Die Kälte des Herbstes ließ die Luft schwer werden und dichte Nebelschwaden über den Boden tanzen. Langsam schlich sie sich mit eisigen Fingern unter die Hose und krallte sich Stück für Stück höher in das nackte Fleisch. Hinterließ ein Frösteln und das Gefühl, lieber woanders zu sein.
Instinktiv kuschelte er sich tiefer in seine Jacke und zog den Kopf ein, um der Kälte ein bisschen besser zu entgehen. Sein Blick glitt über die leere Straße, die man unter dem dichten Nebel kaum erkannte. Die Uhr an seinem Handgelenk sagte ihm, dass die Zeit bald vorbei war. Er hatte umsonst gewartet. Wieder nichts.
Dabei wirkte heute alles perfekt dafür. Es hätte glücken müssen, und dennoch waberte der Nebel nur stumm hin und her. Ließ sich von der sanften Brise vorantreiben, die so leicht war, dass man sie gar nicht spürte, aber gleichwohl war sie da. Entführte jeden vor ihm und niemand konnte es verhindern. Auch nicht er.
Er seufzte und grub seine Hände tiefer in die Taschen seines schwarzen Anoraks. Schwarz, wie alles an ihm. Die Hose, der Pulli, die Mütze, der Schal, die Handschuhe, die Schuhe, die Socken und selbst seine Unterhose. Er hatte sich sogar seine Haare gefärbt, damit auch sie die Farbe der Dunkelheit trugen und sein Unterfangen nicht zum Scheitern verurteilten, doch es war scheinbar sinnlos.
Nun stand er hier schon die dritte Nacht in Folge. Jede perfekter als die davor, aber die Zeit verstrich und es blieb ruhig. Nichts von dem, was man ihm sagte, passierte. Der Nebel trieb vor sich hin und sein Atem stieg weiter als weiße Wölkchen aus seiner Nase in die Höhe.
Du bist so ein Idiot. Wie kommst du nur darauf, dass es funktionieren könnte? Die haben dich doch alle verarscht. Von wegen, sie sind vom Nebel verschluckt worden. Abgehauen sind sie. Wie die letzten Feiglinge und lachen sich irgendwo einen Ast ab, dass ich so dumm bin und auf ihre albernen Märchen hereinfalle. Ich sollte nach Hause gehen und mich bei einer heißen Tasse Tee aufwärmen. Es war zu schön, um wahr zu sein.
Ein Schauer ließ ihn frösteln und er zog seinen Schal enger um seinen Hals, doch die Wärme schien weiter erbarmungslos aus seinem Körper gezogen zu werden. Sodass seine Fingerspitzen begannen, sich langsam taub anzufühlen. Die Temperatur um ihn herum sank immer tiefer und seine Nase fing zu laufen an, um sich gegen die Auskühlung zu wehren.
Bald war das Zeitfenster geschlossen, doch mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde die Umgebung kühler. Egal, wie eng er sich in die Jacke kuschelte, die Wärme, die ihn noch vor kurzem so wohlig in ihr empfangen hatte, verschwand immer mehr. Die einst so sanfte Brise wurde zu einem zerrenden Wind, der den ruhigen Tanz des Nebels in ein wildes Gezappel verwandelte.
Ein Schauer glitt über seinen Rücken, als ihn langsam die Erkenntnis ergriff, dass hier etwas nicht so lief, wie es normal war. Nur wenige Schritte von ihm entfernt war etwas in dem Nebel. Er konnte die Gefahr greifen, als sie mit kleinen Spinnenbeinen seine Wirbelsäule empor eilte.
Lauf! Nimm die Beine in die Hand und lauf weg! Lauf so schnell du kannst! Renn! Los! Jetzt sofort! Egal, was jetzt kommt, es wird dich verschlingen! Warum stehst du hier noch herum?! Lauf endlich weg! Renn! Renn um dein Leben!
Seine Beine bewegten sich nicht, stattdessen starrte er in den immer dichter werdenden Nebel, der sich Stück für Stück vor ihm aufbaute. Die weiße Suppe begann sich zu trüben und dunkler zu werden. Der Wind jaulte auf und trug ein Heulen zu ihm, das wie ein Wolf klang. Oder war es sogar ein Bär? Er wollte wegrennen, aber seine Beine bewegten sich nicht. Sie fühlten sich von der Kälte taub an und reagierten nicht auf seine Befehle.
In ihnen war dieses frostige Gefühl, das in seinen Zehen begonnen hatte und nun langsam seine Beine empor wanderte. Es raubte ihm sämtliche Wärme und die Kontrolle über seinen Körper. Glitt zu seinen Unterschenkeln und seinen Knien, als aus dem Heulen schon ein Knurren wurde.
Der flatterhafte Schemen gewann immer mehr Struktur in den unruhigen Nebelschwaden. Das Kratzen der Krallen auf den Beton zerschnitt die eisige Stille und ließ den jungen Mann zusammen zucken. Es war so weit! Ein schweres Schnaufen trieb den Nebel zurück auf den Boden. Hektisch begannen die Straßenlaternen zu flackern. Das eisige Gefühl wanderte über den Oberschenkel zu seiner Hüfte empor.
