KAPITEL EINS

2349 Words
KAPITEL EINS Montag Spätnachmittag Detective Keri Locke wollte der Versuchung widerstehen. Als jüngste Ermittlerin bei der Einheit für vermisste Personen der Dienststelle Los Angeles Pacific erwartete musste sie härter arbeiten als alle anderen. Seit vier Jahren war sie dabei und sie hatte das Gefühl, dass sie sich als vierunddreißig Jahre junge Frau vor den anderen Beamten der LAPD beweisen musste. Sie konnte sich also nicht leisten tatenlos am Fenster herumzustehen. Das Revier vibrierte förmlich vor Geschäftigkeit. Eine aufgebrachte, etwas ältere lateinamerikanische Frau saß an einem benachbarten Schreibtisch und zeigte einen Taschendiebstahl an. Ein paar Zimmer weiter wurde gerade ein Autodieb abgeführt. Es war ein ganz normaler Nachmittag auf dem für Keri inzwischen alltäglich gewordenen Arbeitsplatz. Dennoch empfand sie wieder diesen Drang, den sie einfach nicht ignorieren konnte. Schließlich gab sie nach. Sie stand auf und ging zu dem Fenster, das direkt auf den Culver Boulevard blickte. Sie sah ihre Reflexion auf der Glasscheibe. Die grellen Strahlen der Nachmittagssonne ließen sie halb menschlich, halb übernatürlich aussehen. Genauso fühlte sie sich auch. Sie wusste, dass sie objektiv betrachtet eine attraktive Frau war. Sie war groß und schlank und sie hatte dunkelblondes Haar. Ihre Figur hatte unter der Schwangerschaft kaum gelitten. Die Männer drehten sich immer noch nach ihr um. Aber wenn man genau hinsah, konnte man sehen, dass ihre braunen Augen rot unterlaufen waren, dass sich auf ihrer Stirn die ersten Sorgenfalten abzeichneten und dass ihre Haut den blassen Farbton eines Gespensts angenommen hatte. Wie jeden Tag trug sie eine schlichte Bluse, eine schwarze Hose und flache schwarze Schuhe, in denen sie auch rennen konnte. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Das war ihre inoffizielle Uniform. Das einzige, was sich hin und wieder änderte, war die Farbe ihrer Bluse. Ihr Leben verstrich ohne richtig gelebt zu werden. Keri nahm eine Bewegung auf der Straße wahr. Jetzt kamen sie. Draußen auf dem Culver Boulevard war kaum jemand zu sehen. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Gehsteig, der um diese Zeit meistens voller Menschen war. Heute war es aber mit 38 Grad unerbittlich heiß draußen. Nicht das geringste Lüftchen regte sich, obwohl sie keine fünf Meilen vom Meer entfernt waren. Die meisten Familien, die ihre Kinder normalerweise zu Fuß abholten, saßen heute in ihren klimatisierten Fahrzeugen. Nur eine Familie nicht. Um genau 4 Uhr und 12 Minuten fuhr ein junges Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, langsam auf ihrem Fahrrad diesen Weg entlang. Sie trug ein elegantes weißes Kleid. Ihre junge Mutter kam mit ein wenig Abstand in Jeans und T-Shirt hinterher. Den Rucksack des Mädchens trug sie auf der linken Schulter. Keri wurde mulmig zumute. Sie wollte dagegen ankämpfen. Verstohlen sah sie sich um. Ob jemand sie beobachtete? Doch niemand beachtete Keri. Sie sah dem Mädchen und ihrer Mutter eifersüchtig und sehnsüchtig zu. Auch wenn sie sie Mädchen schon so oft gesehen hatte, konnte Keri immer noch nicht fassen, wie sehr das Mädchen ihrer kleinen Evie ähnelte: die blonden Locken, die grünen Augen, das leicht schiefe Grinsen. Wie in Trance starrte Keri aus dem Fenster, auch als das Mädchen schon längst außer Sichtweite war. Als Keri sich schließlich wieder ihrem Büro zuwandte, verließ die lateinamerikanische Frau gerade das Revier. Auch der Autodieb war nicht mehr da. Neue Übeltäter waren erschienen, in Handschellen und unter strenger Aufsicht. Sie warteten geduldig auf ihr weiteres Schicksal. Keri warf einen Blick auf die Digitalanzeige der Kaffeemaschine. 