Hannahs Geschichte

1193 Words
Inhaltswarnung: Suizid Dieses Kapitel behandelt sensible Themen wie Suizidgedanken und -handlungen. Die beschriebenen Inhalte können belastend oder potenziell triggernd sein, insbesondere für Menschen, die mit ähnlichen Themen zu kämpfen haben oder Erfahrungen in diesem Bereich gemacht haben. Falls du dich von diesem Thema betroffen fühlst, nimm dir die Freiheit, dieses Kapitel zu überspringen. Denke daran, dass Hilfe verfügbar ist – du bist nicht allein. In akuten Krisensituationen wende dich bitte an eine Vertrauensperson oder eine professionelle Hilfsstelle in deiner Nähe. In Deutschland kannst du z. B. die Telefonseelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 anonym und kostenfrei erreichen. Bitte achte auf dich selbst. 💛 Ich erinnere mich noch genau an den ersten Tag, an dem ich Hannah begegnete. Es war vor vier Jahren, und ich war gerade an meine neue Schule gekommen. Ich war unsicher, still und bemühte mich, unsichtbar zu bleiben. Hannah jedoch war das genaue Gegenteil. Schon damals strahlte sie eine Sicherheit aus, die mich faszinierte und gleichzeitig einschüchterte. Sie war das Mädchen, das alle kannten – die Klassenbeste, Mitglied im Schülerparlament, immer hilfsbereit. Aber hinter dieser Fassade verbarg sich so viel mehr, als ich je erwartet hätte. Hannah kommt aus einer wohlhabenden Familie. Ihr Zuhause, ein großes Haus mit gepflegtem Garten und hohen Zäunen, war das perfekte Bild von Erfolg. Doch dieses Bild war trügerisch. Ihre Eltern hatten hohe Erwartungen an sie – viel zu hohe. Hannah musste in allem perfekt sein: die besten Noten schreiben, sich in außerschulischen Aktivitäten engagieren und immer überdurchschnittlich leisten. Sie hatte keine Wahl, denn ihre Eltern duldeten keine Fehler. Fehler bedeuteten Schwäche, und Schwäche war in ihrer Welt inakzeptabel. "Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich gar nicht wirklich existiere", hatte Hannah mir einmal anvertraut. "Ich bin nur das, was sie von mir erwarten. Ihre perfekte Tochter, ihr Vorzeigeprojekt." Ich wusste damals nicht, wie ich darauf antworten sollte. Aber ich wusste, wie es sich anfühlt, anders zu sein, nicht in die Erwartungen zu passen. Vielleicht war es das, was uns von Anfang an verbunden hat – diese unausgesprochene Gemeinsamkeit, nicht der Norm zu entsprechen. Hannahs Perfektion hatte ihren Preis. Sie erzählte mir später, dass sie eine Zeit lang mit Suizidgedanken gekämpft hatte. Die ständige Anspannung, die Angst zu versagen, hatten sie an den Rand der Verzweiflung gebracht. Niemand bemerkte es, weil sie ihre Rolle so perfekt spielte. Doch in ihrem Inneren schrie sie um Hilfe. Und dann traf sie mich. "Du hast mich gerettet, Jules", sagte sie eines Tages, als wir auf einer Bank im Park saßen. Es war Sommer, und die Sonnenstrahlen tanzten auf ihrem Gesicht. "Als ich dich kennengelernt habe, war da jemand, der mich nicht verurteilt hat. Du hast mich einfach so genommen, wie ich bin. Das hatte ich noch nie zuvor erlebt." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich jemand Besonderes war oder dass ich jemanden retten konnte. Aber für Hannah hatte ich genau das getan. Und sie hatte dasselbe für mich getan. Unsere Freundschaft wurde schnell zu einem Zufluchtsort, einem Raum, in dem wir beide sein konnten, wer wir wirklich waren. Ich erinnere mich an endlose Gespräche, in denen wir unsere Ängste und Träume teilten. Hannah erzählte mir von dem Druck ihrer Eltern, und ich erzählte ihr von meinem ständigen Kampf, mich in meinem eigenen Körper zu akzeptieren. Es war Hannah, die als Erste verstand, was ich selbst kaum in Worte fassen konnte. "Jules", sagte sie