vor einigen Jahren gestorben und seitdem waren wir uns noch näher gekommen. Sie hatte sich immer darauf gefreut, wenn ich vorbeikam, doch jetzt war dies vielleicht unser letztes Treffen.
Was sollte ich ihr sagen? Gab es für diesen Moment überhaupt die richtigen Worte? Wir beide wussten, dass es zu Ende ging. Machte es dann überhaupt Sinn, ihr Mut zu zusprechen. Ja, ich hatte keine Worte im Sinn, aber ich würde es mir nicht verzeihen, wenn ich sie nicht mehr sah.
Mein Blick fiel auf die Uhr an meinem Handgelenk. Vor Jahren hatte sie mir in einem Moment der Zweisamkeit eine blaue Schatulle überreicht, in dem mein Schmuck gelegen hatte. Sie lächelte mich an, als ich sie nur fragend musterte. Bis zu diesem Tag hatte ich nie irgendetwas in die Richtung getragen und dann stattete sie mich mit dem vollen Programm aus.
„Was soll ich denn damit?“ Diese Frage ließ sie damals nur lächeln und sie nahm die Kette in die Hand, um sie mir dann umzulegen. „Tragen. Was man nun einmal mit Schmuck so macht.“
Ich verzog mein Gesicht und nahm die Engelsflügel in die Hand, um sie skeptisch zwischen meinen Fingern zu drehen. „Schmuck ist doch was für Mädchen. Das ist voll doof.“
„Nein, Schmuck ist für alle da. Siehst du? Dort steht dein Name in japanischen Schriftzeichen. Du weißt ja, dass deine Mutter aus Japan stammt. Dein Vater hat zwar europäische Wurzeln, doch auch er ist lange dort aufgewachsen. Der zweite Name wird sich dir offenbaren, wenn es so weit ist.“ Sie legte mir das Armkettchen an und und strich dann liebevoll darüber, bevor sie sanft meine Hand ergriff.
„Versprich mir ihn jeden Tag zu tragen. Lege ihn niemals ab, okay? Er wird dich zu etwas sehr Wichtiges führen.“ Sie drückte mir den Ring in die Hand und ich drehte ihn kurz, bevor ich ihn dann über meinen Finger schob. Am Anfang war es ein seltsames Gefühl, so behangen zu sein, doch mittlerweile fehlte es mir, wenn ich ihn mal ablegte.
„Was ist das?“ Diese einfache Frage beantwortete sie damals nur mit einem sanften Lächeln und zwei kryptischen Worten: „Dein Schicksal.“ Und egal wie oft ich dann noch nachfragte, ich bekam nur noch ein Lächeln als Antwort oder einen sanften Kuss auf mein Haar. Darum gab ich es irgendwann auf und wartete darauf, dass er mich zu meinem Schicksal führte. Warst du es vielleicht? Sollte er mich zu dir führen? Aber woher kannte meine Oma dich? Das ergab doch keinen Sinn.
Vielleicht würde sie mir diese Frage noch beantworten. Aber war dafür jetzt die Zeit? Warum musste sie überhaupt sterben? Sie war doch noch nicht so alt und konnte noch so viel Freude verbreiten. Wieso kann ich nicht ihren Platz einnehmen?
Weil dann die Welt weniger trauern würde. Ganz einfach. Das wäre kein fairer Tausch. Findest du nicht auch?
Vermutlich, aber deswegen würde ich ja gerne ihren Platz einnehmen. Dann würde die Welt diesen besonderen Menschen nicht verlieren. Mich würde niemand vermissen.
Kurz kam mir der entsetzte Blick meiner Mutter vor mein geistiges Auge, als sie mich beim finalen Schnitt erlebt hatte. Die Tränen und der Schmerz, der auch heute immer wieder kurz durchschimmerte.
Endlich scheinst du es einzusehen. Du bist ein Nichts und ja, es wäre am Besten wenn du mit deiner Oma tauschen würdest. Aber ja, das ist nicht möglich. Daher solltest du dir lieber überlegen, was deine letzten Worte an sie sein sollten.
