Tia saß mit ein paar anderen Frauen in ihrer Basis. Sie konnte es sich immer noch nicht verzeihen, dass sie den Mann nicht retten konnte. Warum war er wieder weggelaufen? Sie hätte ihn hier heraus gebracht. Irgendwohin, wo er sich hätte aufwärmen und sie dann überlegen hätten können, wie es weiterging. Er hätte nicht sterben müssen.
Alleine bei der Erinnerung an die Verkündung, dass der Flüchtling verstorben sei, wurde ihr Herz schwerer. Sie wollte das nicht. Es hätte auch anders laufen können. Es hätte anders laufen müssen. Warum war sie nur zu schwach dafür gewesen?
„Er wird der Letzte sein. Wir werden die Männer aus diesen Zuchthäusern holen und ihnen ihre Freiheit zurückgeben. Kein Mensch hat es verdient so behandelt zu werden. Was hast du gleich nochmal gesagt, Herzhase? Er war ganz nackt?“ Die Frau vor ihr wirkte ruhig und hatte ihr langes schwarzes Haar hochgesteckt, während sie wie auch die vier anderen Damen über ein Plakat gebeugt war.
„Nein, nicht ganz. Um seinen p***s war eine Art Käfig gelegt. Aber ja, sonst hatte er nichts an. Er wäre erfroren, wenn ich ihm nicht ein paar Kleidungsstücke gegeben hätte. Normalerweise hätte er als Frau einfach durch die Straßen laufen können. Ich weiß nicht, was schief gelaufen ist.“ Sie zuckte mit den Schultern und seufzte schwer. Wieso hatte er ihr nicht vertraut? Sie hätte ihn doch gerettet.
„Ich habe ihn ja kurz gesehen und wollte ihn stoppen. Doch er ist einfach davon gelaufen. In seinem Körper war nur Panik. Ich will nicht wissen, wie sie in den Zuchthäusern mit den Männern umgehen, dass er keiner Frau mehr traut.“ Eine Blondine, die noch sehr jung war, schüttelte den Kopf und seufzte dann schwer.
Sie schrieben auf die Plakate Sprüche, die nach der Freiheit der Männer verlangen. Die aussagten, dass auch Männer Menschen waren und somit ein würdiges Leben verdient hätten. Eine Aufforderung nicht jeden Mann als Vergewaltiger oder gar als Mörder zu sehen. Das Verlangen nach einer wieder gemeinsamen Welt. Einer Welt, die wieder so war, wie sie hätte sein sollen. Wo sich Frau und Mann liebten und auf natürlichen Wege Kinder zur Welt brachten. Sie wollten endlich, dass die Frauen begriffen, wie unnatürlich diese Kinderwunschzentren waren. Diese ganze Zivilisation war.
„Wir müssen diese Zuchthäuser endgültig abschaffen. Männer müssen endlich wieder frei sein.“ Tia seufzte schwer und sah auf die Plakate, bevor sie dann stolz nickte. „Das sieht schon einmal gut aus. In einer halben Stunde treffen wir uns mit anderen Frauen vor dem Zuchthaus aus dem der Flüchtling ausgebrochen ist. Wir werden nicht allzu viele sein, aber vielleicht werden wir trotzdem gehört.“
Sie hoffte es so sehr, dass die Welt wieder ihre Augen aufmachte, bevor sie endgültig in ihr Verderben rannte. Es schien alles so perfekt, aber das war es nicht. Niemals war es das und dieser scheinbare Frieden war auch nur eine Lüge der Politik. Das mussten die Frauen augenblicklich verstehen. Sie mussten endlich aufwachen. Ihre Welt war nicht perfekt. Das war sie nie. Konnte sie nicht sein, denn niemand war perfekt. Wie sollte es also ihre Welt dann sein, wenn sie diese erschufen, aber selbst es niemals waren? Eben, das ging nicht.
Tia griff sich ein Plakat und stand dann damit auf. Noch einmal sah sie auf ihre Mitstreiterinnen. Sie waren alle entschlossen und wollten mit allen Mitteln die Freiheit der Männer erlangen.
Jede von ihnen hatte ein ziemlich ähnliches Erlebnis in ihrer Vergangenheit. Sie alle kannten einen Mann, der von ihren Eltern versteckt wurde. Bei manchen war es sogar der eigene Bruder gewesen, doch sie wurden erwischt. Erwischt und der Mann wurde ins Zuchthaus gebracht, während man die Eltern hinrichtete. Diese Vorgehensweise konnte nicht korrekt sein. Es war niemals in Ordnung die eigenen Leute zu töten oder gar der Freiheit zu berauben. Das Alles musste sofort aufhören. Und das besser gestern als morgen.
„Also, dann lasst uns auf die Straße gehen.“ Sie sah noch einmal in die Runde und ihr begegneten entschlossene Gesichter. Sie konnten nur gewinnen. Dieses Mal würden sie siegreich sein und den anderen Frauen die Augen öffnen. Es musste einfach so sein. Ein anderes Ergebnis würde Tia nicht akzeptieren.
Sie verließen das Haus und traten auf die Straße. Ruhig gingen sie an den anderen Frauen vorbei. Tia merkte, wie sie irritiert gemustert wurden, doch sie sah nicht zur Seite, sondern umschloss nur das Plakat und ging weiter. Sie hörte das Knirschen des Schnees hinter sich. Ihre Kameradinnen waren bei ihr und sie wurden mehr. Andere Frauen traten ebenfalls zu ihnen und Tia spürte, wie sie sich mächtig zu fühlen begann.
