Annelieses Perspektive
„Luna! Luna!“, rief eine Stimme, und ich spürte, wie mich jemand sanft an der Schulter berührte.
Meine Augen rissen sich auf, und ich blickte direkt in das Gesicht von Amalia, meiner persönlichen Zofe. Wie kommt es, dass Amalia vor mir steht? Bin ich nicht gerade noch im Wald gestorben?
„Geht es dir gut, Luna?“, fragte sie mit besorgter Miene. „Ich versuche schon eine Weile, dich zu wecken. Es ist Zeit für dein tägliches Ritual.“
„Tägliches Ritual?“
Sie nickte.
„Ja. Hast du es vergessen, Luna? Du betest immer zu dieser Tageszeit zur Mondgöttin, damit sie dir hilft, ein Kind für den Alpha zu empfangen und zu gebären.“ Sie griff nach dem Tablett mit Essen auf dem Nachttisch. „Aber du kannst das Ritual nicht mit leerem Magen machen. Schau, ich habe dein Lieblingsessen gekocht.“
Bei ihren Worten sah ich mich um und stellte fest, dass ich wieder in Adolfs und meinem Schlafzimmer war. Mein Blick glitt zurück zum Essen, und ich verengte die Augen – ich hatte ein Déjà-vu. Diese Szene kam mir bekannt vor. Dann wurde es mir klar: Ich muss in der Zeit zurückgereist sein. Meine Begegnung mit dieser Frau war kein Traum.
„Welches Datum haben wir heute?“, fragte ich sie schnell.
„Heute ist der 19. April 2025“, antwortete sie.
Mir klappte der Mund auf. Das bedeutete, ich war drei Monate in die Vergangenheit gereist – drei Monate vor dem Tag, an dem Adolf und Irma mich hereingelegt hatten.
Plötzlich durchzuckte ein stechender Schmerz meinen Kopf, und ich stieß einen qualvollen Schrei aus, während meine Hände sich an meinen Schädel pressten. Während ich diese Schmerzen durchlitt, begannen Erinnerungen aus verschiedenen Leben durch meinen Kopf zu jagen. Ich sah deutlich, wie Adolf mich in jedem einzelnen Leben benutzt und verraten hatte.
„Luna! Luna, was ist los?“, hörte ich Amalia panisch rufen.
„Mir geht’s gut“, presste ich zwischen den Zähnen hervor, obwohl ich fast vor Schmerz verging.
„Soll ich den Rudenarzt holen? Oder… ich hole den Alpha.“ Ich schüttelte den Kopf, aber sie missverstand es als Zeichen, dass ich gegen die Schmerzen ankämpfte.
„Ich bin gleich zurück“, sagte sie, bereit hinauszulaufen, doch ich packte schnell ihre Hand.
„Mir geht’s gut“, sagte ich ihr. Sie war zwar nicht überzeugt, konnte aber nicht weg, weil mein Griff zu fest war.
Nicht lange danach ließ der Schmerz nach. Ich ließ sie los und bat um ein Glas Wasser.
„Hier“, reichte sie mir das Wasser. Ich nahm es, trank ein paar große Schlucke und reichte ihr den Rest zurück.
In diesem Moment kam Adolf herein, mit einem warmen Lächeln im Gesicht – ein Lächeln, von dem ich jetzt wusste, dass es falsch war.
„Alpha“, grüßte Amalia ihn mit einer Verbeugung, doch er ignorierte sie und kam direkt zu mir.
„Hey Liebling, solltest du dich nicht für dein tägliches Ritual fertig machen?“, fragte er in der süßesten Stimme überhaupt.
Ich lachte innerlich spöttisch. Was für ein Heuchler!
Um nicht zu zeigen, wie sehr ich ihn verachtete, zwang ich mir schnell ein Lächeln auf.
„Amalia hat mich gerade geweckt. Ich bin gleich soweit“, antwortete ich.
„Gut! Ich wollte dir nur sagen, dass ich später vielleicht nicht zum Abendessen komme. Ich habe ein Treffen mit einem Alpha.“
„Hmm“, machte ich nur.
Er beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Früher hätte mein Herz dabei Purzelbäume geschlagen, aber jetzt fühlte ich nichts als Ekel und musste mich beherrschen, ihn nicht wegzustoßen.
