Sofias Perspektive
Das Gemurmel war überall. Es waren keine Flüstereien mehr, sondern offene, bittere Worte, die wie Klauen durch mich schnitten und jede getroffene Stelle wund und blutig hinterließen.
„Verflucht!“, rief eines der Rudelmitglieder von seinem Platz aus. Mein Kopf fühlte sich jedoch zu schwer an, um mich umzudrehen und zu sehen, wer es gesagt hatte.
Doch als ich dachte, es könnte nicht schlimmer werden, rief eine andere Stimme: „Sie ist unnatürlich!“
„Lyla“, rief ich flehend nach meiner Wölfin, aber sie war nirgends zu spüren – verloren, tief in mir vergraben. Ich fühlte die erdrückende Stille, wie laut sie in mir schrie und wie leer sie mich zurückließ. Ich brauchte sie jetzt mehr denn je, doch sie war unerreichbar, gebrochen, weil wir beide zurückgewiesen worden waren.
„Kein Wolf wählt die Stille, es sei denn, der Mensch ist gebrochen!“
Es gab keinen Zweifel, wie sehr mich dieser Satz traf.
Ich zwang mich vom Boden hoch und stand nun mitten im Raum. Jeder Teil von mir fühlte sich entblößt – vielleicht zu sehr. Es war, als könnte jederzeit ein Pfeil auf mich abgeschossen werden, und ich hätte keine Chance auszuweichen. Hass traf mich aus allen Richtungen.
Ich war hier nicht erwünscht.
Der Schmerz in meiner Brust breitete sich aus, so heftig, dass ich mich fast krümmte. Es war ein dumpfes Pochen, das bei jedem Herzschlag vibrierte. Ich war vor dem ganzen Rudel bloßgestellt worden. Ich konnte meine Wölfin nicht rufen. Ich war leer – und nun wusste es jeder.
Die Ältesten erhoben sich gleichzeitig von ihren Sitzen, und meine Augen folgten jeder ihrer Bewegungen. Der Ekel in ihren Gesichtern war deutlich, ihre Blicke unerschütterlich, fest auf mich gerichtet. In ihren gealterten Augen lagen Urteile, unbegründete Furcht – und noch etwas anderes.
Hass.
Das war mein endgültiges Urteil. Ich würde hier niemals willkommen sein.
Langsam bewegten sie sich auf mich zu, und ich hielt den Atem an, bis sie vor mir stehen blieben – wie Henker vor einer Verurteilten.
„Du bist gefährlich, Sofia!“, knurrte einer, seine Augen verdunkelten sich. Ein runzliger Finger zeigte auf mich, als wäre ich etwas Schmutz, den man entsorgen musste.
„Ich glaube nicht, dass ich jemals ein solches Ungleichgewicht in der natürlichen Ordnung gesehen habe“, sagte ein anderer mit schneidender Stimme. „Wo ist deine Wölfin, Kind?“
Das wäre der Moment gewesen, um um Gnade zu bitten – doch meine Zunge gehorchte nicht meinem Verstand. Und selbst wenn sie es getan hätte, bezweifelte ich, dass ich unter demselben Dach wie Lucas und seine Braut hätte leben können.
Wie auf ein Stichwort glitt mein Blick zu ihnen. Wut schoss in mir hoch, als ich sah, wie sie sich liebevoll ansahen.
Die Worte der Ältesten dröhnten lauter in meinem Kopf, bohrten sich unter meine Haut. „Lyla.“ Meine Stimme zitterte, als ich es ein weiteres Mal versuchte, sie zu erreichen, sie zu spüren. „Bitte, sag etwas. Verlass mich nicht auch noch.“
Stille.
Kalt. Hohl. Ich hielt mich davon ab, die Arme um meinen Körper zu schlingen. Ich fühlte mich wie ein bodenloser Brunnen, und die Blicke der Ältesten machten es nur schlimmer. Lyla war verschwunden – unfähig, diesen Schmerz zu ertragen.