Die gibt es doch nicht. Alle klingen bescheuert. Ich weiß nicht, was ihr sagen sollte. Egal, was mir in den Sinn kommt, alles klingt fahl und bescheuert.
Du bist halt zu nichts fähig. Kannst dich nicht einmal von deiner geliebten Oma verabschieden. Wie kann so ein nutzloser Mensch nur weiter am Leben bleiben?
Dir macht das Spaß, oder?
Die Antwort weißt du selbst. Wirst du weinen, wenn sie stirbt?
Natürlich! Ich liebe sie. Ich... ich würde auch jetzt schon weinen, aber... damit helfe ich niemanden.
Nein, du willst nur nicht, dass dich jemand auslacht.
Und? Als wäre das schlimm. Ich will nicht mehr auffallen.
Das schaffst du nicht. Du bist wie ein buntes Leuchtschild. Man wird dich immer sehen und hassen. Egal, wohin du gehst und jetzt stirbt deine Oma. Das lässt die Menschen, die dich mögen, auf eins runter schrumpfen. Eine echt traurige Zahl.
Taiyo mag mich.
Dort war wieder dieses ekelhafte Lachen, und ein Zittern glitt durch meinen Körper, um dort die Angst vor der Antwort zu verbreiten. Ich wollte ihr nicht mehr länger zuhören. Aber sie verschwand nicht. Egal, wie sehr ich es mir wünschte.
Er hat Mitleid und hat dich auch nur gesehen, weil ihr euch ähnlich seid. Sonst hätte er dich ignoriert wie alle anderen. Bild dir also nichts darauf ein. Außerdem hast du doch selbst gemerkt, wie froh er war, dass sein Alter reinkam. Du solltest dem Kerl dankbar dafür sein. Damit hat er dir noch ein wenig mehr Zeit gegeben, um diese Freundschaft endgültig zu begraben.
Das weiß doch niemand. Vielleicht hat er nur Angst.
Angst? Lächerlich! Lüg dich weiter an. Deine Träume werden sich nie erfüllen. Das kannst du mir glauben. Du bist nur zum Sterben gut.
Meine Kehle schnürte sich zu und ich rief mir das freundliche Gesicht meiner Großmutter ins Gedächtnis zurück. Ich wollte diese Wärme und Liebe spüren, die immer in ihrer Nähe da war und all das würde verschwinden. Sich in Luft auflösen und mich ein Stück näher zur ewigen Einsamkeit stoßen.
Nur Akirai war dort. Sie hielt mich oben und spendete mir Trost. Dank ihr konnte ich alles durchstehen. Sie ließ mich nicht im Ungewissen und nahm mich, wie ich war. Nie machte sie mir Vorwürfe oder verurteilte mich. Von ihr bekam ich nur pure Liebe und dennoch blieb mein Herz schwer. Meine Oma war alles für mich neben meiner Mama. Wieso musste sie jetzt sterben?
Erneut verschwamm mein Blick vor mir und ich wischte die Tränen weg, bevor sie sich gänzlich in die Freiheit kämpfen konnten. Ich wollte nicht weinen. Noch lebte sie und ich würde ihr alles sagen, was wichtig war. Mit ihr sprechen und sie auch bitten endlich das Rätsel, um meinen Schmuck zu lösen.
Ja, ich würde ihr alles sagen. Das letzte Mal und ihr für alles danken. Denn ich liebte sie und war für jedes Wort und jede Geste unsagbar dankbar. Sie durfte nicht sterben. Nein, nicht sie. Alle nur nicht sie.
Ich wischte die einsame, salzige Perle von meiner Wangen weg, als der Bus schon um die letzte Kurve bog und das Krankenhaus vor uns erschien. Ein großer, viereckiger Gebäudekomplex, der mehr nach Funktionalität als nach Stil erbaut wurde und einen neuen Anstrich brauchte, doch das Geld wanderte lieber in wichtigere Bereiche. Aber es war nicht genug. Nicht genug, um sie retten zu können ...