eines Nachmittags, als wir in ihrem Zimmer saßen. "Du bist so viel mehr, als du denkst. Und ich glaube, dass du das auch irgendwann sehen wirst. Aber du musst dir erlauben, du selbst zu sein." Ich weiß nicht, ob ich ohne Hannah je den Mut gefunden hätte, zu akzeptieren, wer ich wirklich bin. Sie war die Erste, die wusste, dass ich mich in meinem Körper nicht wohlfühlte, die Erste, der ich erzählte, dass ich mich mehr als Mädchen fühle als wie ein Junge. Und sie hat mich niemals verurteilt. Im Gegenteil, sie hat mich ermutigt, ehrlich zu mir selbst zu sein. "Ich werde immer an deiner Seite sein, Jules", sagte sie mir einmal. "Egal, was passiert." Und sie hat ihr Wort gehalten. In den letzten vier Jahren war sie meine größte Unterstützerin. Sie hat mir geholfen, Kleidung zu finden, in der ich mich wohlfühle, hat mich ermutigt, meine Gefühle aufzuschreiben, und war immer da, wenn ich jemanden zum Reden brauchte. Ohne Hannah wäre ich heute nicht da, wo ich bin. Aber auch ich war für sie da. Als sie beschloss, mit ihren Eltern zu sprechen und ihnen zu sagen, dass sie sich nicht weiter diesem enormen Druck aussetzen wollte, war ich es, der sie in den Arm nahm, als sie danach weinte. Es war nicht einfach für sie, und ihre Eltern verstanden es nicht sofort. Aber mit der Zeit lernten sie, Hannah mehr Freiheiten zu geben. Sie war immer noch die Beste in ihrer Klasse, aber jetzt tat sie es für sich selbst und nicht mehr, um jemand anderem zu gefallen. "Du hast mir gezeigt, dass ich nicht perfekt sein muss, um geliebt zu werden", sagte sie einmal zu mir. "Und das war die größte Lektion meines Lebens." Unsere Freundschaft war nicht immer leicht. Es gab Zeiten, in denen wir gestritten haben, in denen wir uns gegenseitig nicht verstanden haben. Aber am Ende des Tages wussten wir immer, dass wir uns aufeinander verlassen konnten. Wir hatten beide unsere Kämpfe, aber wir haben sie gemeinsam durchgestanden. Und das hat uns unzertrennlich gemacht. Hannah ist für mich mehr als nur eine Freundin. Sie ist meine Familie, meine Seelenverwandte, mein Licht in der Dunkelheit. Und ich hoffe, dass ich für sie dasselbe bin. Wenn ich an all das denke, was wir gemeinsam durchgemacht haben, fühle ich nichts als Dankbarkeit. Dankbarkeit für diese unglaubliche Person, die in mein Leben getreten ist und es für immer verändert hat. Manchmal frage ich mich, wie mein Leben ohne sie aussehen würde. Aber dann schüttle ich den Gedanken ab, denn er ist einfach unvorstellbar. Hannah und ich sind ein Team, und egal, was die Zukunft bringt, ich weiß, dass wir es zusammen durchstehen werden. Denn das haben wir immer getan. In den letzten Jahren habe ich gelernt, wie wichtig es ist, jemanden wie Hannah an meiner Seite zu haben. Sie hat mir gezeigt, dass wahre Freundschaft keine Bedingungen kennt und dass es okay ist, manchmal schwach zu sein. Wenn ich an unsere gemeinsamen Momente denke – die Lachen, die Tränen, die stillen Augenblicke des Verständnisses – wird mir bewusst, wie viel Glück ich hatte, sie zu finden. Jetzt, wo ich selbst stärker werde, hoffe ich, dass ich ihr genauso helfen kann, wie sie mir geholfen hat. Denn auch wenn sie nach außen hin immer stark wirkt, weiß ich, dass sie manchmal meine Stärke braucht. Und ich werde da sein, so wie sie immer für mich da war. Unsere Freundschaft ist etwas Besonderes, etwas, das ich niemals als selbstverständlich ansehen werde. Hannah hat mir beigebracht, dass es im Leben nicht darum geht, perfekt zu sein, sondern echt. Und vielleicht ist das das größte Geschenk, das sie mir je machen konnte. Ein Geschenk, das ich jeden Tag aufs Neue zu schätzen weiß.
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