Klaus
Mein Handy vibrierte auf dem Mahagoni-Schreibtisch. Die Nummer war unbekannt. Ich hätte es beinahe ignoriert; wahrscheinlich wieder ein Dienstleister mit letzten Fragen zur Zeremonie am Samstag. Doch irgendetwas veranlasste mich, die Nachricht zu öffnen.
Das Erste, was ich sah, war Leas Gesicht.
Meine Tochter.
Sie war in einem verlassenen Lagerhaus an einen Metallstuhl gefesselt, den Kopf nach vorn geneigt, dunkles Haar verdeckte ihre blaue Schläfe. Selbst durch das unscharfe Foto konnte ich die Kabelbinder erkennen, die in ihre Handgelenke einschnitten.
Einen Moment lang starrte ich das Bild an und wartete darauf, es zu begreifen.
Die zweite Nachricht kam, bevor ich die erste verarbeiten konnte.
5 Millionen Euro. 48 Stunden. Wir schicken Anweisungen. Wenn du es jemandem erzählst, stirbt sie.
„Scheiße“, hauchte ich.
Die Hochzeit war in drei Tagen, das durfte nicht wahr sein.
Ich sah mir das Foto noch einmal an, das verletzte Gesicht meiner Tochter.
„Herr Hoffmann?“ Margit erschien in der Tür, ihr wettergegerbtes Gesicht von Sorge gezeichnet. „Das Essen ist fertig. Soll ich –“ Sie verstummte, als sie meinen Gesichtsausdruck sah.
„Holt Petra“, sagte ich mit hohler Stimme. „Und die Kinder. Familienbesprechung. Sofort.“ Innerhalb von fünfzehn Minuten versammelten sie sich im Esszimmer. Petra kam als Erste, wie immer perfekt in ihrem dunkelblauen Kleid und mit Perlenkette, obwohl ich einen kurzen Anflug von Verärgerung in ihren Augen bemerkte, weil sie unterbrochen worden war.
„Klaus, was ist denn so dringend, dass –“ Ich legte mein Handy auf den Tisch, das Foto noch auf dem Bildschirm. Ihr Gesicht wurde kreidebleich, aber nur für einen Moment, bevor ihre Fassung zurückkehrte, glatt wie Glas.
„Wann ist das angekommen?“
„Vor zehn Minuten.“ Thomas kam als Nächster herein, immer noch in seinem Anzug von irgendeinem Meeting, zu dem er heute angeblich gegangen war. Sabine folgte. Dann Anna, in Leas Strickjacke. Ich erkannte sie sofort, die Kaschmirstrickjacke, die ihre Mutter ihr vor ihrem Tod geschenkt hatte.
Irgendwie schnürte es mir die Kehle zu, Anna in diesem Pullover zu sehen. Lea hütete diese Strickjacke wie einen Schatz. Sie lieh sie nie jemandem.
„Papa?“, fragte Anna mit leiser Stimme und großen Augen. „Ist etwas nicht in Ordnung? Du siehst blass aus.“
Ich drehte das Telefon so, dass alle es sehen konnten. Anna keuchte auf und schlug sich die Hand vor den Mund. „Oh mein Gott. Ist das …“
„Lea“, sagte ich emotionslos. „Sie wurde heute Nachmittag entführt.“ Stille breitete sich im Raum aus. Thomas fasste sich als Erster. „Jesus Christus. Wann? Wie?“
„Ich kenne die Details nicht. Sie sollte in einem Fernsehstudio sein. Ein Vorsprechen.“ Ich konnte die Bitterkeit in meiner Stimme nicht verbergen, selbst jetzt nicht. Selbst mit diesem Foto, das sich mir ins Gedächtnis eingebrannt hatte. „Sie kam nie nach Hause.“
„Wie viel fordern sie?“, fragte Thomas.
„Fünf Millionen …“
„Fünf Millionen Euro“, sagte Petra langsam, während ihre Gedanken bereits ratterten. Ich sah die Berechnungen in ihren Augen. „Das ist keine einfache Abhebung, Klaus. Wir müssten Vermögenswerte liquidieren. Aktien verkaufen. Es würde Tage dauern, so viel Geld aufzutreiben, ohne Aufsehen zu erregen.“
„Das ist mir bewusst.“
„Und die Hochzeit“, fuhr sie mit bedächtiger Stimme fort. „Sie ist in drei Tagen.“ Stille breitete sich im Raum aus.
„Wir verschieben sie“, sagte Thomas. „Natürlich. Wir sagen den Schmidts, es gäbe einen familiären Notfall –“
„Und was sollen wir sagen?“, wandte sich Petra an ihn. „Dass die Braut entführt wurde? Dass unsere Tochter von der Straße weggezerrt wurde? Wie lange dauert es, bis das die Presse erreicht? Bis Bild und Gala es auf jeder Titelseite in Deutschland veröffentlichen?“
„Wen interessiert die Presse?“, sagte ich. „Meine Tochter –“
„Die Familie Schmidt interessiert es“, unterbrach mich Petra. „Ihr Handelsimperium erstreckt sich über drei Länder. Sie sind dieser Allianz nicht zugestimmt, um in einen Skandal hineingezogen zu werden. Wenn wir die Hochzeit absagen, wenn das öffentlich wird, werden sie uns im Stich lassen. Und was machen wir dann?“
„Petra“, sagte ich langsam, „Lea sitzt gefesselt in einem Lagerhaus fest.“
„Das weiß ich.“ Ihre Stimme wurde sanfter, und sie kam näher, ihre Hand ruhte auf meinem Arm. „Klaus, ich sage nicht, dass wir sie im Stich lassen. Ich sage nur, dass wir klar denken. Wir wollen nicht schwach wirken.“
„Mir ist es völlig egal, ob ich schwach wirke.“
„Doch, das sollte es.“ Sie hielt meinem Blick stand. „Bei dieser Allianz geht es nicht um eine Hochzeit. Ohne Schmidts Vertriebsnetz verlieren wir Regalfläche an größere Marken. Wir verlieren Marktanteile. In fünf Jahren wird Hoffmann Pharmaceuticals bedeutungslos sein.“
Ich zog meinen Arm zurück. „Also opfern wir Lea? Lassen wir sie einfach da sitzen, während wir für die Kameras lächeln?“
„Beides“, sagte Petra. „Wir zahlen das Lösegeld stillschweigend und heiraten. Wir erzählen den Leuten, Lea hätte einen kleinen Unfall gehabt … nichts Ernstes, sie braucht nur Ruhe. Wenn sie zurückkommt, wird sie verstehen, warum wir diese Entscheidungen getroffen haben.“
„Wird sie das?“, platzte es aus mir heraus, bevor ich sie aufhalten konnte. „Wird sie verstehen, dass ihre Familie die Hochzeit durchgezogen hat, während sie als Geisel gehalten wurde?“
Verärgerung huschte über Petras Gesicht.
„Lea war in solchen Angelegenheiten immer pragmatisch“, sagte sie. „Sie weiß, was auf dem Spiel steht.“
Ich dachte an meine Tochter.
„Was meinst du, was wir tun sollen?“, fragte Thomas.
Petra sah Anna an, und etwas wechselte zwischen ihnen, ein so flüchtiger Blick, dass ich ihn beinahe verpasst hätte.