Ein leeres Blatt

1054 Words
Die Schule war schon immer ein Ort, an dem ich mich verloren gefühlt habe, aber heute war es schlimmer als sonst. Vielleicht lag es daran, dass der 6. Januar war. Der Geburtstag meiner Mutter. Ich hatte schon seit Jahren nichts mehr von ihr gehört, aber an ihrem Geburtstag fühle ich diese seltsame Leere besonders stark. Es ist, als würde sie einen Teil von mir festhalten, den ich nie zurückbekommen werde, egal wie sehr ich es versuche. Ich saß allein in der hintersten Reihe unseres Klassenzimmers, das voll von vertrauten, aber fernen Gesichtern war. Mein Block lag vor mir, ein leeres Blatt Papier, das mich herausfordernd anstarrte. Die Lehrerin sprach über irgendetwas – Zahlen, Formeln, Gleichungen – aber ich konnte nicht zuhören. Stattdessen zog ich meinen Bleistift aus der Tasche und begann, auf das Papier zu kritzeln. Erst Linien, dann Formen. Nach und nach entstand eine Figur. Es war ein Mädchen, das ich immer wieder zeichnete. Lange Haare, ein weiches Lächeln, Augen, die gleichzeitig traurig und stark waren. Es war eine Version von mir selbst – oder zumindest die, die ich sein wollte. „Jules! Bist du bei der Sache?“ Die Stimme der Lehrerin riss mich aus meinen Gedanken. Ich hob den Kopf und nickte schnell. „Ja, tut mir leid.“ Die anderen Schüler drehten sich zu mir um, einige mit genervten Gesichtern, andere mit diesem belustigten Grinsen, das sie immer aufsetzten, wenn jemand ermahnt wurde. Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg, und senkte schnell den Blick. Mein Block war jetzt voll von Skizzen – kleine Fluchten aus einer Welt, die sich oft so kalt anfühlte. In der Pause setzte ich mich auf die alte Holzbank im Schulhof, weit weg von den anderen. Sie redeten und lachten, und ich konnte ihre Stimmen hören, aber ich verstand nicht, wie sie das machten – wie sie einfach miteinander sein konnten, ohne sich selbst zu hinterfragen. Ich zog mein Notizbuch heraus und begann zu schreiben. Worte flossen aus meinem Stift, wie sie es immer taten, wenn ich keinen anderen Ausweg sah. Es war keine große Kunst, aber es war mein Zufluchtsort. Ich schrieb über den Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte, über die Kälte, die sich durch meine Jacke schlich, und über das Mädchen, das ich sein wollte. Worte waren das Einzige, was mir half, all das zu sortieren, was in meinem Kopf tobte. Nach der Schule ging ich nicht sofort nach Hause. Ich wusste, dass mein Vater da sein würde, wahrscheinlich müdig von der Arbeit, und ich wollte seinem schweigenden Unverständnis aus dem Weg gehen. Stattdessen ging ich in die kleine Bibliothek, die ein paar Straßen von unserer Schule entfernt lag. Sie war fast leer, wie immer, und das war einer der Gründe, warum ich sie liebte. Ich suchte mir einen Platz in der Ecke und zog erneut mein Notizbuch hervor. Dieses Mal begann ich, an einem Gedicht zu arbeiten. Ich wollte etwas schreiben, das ausdrückte, was ich fühlte – diese Mischung aus Sehnsucht, Trauer und der unerschütterlichen Hoffnung, dass ich eines Tages ich selbst sein könnte. Die Worte kamen langsam, aber sicher. Ich schrieb über das Mädchen in meinem Spiegel, das nicht existierte, aber doch so echt war wie ich. Ich schrieb über die Leere, die meine Mutter hinterlassen hatte, und über die Wut, die ich auf sie hatte, weil sie gegangen war, anstatt zu bleiben und zu kämpfen. Ich schrieb über die Worte, die ich nie sagen konnte, und die, die ich mir so sehr wünschte, eines Tages laut auszusprechen. Als ich nach Hause kam, war das Haus dunkel. Mein Vater war wohl noch auf der Arbeit oder im Baumarkt – seine beiden Zufluchtsorte. Ich setzte mich an meinen kleinen Schreibtisch, der in der Ecke meines Zimmers stand, und blätterte durch mein Notizbuch. Die Gedichte und Geschichten, die ich in den letzten Jahren geschrieben hatte, waren wie ein Archiv meiner Gefühle. Einige waren voller Wut, andere voller Trauer, und einige waren sogar hoffnungsvoll. Aber heute wollte ich etwas Neues schreiben, etwas, das all das einfing, was ich an diesem Tag gefühlt hatte. Dieses Gedicht entstand: Ein fremder Blick im Spiegelglas, Ein Schatten, der nicht zu mir passt. Ich sehne mich nach ihrer Hand, Doch sie bleibt fern, wie Treibsand. Ich trage Kleider, die nicht mein sind, Spiele Rollen, die niemand kennt. Ein Name, der wie Ketten klingt, Ein Lied, das nur der Wind mir singt. Wer bin ich, wenn nicht diese Gestalt? Ein Mädchen gefangen in einer Welt aus Gewalt. Doch irgendwo tief in meinem Sein, Flüstert eine Stimme: Du wirst frei sein. Und eines Tages, wenn die Zeit kommt, Werde ich gehen, werde ich fort. Ein Schritt, ein Sprung, ein neuer Tag, Dann bin ich nicht mehr, was ich nie war. Ich las die Worte noch einmal durch, als ich fertig war, und fühlte, wie Tränen meine Wangen hinunterliefen. Aber es war okay. Manchmal war Weinen das Einzige, was half. Dieses Gedicht war mein Versprechen an mich selbst – dass ich eines Tages frei sein würde, egal wie lange es dauern würde. Und an diesem Abend, allein in meinem Zimmer, hatte ich das Gefühl, dass das zumindest ein kleiner Anfang war. Ich schloss mein Notizbuch und legte es vorsichtig auf den Schreibtisch. Dann lehnte ich mich zurück und schaute aus dem Fenster. Die Dunkelheit hatte die Straße verschluckt, nur die Laternen warfen ihr schwaches Licht auf den Gehweg. Ich fragte mich, wo meine Mutter heute war. Ob sie an mich dachte. Ob sie bereute, was passiert war, oder ob sie sich nie wieder mit mir beschäftigte. Die Fragen wirbelten in meinem Kopf herum, bis ich sie nicht mehr aushalten konnte. Ich griff nach meinen Kopfhörern und legte Musik auf. Sanfte Melodien fluteten den Raum und überdeckten das Summen der Stille. Mit geschlossenen Augen stellte ich mir vor, dass ich an einem anderen Ort war. Einem Ort, an dem ich sein konnte, wer ich wirklich war. Ohne Angst, ohne Masken. Es war nur eine Vorstellung, aber sie reichte aus, um mein Herz ein wenig leichter zu machen. Bevor ich ins Bett ging, schickte ich eine kurze Nachricht an meine beste Freundin, die einzige Person, die mich wirklich verstand: "Danke, dass du immer für mich da bist. Manchmal denke ich, ohne dich wäre ich verloren." Es dauerte nicht lange, bis eine Antwort kam: "Du bist nie allein, Jules. Egal, was passiert."
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