4 Uhr 22. Stand ich wirklich zehn Minuten lang an diesem Fenster? Es wird immer länger. Mit gesenktem Kopf ging sie wieder an ihren Schreibtisch, um den neugierigen Blicken ihrer Kollegen zu entgehen. Sie setzte sich und konzentrierte sich auf die Akten, die auf ihrem Tisch lagen. Der Fall Martine war soweit abgeschlossen und wartete nur noch auf die Unterschrift des Staatsanwalts, bevor die Akte endgültig geschlossen werden konnte. Der Fall Sanders lag hingegen auf Eis, bis die Spurensicherung den vorläufigen Bericht vorlegte. Eine andere Abteilung hatte Pacific gebeten, den Fall einer vermissten Prostituierten namens Roxie unter die Lupe zu nehmen. Eine ihrer Kolleginnen hatte angedeutet, dass sie jetzt im Westen der Stadt arbeitete, und wenn Pacific das bestätigte, musste keine Vermisstenakte eröffnet werden. Oft war das Schwierige an ihrem Job, dass es kein Verbrechen war, wenn erwachsene Menschen „verschwanden“. Wenn es sich um Minderjährige handelte, hatte die Polizei eine größere Handlungsfreiheit, je nachdem wie alt die verschwundene Person war. Im Großen und Ganzen konnte man jedoch nicht viel tun, wenn jemand beschloss, spurlos zu verschwinden. Das geschah öfter, als man dachte. Wenn es keinen Hinweis auf ein Verbrechen gab, waren den Ermittlern die Hände gebunden. Deswegen wurde wie in Roxies Fall oft überhaupt nichts unternommen. Keri seufzte resigniert und stellte fest, dass es heute keinen Grund gab, länger als bis 5 Uhr zu bleiben, wenn bis dahin nicht noch etwas Wichtiges passierte. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie sich in weniger als einer Stunde in ihrem Hausboot Sea Cups zurücklehnen und drei – oder vielleicht besser vier – große Schlucke Glenlivet genehmigen würde. Sie würde ein paar Reste vom Chinesen verputzen, die sie noch im Kühlschrank hatte, und ein paar Wiederholungen von Reich und Schön im Fernsehen ansehen. Falls diese ganz individuelle Therapiestunde nicht ausreichen sollte, konnte sie sich immer noch auf Dr. Blancs Couch legen, auch wenn ihr diese Lösung wenig verlockend erschien. Sie hatte bereits begonnen, die Akten aufzuräumen, als Ray an ihren gemeinsamen Schreibtisch kam und sich auf seinen Stuhl fallen ließ. Ray hieß eigentlich Detective Raymond „Big“ Sands und war nun seit knapp einem Jahr ihr Partner, aber seit bereits sieben Jahren ihr Freund. Keri nannte ihn jedoch nie Big. Sein Ego war bereits groß genug. Sie nannte ihn ausschließlich Ray. Er war knapp zwei Meter groß, Afroamerikaner, hatte eine Glatze und brachte stolze Hundertzwanzig Kilo auf die Waage. Einem seiner Schneidezähne fehlte eine kleine Ecke, was sein Gesicht mit dem kurzen Ziegenbärtchen ebenso einschüchternd wirken ließ, wie die immer etwas zu engen Hemden, die seine kräftige Statur unterstrichen. Er war vierzig Jahre alt, sah aber noch fast genauso aus, wie vor zwanzig Jahren, als er eine olympische Medaille in der Schwergewichtsklasse im Boxen gewonnen hatte. Er hatte seinen Titel acht Jahre lang verteidigt, bis ihm eines Tages ein zwei Köpfe kleinerer Gegner mit einem hinterhältigen Schlag ins Gesicht das rechte Auge kaputt geschlagen hatte. Das war das Ende seiner Karriere. Das Auge war nicht mehr zu retten, und nachdem er zwei Jahre lang eine Augenklappe getragen hatte, wurde ihm letzten Endes ein Glasauge eingesetzt. Seitdem sieht man ihm von dem Unglück nicht mehr viel an. Genau wie Keri hatte Ray sich also relativ spät für die Polizeiarbeit entschieden, weil er nach einer neuen Lebensaufgabe gesucht hatte. Er war schnell aufgestiegen und arbeitete jetzt als Senior Detective bei der Einheit für vermisste Personen. „Du siehst aus als würdest du von Wellen und Whiskey träumen“, sagte er. „Ist es so offensichtlich?“, fragte sie. „Ich bin eben ein Top-Ermittler. Meine Beobachtungsgabe kennt keine Grenzen. Ganz davon abgesehen hast du deine Feierabendpläne heute schon mindestens zweimal angemerkt.“ „Was soll ich sagen? Ich bin eben besonders zielstrebig, Detective Sands.