Ein Lichtblick

1019 Words
Die Aula war voller aufgeregtem Gemurmel, als unsere Lehrerin, Frau Krämer, die Details der bevorstehenden Klassenfahrt bekanntgab. Wir sollten nach London fahren – eine Woche voller Abenteuer und neuer Erfahrungen. Meine Klassenkameraden tuschelten aufgeregt miteinander über die geplanten Ausflüge. Aber als Frau Krämer das Highlight der Reise verkündete, verstummten alle: „Am Donnerstagabend besuchen wir eine Travestie-Show. Ich denke, das wird ein besonderer Moment, der uns alle zum Nachdenken anregt.“ Mein Herz machte einen Sprung. Eine Travestie-Show! Es war, als wäre diese Veranstaltung für mich gemacht worden. In meinem Kopf begann ich sofort, mir die glitzernden Kostüme und die kraftvollen Darbietungen vorzustellen. Ich hatte schon so viel darüber gelesen, wie diese Künstler ihre Identität auf der Bühne feierten. Und jetzt würde ich es live erleben können. Doch meine Freude wurde bald von einem unangenehmen Knoten in meinem Bauch überlagert, als Frau Krämer die kleinen Zettel mit den Kosten für die Klassenfahrt austeilte. Ich nahm meinen Zettel entgegen und spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte, als ich die Summe sah. 450 Euro. Ich wusste, dass mein Vater sich das niemals leisten konnte. Wir kamen so gerade über die Runden, und diese Klassenfahrt war ein Luxus, den wir uns eigentlich nicht erlauben konnten. Ich versuchte, meine Sorgen zu verbergen, während die anderen lautstark Pläne schmiedeten. Neben mir saß Hannah, meine beste Freundin. Sie war die einzige, die mich wirklich kannte und verstand. Hannah war ein strahlender Wirbelwind, der immer wusste, wie sie mich aufmuntern konnte. Aber jetzt war sie still und beobachtete mich aufmerksam. Ich wusste, dass sie etwas bemerkt hatte. Als der Unterricht vorbei war, zog sie mich sanft zur Seite. „Jules, was ist los? Du warst eben so still.“ Ich schüttelte den Kopf und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen. „Es ist nichts, Hannah. Wirklich.“ Doch Hannah kannte mich besser, als ich mich selbst manchmal kannte. Sie nahm mir den Zettel aus der Hand und überflog die Summe. „Oh.“ Sie schwieg einen Moment und dann, mit dieser entschlossenen Art, die ich so an ihr liebte, sagte sie: „Mach dir keine Sorgen. Ich helfe dir.“ Ich schüttelte sofort den Kopf. „Nein, Hannah. Das kann ich nicht annehmen. Das ist zu viel. Ich werde schon irgendwie klarkommen.“ Sie legte ihre Hände auf meine Schultern und sah mir direkt in die Augen. „Jules, hör mir zu. Du freust dich so sehr auf diese Reise. Und auf die Show. Es wäre furchtbar, wenn du nicht mitkommen könntest. Ich will nicht, dass du dich darum sorgst. Meine Eltern haben genug Geld, sie merken es nicht einmal, wenn ich etwas beisteuere. Bitte lass mich das tun.“ Ich wollte protestieren, aber ihre Stimme hatte diesen sanften, überzeugenden Ton, gegen den ich nichts sagen konnte. „Hannah, das ist so viel Geld. Ich weiß nicht, wie ich dir das jemals zurückzahlen soll.“ Sie lächelte. „Du musst es nicht zurückzahlen. Du bist meine beste Freundin, und das ist, was beste Freunde füreinander tun.“ Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Ich hatte versucht, die Tränen zu unterdrücken, aber sie kamen trotzdem. „Hannah, ich… ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde.“ Sie zog mich in eine Umarmung, und ich ließ es zu. „Du musst nichts sagen, Jules. Alles wird gut, okay? Wir schaffen das zusammen.“ Später, als ich alleine in meinem Zimmer war, dachte ich über unser Gespräch nach. Hannah hatte eine Leichtigkeit an sich, die mich immer wieder erstaunte. Sie war so stark und selbstbewusst, und ich fragte mich oft, wie ich so viel Glück haben konnte, sie an meiner Seite zu haben. Ich wusste, dass sie es ernst meinte, als sie sagte, dass sie mir helfen würde. Aber ein Teil von mir fühlte sich trotzdem schuldig. Es war, als würde ich ihr zu viel abverlangen. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schlug mein Notizbuch auf. Schreiben half mir immer, meine Gefühle zu sortieren. Ich begann, meine Gedanken niederzuschreiben – über die Klassenfahrt, die Show und über Hannah. Je mehr ich schrieb, desto klarer wurde mir, wie viel sie mir bedeutete. Sie war nicht nur meine beste Freundin, sie war meine Familie. Die Familie, die ich mir immer gewünscht hatte. In den Tagen danach erledigte Hannah alles für mich. Sie sprach mit Frau Krämer, übergab den Beitrag und stellte sicher, dass ich mich nicht unwohl fühlen musste. Und ich wusste, dass ich ihr das niemals vergessen würde. Diese Reise nach London war nicht nur eine Klassenfahrt. Für mich war sie ein Schritt in eine Welt, in der ich endlich ein wenig mehr von mir selbst finden konnte. Am Abend vor der Abreise packte ich meine Tasche. Zwischen T-Shirts, Jeans und meinem Skizzenbuch legte ich einen kleinen Brief, den ich für Hannah geschrieben hatte. Es war kein großes Geschenk, nur ein paar Worte, um ihr zu sagen, wie viel sie mir bedeutete. Ich wusste, dass sie es wahrscheinlich als unnötig abtun würde, aber ich wollte, dass sie wusste, wie dankbar ich war. Ich ging ins Bett, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Stattdessen lag ich da und stellte mir vor, wie es in London sein würde. Die großen Straßen, die leuchtenden Lichter und natürlich die Show. Ich fragte mich, wie es sein würde, dort zu sitzen und zuzusehen, wie Menschen ihr wahres Ich auf der Bühne zeigten. Vielleicht würde es mir Mut machen. Vielleicht würde ich dort endlich ein wenig mehr verstehen, wer ich wirklich bin. Meine Gedanken kreisten um Hannahs Großzügigkeit. Es war nicht das erste Mal, dass sie für mich da war, aber dieses Mal fühlte es sich anders an – so bedeutungsvoll. Sie sah in mir nicht nur eine Freundin, sondern jemanden, der all die Unterstützung und Liebe verdient hatte, die sie geben konnte. Diese Erkenntnis machte mich gleichzeitig glücklich und schmerzlich bewusst, wie wenig ich manchmal von mir selbst hielt. Mit diesem Gedanken schloss ich endlich die Augen. Und diesmal fühlte sich der Schlaf nicht mehr so schwer an. Stattdessen war er voller Träume von neuen Möglichkeiten und dem Versprechen einer Reise, die vielleicht mehr verändern würde, als ich es jetzt noch erahnen konnte.
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