Sie waren nicht wenige, aber auch nicht wirklich viele. Vielleicht fünfzig Stück. Aber mehr war in der kurzen Zeit nicht möglich gewesen. Sie mussten handeln, bevor die Flucht wieder in Vergessenheit geriet. Sonst würde man sie nicht erhören. Das wussten sie.
Langsam tauchte das Gebäude vor ihnen auf. Es wirkte wie ein Gefängnis und das war es auch. Sie wollte nicht wissen, was hinter dieser verschlossenen Tür vor sich ging, aber sie konnte es erahnen. Schließlich hatte sie den Geflohenen gesehen. Wie mager er war und wie sein Körper zitterte. Er wirkte jetzt nicht dreckig, aber dennoch erweckte er das Gefühl, dass er gerade mal so am Leben gelassen wurde und das war keine würdige Existenz mehr.
„Okay, Mädels. Lasst die Öffentlichkeit wissen, was hier passiert und ihr endlich die Augen öffnen.“ Sie stellten sich auf. Begannen ihre Plakate in den Himmel zu strecken und gingen auf und ab. Zeigten den Frauen, die hier vorbeigingen, was hier passierte, während Tia sich das Megaphon griff und auch verbal Aufmerksamkeit forderte.
„Es ist genug! Die Männer müssen wieder frei kommen! Sie sind nicht weniger wert als unser Vieh! Dort drinnen werden sie aber so behandelt! Sie dienen nur als Lieferanten für das Sperma, das man uns dann auf künstlichen Wege einpflanzt! Wir werden gezwungen uns eine Frau als Partnerin fürs Leben zu suchen, obwohl wir uns vielleicht gar nicht in sie verlieben können! Wer liebt seine Partnerin denn wirklich und wer ist nur bei ihr, um nicht alleine alt zu werden?! Wacht endlich auf! Wir müssen die Männer befreien! Sie haben auch ein Recht auf Freiheit und sie sind nicht so schlimm, wie es uns die Regierung weismachen will! Helft uns diese barbarischen Zuchthäuser abzuschaffen und uns somit wieder die Möglichkeit zu geben uns wirklich zu verlieben!“
Vereinzelt blieben Frauen stehen und hörten ihr eine Weile zu, doch dann gingen sie meistens kopfschüttelnd weiter. Es gesellte sich keine neue Frau zu ihnen und so blieb die Gruppengröße konstant, doch Tia gab nicht auf. Immer wieder wiederholte sie die Sätze. „Wacht endlich auf! Die Regierung entführt Frauen, die anders denken! Sie bringt diese sogar um nur weil sie einen Mann verstecken! Das kann nicht sein! Das Töten von Bürgerinnen ist niemals okay!“
Sie wollte gerade weitersprechen, als eine Frau stehen blieb und auf sie zutrat. Ihre Augen waren voller Hass und im nächsten Moment schlug sie ihr das Megaphon aus der Hand. „Du bist der Meinung, dass es falsch ist Verräterinnen zu töten?! Diese Miststücke, die Männer verstecken, die dann nur irgendwann eine Frau vergewaltigen?! Es ist unverschämt, dass du diese Weiber in den Schutz nimmst?! Männer vergewaltigen, wenn wir sie draußen frei herum laufen lassen! Sie ruinieren damit Leben ohne wirklich zu töten! Hör auf diese Bestien zu verteidigen! Sie sind zurecht weggesperrt und ich bin glücklich, dass dieser Erzeuger getötet wurde! Männer, die von Freiheit träumen, darf es hier nicht geben! Sie sind nur für ihr Sperma gut! Sonst nichts und man sollte das Recht auf Kastration verbieten! Wegsperren oder töten! Das sollten die einzigen zwei Optionen für diese Monster sein!“
Tia wusste, dass es solche Frauen gab und sie hatte diese Diskussion schon öfters geführt, doch ihr war noch niemals solch ein Hass in einem Blick begegnet. Dieser unbändige Zorn schnürte ihr kurz die Kehle zu und als sie endlich ihre Zunge wiederfand, durchbrach eine autoritäre Stimme die Versammlung: „Was wird das hier, meine Damen?! Ist diese Demonstration angekündigt?! Ich glaube ja nicht. Deswegen werdet ihr jetzt alle brav mitkommen und über euer Verhalten eine Weile hinter Gittern nachdenken.“
Tia sah immer noch auf die Kontrahentin. Ihre grünen Augen schrien voller Hass auf und das rote Haar legte sich in leichten Wellen um ihr Gesicht. Sie konnte sogar Sommersprossen darauf entdecken, doch dann wurde dieses Gefühl abgelöst und ein zufriedenes Grinsen legte sich auf ihre Lippen.
Eine Wächterin trat zu Tia und legte ihr Handschellen an. Sie begriff nicht, was gerade passiert war. Wieso hatte sie so ihre Streitlust verloren? Warum wurden sie jetzt verhaftet? Sie durften nicht verlieren! Aber als sie mit ihren Kameradinnen abgeführt wurde, wuchs dieses Gefühl immer mehr in ihr an.
Es war nicht möglich, aber es war geschehen. Ihre Demonstration war zwecklos geworden, denn die Worte, die daran in Erinnerung blieben, waren nicht ihre, sondern die dieser einen Frau, die alles aussprach, was die Regierung wollte: Den puren Hass gegen die Männer...