„Ich wusste, dass du Verständnis hast.“ Damit verschwand er.
Sofort wischte ich seinen Kuss von meiner Stirn.
„Ich bereite dein Bad vor, Luna“, sagte Amalia und ging ins Badezimmer.
Ich lehnte mich an das Kopfteil des Bettes und begann zu überlegen, wie ich meine Rache an Irma und Adolf planen würde.
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> Behausung des Sehers > > > > >
Als ich mich Adolfs Arbeitszimmer näherte, hörte ich Stimmen, und meine Stirn legte sich in Falten. War er nicht eigentlich bei einem Treffen? Oder hatten sie beschlossen, es in seinem Büro abzuhalten?
Je näher ich kam, desto deutlicher wurden die Stimmen – es waren Adolf und Irma. Doch ich erstarrte, als ich ihr Gespräch mitanhörte.
„Es dauert so lange. Wie lange soll ich noch warten?“, fragte Irma gereizt.
„Komm schon. Vertraust du mir etwa nicht, Liebling?“, Adolfs Stimme war weicher als je zuvor. „Es dauert nicht mehr lange, dann bin ich sie los und mache dich zur Luna“, versprach er ihr.
„Wirklich?“
„Ja. Ich werde dafür sorgen, dass das ganze Rudel dich akzeptiert, liebt und respektiert!“, sagte er.
„Oh, wie ich dich liebe“, rief Irma aus, voller Freude.
„Ich liebe dich auch“, antwortete Adolf. „Komm, lass uns mit Carl spielen. Es ist lange her, dass ich Zeit mit ihm verbracht habe.“
„Mein armer Junge. Schade, dass wir ihn opfern müssen, um diese dumme Schlampe loszuwerden“, seufzte Irma. Sie hätte traurig klingen sollen, tat es aber kein bisschen.
„Ja, es ist schade. Aber wir müssen etwas opfern, um zu bekommen, was wir wollen. Außerdem machen wir später noch mehr Kinder.“
Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Wie können sie nur so grausam zu ihrem eigenen Fleisch und Blut sein?
Als ich ihre Schritte näherkommen hörte, geriet ich in Panik. Meine Augen suchten hektisch nach einem Versteck. Dann fiel mein Blick auf eine Tür – die Tür zu Adolfs verbotener Studierstube.
Er war immer sehr beschützend gegenüber diesem Raum und ließ niemanden hinein, nicht einmal die Reinigungskräfte. Er behauptete, dort befänden sich wichtige Dokumente, die in falschen Händen großen Schaden anrichten könnten.
Da es keine andere Möglichkeit gab, rannte ich hinein und verriegelte die Tür von innen. Wie ich vermutet hatte, war es stockdunkel. Ich zog mein Handy aus der Tasche, schaltete die Taschenlampe ein und begann, mich umzusehen.
Mein Blick fiel auf einen Schreibtisch mit verstreuten Akten.
Neugierig trat ich näher und öffnete eine der Akten. Meine Stirn legte sich in Falten bei den fettgedruckten Worten oben auf dem Blatt: „Die Große Prophezeiung!“ – und meine Neugier wuchs. Die große Prophezeiung? Worum könnte es gehen?
Ich las weiter. Meine Augen weiteten sich, und ich erstarrte beim Inhalt des Dokuments:
„Adolf Storm, geboren am 29. August 1994, trägt das Blut des verfluchten Alpha-Königs in sich und muss eliminiert werden, um zukünftiges Unheil zu vermeiden.“
Adolf stammt von der Blutlinie des verfluchten Alpha-Königs ab? Warum wurde er dann überhaupt König?
Ich weiß nicht, was mich ritt, aber ich blätterte zur nächsten Seite – und was ich dort las, verschlug mir die Sprache:
„Niclaus Storm, geboren am 29. August 1994, trägt das Blut des gesegneten Alpha-Königs in sich, wird mit der Tochter der Mondgöttin verbunden sein, und gemeinsam werden sie Frieden und Ordnung in die übernatürliche Welt bringen.“
Fragen über Fragen schossen mir durch den Kopf: Was bedeutet das alles? Heißt das, Niclaus ist mein Seelenverwandter? Aber wenn er mein Seelenver
wandter ist – warum spüre ich unsere Verbindung nicht? Was ist hier los?
In diesem Moment flog die Tür auf – und ich erstarrte.