“ Er lächelte sie an und sein gesundes Auge strahlte eine Herzlichkeit aus, die man ihm auf den ersten Blick vielleicht nicht zutrauen würde. Keri war die einzige, die ihn bei seinem echten Namen nannte, auch wenn sie sich gerne Spitznamen füreinander ausdachten, wenn sie alleine waren. „Hör mal, Little Miss Sunshine, vielleicht solltest du in den letzten Minuten vor Feierabend besser die Spurensicherung kontaktieren und den Fall Sanders endlich abschließen, anstatt von deinem Fläschchen zu träumen.“ „Mein Fläschchen?“, sagte sie überspitzt entrüstet, „nur damit wir uns richtig verstehen, aus dem Alter bin ich raus. Mir kommen nur noch ausgewachsene Flaschen ins Haus, Gigantor.“ Gerade wollte er zu einer Antwort ansetzen, als das Telefon klingelte. Keri nahm den Hörer ab und streckte ihm die Zunge heraus. „Einheit für vermisste Personen, Dienststelle Pacific. Sie sprechen mit Detective Locke.“ Ray hatte seinen Apparat ebenfalls abgehoben und hörte still zu. Die Frau am anderen Ende der Leitung klang jung, vielleicht Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Noch bevor sie den Grund ihres Anrufs erklärt hatte, hatte Keri bereits die Sorge in ihrer Stimme bemerkt. „Mein Name ist Mia Penn. Ich wohne in den Venice Canals bei Dell Avenue. Ich mache mir Sorgen um meine Tochter Ashley. Sie hätte längst nach Hause kommen müssen. Sie weiß, dass wir heute einen Zahnarzttermin haben. Sie hat mir eine SMS geschickt, als sie sich auf den Heimweg gemacht hat, aber sie ist nicht zu Hause angekommen. Jetzt beantwortet sie weder Anrufe noch Nachrichten. Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich. Sie ist normalerweise sehr verantwortungsbewusst.“ „Miss Penn, läuft oder fährt Ashley den Weg normalerweise?“, fragte Jeri. „Sie ist zu Fuß unterwegs. Sie ist erst fünfzehn Jahre alt – zehnte Klasse. Es dauert noch, bis sie ihren Führerschein bekommt.“ Keri warf Ray einen Blick zu. Sie wusste genau, was er dachte und diesmal musste sie ihm wahrscheinlich Recht geben. Doch etwas in Mia Penns Stimme ließ sie aufhorchen. Sie spürte, dass diese Frau am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand. Dann schaltete Ray sich ein. „Miss Penn, hier spricht Detective Ray Sands. Bitte atmen Sie einmal tief durch. Nun, können Sie mir sagen, ob Ihre Tochter sich schon einmal verspätet hat?“ Mia Penn legte sofort los, ohne tief durchzuatmen. „Natürlich hat sie sich schon einmal verspätet“, gab sie zu und versuchte sich die Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. „Wie ich schon sagte, sie ist fünfzehn, aber sie sagt normalerweise immer Bescheid, wenn sie aufgehalten wird. Besonders, wenn wir etwas vorhaben.“ Ray ignorierte Keris missbilligenden Blick und sprach weiter. „Miss Penn, da ihre Tochter minderjährig ist, gelten andere Gesetze. Wir haben die Befugnis, weitere Ermittlungen durchzuführen. Aber um ganz ehrlich zu sein: ein Teenager, der sich nach der Schule zwei Stunden verspätet und nicht auf die Nachrichten seiner Mutter antwortet, wird nicht die Art von Ermittlungen auslösen, auf die Sie jetzt hoffen. Wir können nicht allzu viel für Sie tun. Am besten wäre es, wenn Sie zu uns aufs Revier kommen und eine Vermisstenanzeige aufgeben. Das kann auf jeden Fall nicht schaden. Im Gegenteil, wenn es nötig wird, können wir dann schneller handeln.“ Es dauerte ein wenig, bis Mia Penn antwortete. Ihre Stimme hatte jetzt einen anderen Tonfall. „Wie lange muss ich denn warten, bis Sie schnell handeln, Detective?“, zischte sie. „Reichen noch zwei weitere Stunden oder muss ich warten, bis es dunkel ist? Oder muss ich vielleicht sogar bis morgen früh abwarten? Ich wette, ich müsste nur…“ Was auch immer Mia Penn jetzt sagen wollte, verkniff sie sich. Ray wollte antworten, aber Keri hielt ihre Hand hoch und warf ihm den Überlass‘-Das-Mir Blick zu. „Miss Penn? Hier ist wieder Detective Locke. Sie sagten, Sie wohnen in den Venice Canals, richtig? Auf dem Heimweg komme ich ohnehin dort vorbei. Wenn Sie mir Ihre E-Mail Adresse geben, schicke ich Ihnen jetzt das entsprechende Formular. Sie können es direkt ausfüllen und ich hole es später bei Ihnen ab. Dann kann es sofort ins System eingegeben werden. Was halten Sie davon?