Tränen trübten meine Sicht, und meine Hände zitterten vor Angst und Verletzung, während ich den Stoff meines Brautkleides umklammerte. Ich begann zu zweifeln, ob ihre Anschuldigungen stimmten – ob ich wirklich böse war, eine Verzerrung des Natürlichen. Vielleicht war das der wahre Grund, warum Lucas mich an unserem Hochzeitstag verlassen hatte, warum er mich vor dem ganzen Rudel zurückgewiesen hatte.
Ich wusste nicht, ob ich weinte, weil mein Gefährte eine andere geheiratet hatte – oder wegen all dem, was das Rudel und seine Ältesten gerade zu mir gesagt hatten.
Mitten im Chaos hörte ich die Stimme, in die ich mich seit einem Jahrzehnt jeden Tag verliebt hatte – die aber langsam ihre Wirkung verlor.
„Sofia.“
Ich riss den Kopf so schnell hoch, dass es in meinem Nacken knackte. Doch das war mir egal, als sich unsere Blicke trafen. Lucas stand da – groß, mit einer Aura von Autorität, umgeben von seinen Wachen und Vivian.
Schon sein Anblick riss etwas in meiner Brust auf, aber ich konnte nicht wegsehen. Ich suchte in seinen Augen nach etwas anderem als dem kalten Entschluss, der mir entgegenschlug – nach Mitgefühl, Reue… nach irgendetwas außer dieser Ablehnung.
Aber da war nichts.
Meine Beine zitterten erneut, doch ich würde nicht ein zweites Mal zu Boden fallen. Meine Würde hatte mich längst verlassen, aber ich musste diesem Moment ins Auge sehen. „Lucas“, flüsterte ich. „Ist das wirklich deine Entscheidung?“
Er blinzelte nicht, seine Stimme tief und fest – völlig frei von Emotionen: „Nimm dein Leben ernst, Sofia. Du hast die Ältesten und das Rudel gehört. Sie sind bereit, dich lebendig zu verbrennen, weil sie glauben, dass du ein Fluch für das Rudel bist. Und ich kann sie nicht aufhalten, wenn du nicht sofort gehst.“
Das war es. Der Mann, mit dem mich die Mondgöttin verbunden hatte, der mir die unvergesslichste Bindungszeremonie versprochen hatte, erklärte gerade, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte.
Ich sah mich um – törichterweise in der Hoffnung, dass jemand aus dem Rudel für mich eintreten würde, nachdem sie mich ein Jahrzehnt lang an Lucas’ Seite gesehen hatten. Doch die Blicke, die mir begegneten, waren voller Gleichgültigkeit oder Furcht.
Niemand wollte sich gegen Alpha Lucas stellen, nachdem er so klare Anweisungen gegeben hatte. Ich nickte, wandte mich ab und ging auf den Ausgang zu, ohne zurückzusehen. Denn wenn ich es tat, würde ich Lucas erneut anflehen – und ich konnte Vivians Gesicht dabei nicht ertragen.
„Sofia!“ Evelyns Stimme durchschnitt den Lärm der Menge. Ich drehte mich um und sah, wie sie sich durch die Reihen der Rudelmitglieder kämpfte. Sie rannte auf mich zu, doch zwei Wachen tauchten auf und stellten sich ihr in den Weg.
„Ich gehe mit ihr!“, rief sie und versuchte, an ihnen vorbeizukommen. „Geht mir aus dem Weg.“
Einer der Wachen blickte kurz zu Lucas und dann zurück zu ihr. „Es tut mir leid, aber du kannst nicht…“
Evelyn ließ ihn gar nicht ausreden, sondern wandte sich scharf ab und ging schnellen Schrittes direkt auf Lucas zu. Für einen Augenblick dachte ich, meine beste Freundin müsse neun Leben haben.
„Wenn du Macht über Sofia hast“, begann sie mit erhobenem Haupt und fester Stimme, „welches Recht hast du dann, mir zu verbieten, ihr zu folgen? Sehe ich etwa aus wie sie?“