PROLOG

777 Words
PROLOG Er sah auf die Uhr. 2 Uhr 59. Die Schulglocke klingelte jeden Augenblick. Ashley wohnte nur ein paar Blocks von der Schule entfernt, weniger als eine Meile, und sie ging fast immer alleine. Doch genau das machte ihm Sorgen – heute war einer der wenigen Tage, an denen sie Gesellschaft hatte. Schon wenige Minuten, nachdem die Schule zu Ende war, erblickte er sie. Sein Herz klopfte, als er sie mit zwei anderen Mädchen die Main Street entlang gehen sah. Sie blieben an einer Kreuzung stehen und redeten. Das reichte nicht. Er musste sie alleine treffen. Er musste. Er spürte die Angst im Nacken. Heute musste es passieren. Er saß auf dem Fahrersitz seines Vans und versuchte zu kontrollieren, was er sein Wahres-Ich nannte. Sein Wahres-Ich hatte hingegen die Kontrolle, wenn er seine Experimente an den Objekten in der Homebase durchführte. Dieses Wahre-Ich ermöglichte ihm auch, die Schreie und das Flehen der Objekte zu ignorieren, sodass er sich auf seine überaus wichtige Aufgabe konzentrieren konnte. Doch die meiste Zeit musste er sein Wahres-Ich verbergen. Er musste sich immer wieder daran erinnern, sie Mädchen anstatt Objekte zu nennen. Er bemühte sich, sie beim Namen zu nennen. „Ashley“. Er musste sich immer wieder daran erinnern, dass er nach außen hin völlig normal erscheinen musste, und dass niemand erkennen sollte, was sich in seinem Inneren abspielte. Das klappte jetzt schon seit Jahren – er gab sich Mühe. Er wurde sogar hin und wieder „langweilig“ genannt. Das gefiel ihm. Es bedeutete, dass er ein guter Schauspieler war. Er schaffte es, die Fassade eines ganz normalen Lebens aufrecht zu erhalten, worum ihn manch einer sogar beneidete. Er war mitten unter ihnen – bestens getarnt. Aber jetzt spürte er das Verlangen in der Brust. Es wurde so stark, dass er es nur mit Mühe zügeln konnte. Er schloss die Augen, atmete ein paarmal tief durch und ging in Gedanken noch einmal seine Anweisungen durch. Dann atmete er tief ein, hielt die Luft für ein paar Sekunden an, um daraufhin mit summender Stimme auszuatmen. „Ommm…“ Dann öffnete er die Augen wieder. Er fühlte sich erleichtert. Die beiden Freundinnen waren inzwischen in die Clubhouse Avenue eingebogen und gingen in Richtung Wasser. Ashley ging alleine weiter. Gleich würde sie am Hundepark vorbei kommen. Manchmal verbrachte sie ihre Nachmittage damit, den Hunden zuzuschauen, wie sie hinter Tennisbällen herjagten. Nicht heute. Heute ging sie zielstrebig daran vorbei, als hätte sie etwas Bestimmtes vor. Wenn sie geahnt hätte, was auf sie zukam, hätte sie sich Zeit gelassen. Er grinste über diesen Gedanken. Er fand sie attraktiv. Jetzt fuhr er langsam hinter ihr her. Am Zebrastreifen wartete er absichtlich etwas länger und bewunderte ihren athletischen, von der Sonne gebräunten Körper. Sie trug einen knielangen, pinken Rock und ein hellblaues, figurbetontes Top. Dann war es soweit. Ein Gefühl der Ruhe umhüllte ihn. Er aktivierte die etwas seltsam aussehende E-Zigarette, die vor ihm auf der Ablage lag, und drückte vorsichtig auf das Gaspedal. Er lenkte den Van direkt neben sie und rief durch das geöffnete Beifahrerfenster. „Hey!“ Sie sah überrascht auf und blinzelte durch das Fenster, um zu erkennen, wer gerufen hatte. „Ich bin’s“, sagte er locker und hielt den Van an. Dann öffnete er die Beifahrertür, damit sie ihn besser sehen konnte. Sie kam etwas näher heran. Er beobachtete, wie sich ihr Gesicht veränderte, als sie ihn schließlich erkannte. „Ach du bist es, sorry“, entschuldigte sie sich. „Kein Problem“, sagte er und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Sie sah das Gerät in seiner Hand genauer an. „So eine habe ich noch nie gesehen.“ „Möchtest du probieren?“, bot er ihr möglichst beiläufig an. Sie nickte und kam noch einen weiteren Schritt näher. Er beugte sich zu ihr hinüber, als würde er die Zigarette jeden Augenblick aus dem Mund nehmen und ihr hinhalten, aber als sie nur noch einige Zentimeter entfernt war, drückte er einen kleinen Knopf, und sofort sprühte ihr eine Giftmischung direkt ins Gesicht. Gleichzeitig hielt er sich selbst eine Schutzmaske über Mund und Nase. Es ging so schnell und unauffällig, dass Ashley es nicht einmal bemerkte. Bevor sie reagieren konnte, schlossen sich ihre Augen und ihre Beine gaben nach. Da sie sich bereits zu ihm gelehnt hatte, fiel sie ihm direkt in die Arme und er bugsierte sie sanft auf den Beifahrersitz. Für einen Beobachter hätte es aussehen können, als wäre sie ganz freiwillig in den Van eingestiegen. Sein Herz klopfte wild, aber er musste jetzt ruhig bleiben. Er hatte es fast geschafft. Er streckte den Arm aus, am Objekt vorbei, schloss die Beifahrertür und schnallte es an. Dann atmete er tief durch. Er überprüfte schnell, ob die Luft rein war, und fuhr wieder an. Bald reihte er sich unauffällig in den südkalifornischen Feierabendverkehr ein. Er war einer von vielen, die sich ihren Weg durch diesen Dschungel der Zivilisation bahnten.
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