“ „Das wäre großartig, Detective Locke. Vielen Dank.“ „Kein Problem. Vielleicht ist Ashley bis dahin wieder aufgetaucht, dann bekommt sie von mir einen gratis Vortrag darüber, wie wichtig es ist, mit seinen Eltern in Kontakt zu bleiben.“ Nachdem das Gespräch beendet war, bereitete Keri alles vor, um sich zuerst zu Familie Penn und dann in den Feierabend zu begeben. Ray hatte kein Wort mehr gesagt. Sie wusste, dass er verärgert war, aber sie versuchte es zu ignorieren. Wenn sich ihre Blicke jetzt trafen, würde er ihr einen Vortrag halten, ob sie wollte oder nicht. Doch Ray sagte seine Meinung auch ohne Blickkontakt. „Die Canals liegen nicht auf deinem Heimweg.“ „Es ist aber kein großer Umweg“, entgegnete sie. „Dann komme ich eben erst um halb sieben zum Yachthafen. Nicht der Rede wert.“ „Es ist eben doch der Rede wert, Keri. Du bist jetzt seit einem Jahr Detective. Ich bin froh, dass du mein Partner bist und du hast wirklich gute Arbeit geleistet, auch bevor du die Marke bekommen hast. Zum Beispiel im Fall Gonzales. Ohne dich hätte ich diesen Fall nicht gelöst und ich bin schon um einiges länger dabei. Du hast einen sechsten Sinn, was di Ermittlungen angeht. Deswegen bist du immer wichtig für uns gewesen und deswegen könntest du ein wirklich außergewöhnlicher guter Detective werden.“ „Danke“, sagt sie, auch wenn sie wusste, dass gleich ein aber kam. „Aber du hast einen ganz offensichtlichen Schwachpunkt und der wird dich noch ruinieren, wenn du ihn nicht in den Griff bekommst. Du musst das System für dich arbeiten lassen. Es hat sich bewährt. Fünfundsiebzig Prozent unserer Fälle werden sich innerhalb von zwei Tagen selbst aufklären, ohne wir du etwas dafür tun müssen. Wir müssen uns manchmal damit abfinden, gewisse Dinge abzuwarten, während wir uns auf die anderen fünfundzwanzig Prozent konzentrieren. Ansonsten machen wir uns nur selbst fertig. Wir werden immer unproduktiver, noch schlimmer – kontraproduktiv. Damit würden wir die Menschen im Stich lassen, die uns wirklich brauchen. Es gehört zu unserem Beruf, Prioritäten zu setzen.“ „Ray, ich habe doch keinen Suchtrupp organisiert. Ich möchte nur einer besorgten Mutter helfen, die nötigen Papiere einzureichen. Und es ist wirklich kein großer Umweg für mich.“ „Und…“, sagte er erwartungsvoll. „Und etwas in ihrer Stimme hat mir gesagt, dass da noch etwas ist. Ich möchte einfach kurz persönlich mit ihr reden. Wahrscheinlich ist es nichts, dann werde ich mich direkt auf den Heimweg machen.“ Ray schüttelte den Kopf und setzte noch einmal an. „Wie viele Stunden hast du verschwendet wegen diesem obdachlosen Jungen in Palms? Fünfzehn? Du warst sicher, dass er verschwunden war, aber am Ende war gar nichts.“ Keri zog die Schultern hoch. „Vorsicht ist besser als Nachsicht“, murmelte sie. „Einen Job haben ist besser als seinen Job verlieren, weil man gegen das Interesse der Abteilung handelt“, konterte er. „Es ist nach fünf Uhr“, bemerkte sie. „Und?“ „Das heißt, dass ich jetzt Feierabend habe. Würdest du mich bitte entschuldigen? Ich werde erwartet.“ „Mir scheint es, als hättest du nie Feierabend. Ruf Sie zurück, sag ihr, dass sie die Formulare per E-Mail schicken soll, sobald sie sie ausgefüllt hat. Sag ihr, dass sie anrufen soll, wenn sie irgendwelche Fragen hat. Und dann – geh nach Hause!“ Sie hatte so viel Geduld aufgebracht, wie sie konnte, aber für Keri war das Gespräch jetzt beendet. „Wir sehen uns morgen, Mr. Clean“, sagt sie und drückte seinen Arm. Als sie den Parkplatz überquerte und in ihren silbernen Toyota Prius stieg, suchte sie in Gedanken den schnellsten Weg zu den Venice Canal. Sie spürte eine Unruhe in sich, die sie nicht ganz verstehen konnte. Sie wusste aber, dass das kein gutes Zeichen war.
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