Episode five

1022 Words
Lea Die Kathedralentüren schwangen auf, und zweihundert Köpfe drehten sich zu mir um. Ich stand im Eingang, schwankend auf blutenden Füßen, meine zerrissenen Kleider steif vom getrockneten Blut. Ein Streichquartett war mitten im Ton stehen geblieben, und dem Priester stand der Mund offen. Und am Altar erstarrte Anna, Alexanders Ring halb am Finger. Einen Moment lang rührte sich niemand. Langsam zückten die Leute ihre Handys und begannen zu filmen. Ich ging vorwärts. Meine Schritte hinterließen blutige Flecken auf dem weißen Teppich. Ich spürte Hunderte von Augen, die meinen Bewegungen folgten, und hörte das leise Klicken der Kameras. Anna fasste sich als Erste. Sie ließ Alexanders Hand los und presste die Finger an die Lippen, Tränen stiegen ihr in die Augen. „Lea? Oh mein Gott, Lea!“ Ich ging weiter. Auch Papa bewegte sich, drängte sich durch die Menge zum Mittelgang. Sein Gesicht war von Wut gezeichnet. Hinter ihm entdeckte ich zwei seiner Leibwächter, Hans und Werner, Männer, die schon seit meiner Kindheit für unsere Familie arbeiteten. „Lea.“ Papa erreichte mich als Erster, seine Hand umschloss meinen Oberarm wie ein Schraubstock. Für die Gäste sah es wohl aus, als würde ein Vater seine verlorene Tochter umarmen. Doch sein Griff war zu fest, seine Stimme zu leise. „Was machst du hier?“ „Was mache ich hier?“ Ich versuchte, mich loszureißen, aber seine Finger gruben sich fester in meinen Arm. „Das ist meine Hochzeit.“ „Sei leise.“ Seine Augen waren stahlhart. „Du musst das große Ganze sehen.“ „Das große Ganze?“ Ich lachte, und die Stimme klang brüchig. „Du hast mich in einem Lagerhaus sterben lassen. Du hast das Lösegeld nicht bezahlt. Und jetzt steht Anna in meinem Kleid am Altar –“ „Deine Schwester rettet diese Familie.“ Er zischte mich an. „Das Bündnis musste zustande kommen. Das hättest du verstanden, wenn du klar gedacht hättest, anstatt zu so einer billigen Fernsehshow vorzusprechen.“ Hans und Werner hatten uns erreicht und stellten sich an meine Seite. Ihre Hände ruhten fest auf meinen Schultern, sodass ich mich nicht rühren konnte. „Papa.“ Meine Stimme versagte. „Bitte.“ Etwas flackerte in seinen Augen. Einen Augenblick lang glaubte ich, den Vater zu sehen, an den ich mich aus meiner Kindheit erinnerte. Dann war es verschwunden. „Bringt sie in den Nebenraum“, sagte er leise. „Lasst sie dort, bis die Zeremonie vorbei ist.“ „Nein –“ Ich wehrte mich gegen die Wachen, aber sie waren doppelt so groß wie ich. „Nein, das könnt ihr nicht tun! Lasst mich los!“ Die Gäste starrten uns jetzt offen an. Jemand in der dritten Reihe streamte ganz sicher live. Ich sah mein eigenes Gesicht im Bildschirm ihres Handys gespiegelt, mit aufgerissenen Augen, verzweifelt, wie ich von zwei Männern in Anzügen weggezerrt wurde. Hoffmann-Erbin erleidet Zusammenbruch auf der Hochzeit ihrer Schwester. Die Schlagzeilen schrieben sich von selbst. „Wartet.“ Petras Stimme durchbrach das Chaos, ruhig und beherrscht. Sie glitt auf uns zu. „Klaus, Liebling, lass mich das regeln.“ Papa zögerte, nickte dann aber. Er ließ meinen Arm los und trat zurück. Petra kam näher und nahm meine Hände in ihre. Ihre Berührung war kühl, ihr Blick mütterlich besorgt. Für jeden, der sie beobachtete, wirkte sie wie eine Stiefmutter, die ihre traumatisierte Tochter tröstete. „Lea, mein Schatz.“ Ihre Stimme war gerade laut genug, dass die Gäste in der Nähe sie hören konnten. „Gott sei Dank bist du in Sicherheit. Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Die Polizei hat überall gesucht –“ „Du hast die Polizei nicht gerufen“, sagte ich entschieden. „Du hast niemanden gerufen.“ Ihr Lächeln verschwand nicht. „Du bist verwirrt, Liebling. Das ist verständlich, nach allem, was du durchgemacht hast.“ Sie drückte meine Hände, ihre Nägel gruben sich in meine Haut. „Aber lass uns keine Szene machen, ja? Wegen der Familie.“ „Der Familie.“ Die Worte schmeckten wie Asche. „Du meinst die Familie, die mich verlassen hat?“ Petras Maske fiel für einen Augenblick. Ich sah ihr wahres Ich darunter. Dann hallte Annas Stimme durch die Kathedrale. „Schwester!“ Ich blickte auf. Anna war über den Altar gegangen und hatte das Mikrofon des Priesters ergriffen. Ihr Gesicht war nass von Tränen, ihre Unterlippe zitterte. Sie sah genauso aus wie die traumatisierte Braut, die sie vorgab zu sein. „Schwester, du bist zurück!“ Ihre Stimme hallte von der gewölbten Decke wider. „Gott sei Dank bist du in Sicherheit!“ Die Menge murmelte mitfühlend. Jemand sagte tatsächlich „Ach, wie süß.“ Anna legte eine Hand aufs Herz. „Ich weiß, du wolltest diese Ehe nicht. Ich weiß, Papa hat dich unter Druck gesetzt. Aber wie konntest du nur –“ Ihre Stimme brach wunderschön. „Wie konntest du uns so erschrecken? Mama und Papa sind am Boden zerstört. Wir dachten alle, du wärst wirklich entführt worden.“ Das Geflüster veränderte sich. Ich spürte die Veränderung im Raum, das Umschwunggefühl. Anna fuhr fort, Tränen rannen ihr über die Wangen. „Die Polizei sagte, es gäbe keine Beweise für eine echte Entführung.“ Traurig schüttelte sie den Kopf. „Ich wollte nicht glauben, dass du so etwas Schreckliches vortäuschen würdest, nur um der Hochzeit zu entkommen. Aber dann kamst du nicht nach Hause, und wir wussten nicht, was wir denken sollten …“ „Das ist eine Lüge.“ Meine Stimme war heiser und kaum hörbar. „Das ist eine Lüge, und das weißt du.“ Aber niemand hörte mir mehr zu. Alle sahen Anna zu, die schöne, weinende und herzzerreißend traurige Anna, die mich als Lügnerin und Feigling darstellte. Alexander trat vor und legte Anna den Arm um die Schultern. Er sah mich zum ersten Mal an, und was ich in seinen Augen sah, ließ mir das Herz in die Hose rutschen. Kalter Ekel. „Lea.“ Seine Stimme war eiskalt. „Ich wusste immer, dass du diese Ehe nicht wolltest. Aber ich hätte nie gedacht, dass du so tief sinken würdest.“ „Alex, ich wollte nicht …“
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