Langsam wurde der Schemen vom Nebel freigegeben, doch die Schwärze der Nacht verschluckte sämtliche Konturen des Wesens vor ihm. Vor seinem Gesicht war nicht einmal der heiße Atem, der als Wölkchen emporstieg, sondern nur das Geräusch der schweren Klauen auf dem harten Boden und die Kälte, die sich immer höher arbeitete.
Lauf endlich weg!
Meine Beine gehorchen mir nicht mehr!
Dann mach, dass sie dir gehorsam sind. Befrei dich und renn weg, sonst wirst du wie alle anderen enden.
Ja, aber ...
All die Angst wich aus seinem Geist, als ihm mit einem Lächeln auf den Lippen wieder der Grund seines Daseins bewusst wurde. Er war hier, weil er vom Nebel verschlungen werden wollte. Zumal er nicht mehr zurück und nur verschwinden wollte. Nicht länger zurücksehen und die Chance haben, dass es dann besser wurde.
Die unförmige Gestalt verlor sämtliche Gefahr für ihn, als sie langsam auf ihn zutrat. Im Schein der Straßenlaterne blitzte ein gewaltiger Kiefer auf, der alles und jeden töten konnte und bereit war, zu verschlingen. Geifer lief das Maul herunter, und ihre dunklen Augen fixierten ihn. Er war willig. Gewillt zu verschwinden.
Sie kam näher. Er hätte Wärme spüren müssen, doch um ihn herum war nur die Kälte, die sich immer weiter emporarbeitete und langsam seine Brust einschnürte. Glück erfasste ihn, als er auf die Kreatur vor sich sah. Sie würde ihm all seine Schmerzen nehmen und ihn endlich von diesem leidvollen Leben befreien, doch kaum dass sie nur noch einen Schritt von ihm entfernt war, blieb sie stehen.
Ihr schwerer Atem durchzog die Stille und der Nebel umspielte weiter ihre Beine, kletterte an ihnen empor, um über die Schulter und den Rücken zu gleiten. Raubte ihr so jegliche Kontur und hielt die Wärme fest, denn wenn er seine Augen schloss, dann spürte er keine andere Präsenz vor sich. Er schien alleine zu sein. Nur ihr Atem und das Kratzen der Krallen zeugten von ihrer Existenz.
»Nimm mich mit. Bitte, nimm mich mit«, flüsterte er ihr sehnsüchtig zu, doch sie rührte sich nicht. Die Kälte kroch immer höher und langsam an seinen Armen entlang. Kaum erreichte sie seinen Hals, verschwand sein Atem vor seinen Augen und er hörte auf zu frieren. Seine Finger ließen sich nicht mehr bewegen und die Träne, die über seine Wange glitt, gefror auf halben Weg.
Auf einmal konnte er nicht weiteratmen. Die Kälte hatte seine Lunge gelähmt, doch die Panik blieb aus. Stattdessen befiel ihn eine unendliche Müdigkeit, die ihn langsam seine Augen schließen ließ.
Bitte ... Bitte, nimm mich mit. Befreie mich aus diesem Leben ... Aus dieser Dunkelheit.
Um ihn herum war endlose Schwärze, doch er hörte den Atem der Bestie und das Wetzen ihrer Krallen. Sie war noch hier, aber er auch. Sein Herz schlug immer langsamer, während die Kälte bis zu seinen Ohren glitt und so die Geräusche des Monsters verschlang. Er fühlte sich alleine. Sie durfte nicht ohne ihn gehen. Er hatte so verzweifelt auf sie gewartet. Sie musste ihn mitnehmen.
Er wollte seine Augen panisch aufreißen, doch die Kälte war auch bei ihnen angelangt. Sorgte dafür, dass sich die Lider nicht mehr bewegen ließen und er hatte nur noch seine Gedanken, die ungezügelt in ihm aufschrien.
Nimm mich mit! Bitte! Nimm mich mit! Ich kann dorthin nicht mehr zurück! Es kann so nicht weitergehen! Du musst mich retten! Rette mich endlich! Ich habe so lange auf dich gewartet! Du kannst mich jetzt nicht hängen lassen! Bitte! So befreie mich doch endlich aus dieser Qual!
Ich rette nicht. Ich verschlinge!
Ruhig glitt der Nebel über die verlassene Straße, die von einer einsamen Straßenlaterne erhellt wurde, deren Licht immer wieder klickend zu flackern begann. Die winterliche Kälte war verschwunden und der Herbstkühle gewichen. Auf dem Beton war nur eine kleine Pfütze aus geschmolzenem Eis, die eine Maus aus ihrem Versteck lockte, um sofort gierig aus ihr zu trinken. Ihre Ohren zuckten unruhig und der Kopf schnellte immer wieder nach oben. Sie schnupperte, doch hier war nichts mehr. Nichts, außer dem schweren Kratzen der Krallen über den Betonboden ...
Ende