1.1 Lea
An einem warmen Frühlingsmorgen war mein erster Unitag. Der Einführungstag war nicht besonders spektakulär. Der Leiter unseres Studienganges erzählte über Ziele, Ausrichtung und die ersten Unterrichtsfächer unserer Schule. Danach gab es Kuchen auf dem Innenhof und die Möglichkeit, dass die Studenten und die Dozenten sich miteinander bekanntmachen konnten. Am Ende der Rede gab es aber noch die Stundenpläne für das erste Semester. Wir durften uns erst ab dem zweiten Semester Dozenten und Kurse aussuchen. Das erste war gesetzt, damit die Kurse gut verteilt waren und man erstmal ankommen konnte. Wir standen also nach der Rede alle auf dem Hof und diskutierten über unsere Stundenpläne. Ich hielt mich zurück und stand etwas abseits. Die meisten Studenten waren deutlich jünger als ich und ich fand in den Gesprächen keinen Anschluss. Aber es war mir auch egal, ich brauchte hier keine Freunde und würde mein eigenes Ding durchziehen.
Auch den Dozenten schenkte ich nur einen flüchtigen Blick und vertiefte mich in meinen Stundenplan.
Ich hatte mich für Musik als Studiengang entschieden, da ich mich in diese Richtung weiterentwickeln wollte. Ich wusste aber noch nicht genau, was ich mit dem Studium am Ende anfangen wollte. Von Radiomoderatorin bis Sängerin konnte ich mir alles vorstellen. Ich nahm schon seit ein paar Jahren Gesangsunterricht, aber für eine richtige Sängerin fehlte mir noch das theoretische Grundwissen. Meine Eltern schalten mich einen Narren, in meinem Alter noch so ein Studium anzufangen. Das war für junge Leute, die sich ihre Hörner noch abstoßen wollten. Aber nach meiner wirklich bodenständigen Ausbildung zur Sekretärin brauchte ich jetzt etwas Kreatives, was mir in meinem Job wirklich gefehlt hatte.
Notenlehre und Popgeschichte standen für morgen auf dem Lehrplan. Ersteres hatte ich im Gesangsunterricht zur Genüge schon gemacht. Letzteres war sehr spannend für mich. Auch wenn ich mit dem Musikstil nicht viel anfangen konnte, war die Geschichte davon genau das, warum ich studieren wollte.
Nach einer Stunde sinnlosem Smalltalk verließ ich das Unigelände. Der Stundenplan war das einzig Wichtige an diesem Tag gewesen. Zu Hause telefonierte ich noch mit meiner besten Freundin und räumte die Wohnung auf. Ich wohnte in einer kleinen Zweiraumwohnung mit einem wunderschönen Balkon zum Innenhof. Danach ging ich wie jeden Montagnachmittag in mein Lieblingsschwimmbad um die Ecke, um mich auszupowern.
Nach meinen obligatorischen zehn Bahnen machte ich wie immer meine erste Pause. Ich setzte mich an den Beckenrand und schaute den anderen Badegästen zu. Dabei versuchte ich wieder zu Atem zu kommen und meinen Puls zu entschleunigen.
Ich ließ meinen Blick durch die Halle schweifen und mein Herz hüpfte vor Aufregung, als ich ihn in die Halle kommen sah. Ich hatte ihn schon öfter hier gesehen und er sah einfach zu lecker aus. Ich stand nicht auf einen ausgeprägten Bizeps, deswegen mochte ich seine schlanke Gestalt, ohne dass seine Sportlichkeit zu aufdringlich war. Sein schwarzes Haar unterstrich seine undurchdringliche Aura, die er auszustrahlen schien. Ich hatte ihn noch nie wirklich von Nahem gesehen, da er seine Bahnen immer auf der anderen Seite der Halle schwamm. Aber das war auch für mein Herz das Beste. Das eine Mal hatte ich mir eingebildet, dass er direkt auf mich zukam und hatte fast einen Herzkasper bekommen. Aus Panik war ich in die Bahn gesprungen und bis ans andere Ende der Bahn getaucht. Ich hatte mich nicht mal getraut, zu ihm hinzusehen, um für mich zu bestätigen, ob er wirklich zu mir wollte oder woanders hin. Aber nach drei Minuten ging er mit der Bademeisterin von meiner Bahn weg in Richtung seine und ich beschloss, dass ich mir alles eingebildet hatte.
Ich wusste auch nicht, wieso ich so schüchtern bei ihm war. Normalerweise konnte ich sehr gut Männer von mir aus ansprechen. Wenn ich tanzen ging, machte ich sogar sehr oft den ersten Schritt und flirtete mit einem Mann oder tanzte ihn an. Auch das Gespräch eröffnen fiel mir nie schwer.
Vielleicht lag es auch an der Atmosphäre der Schwimmhalle. Es war für mich ein geschützter Raum, den man zwar mit anderen teilte, aber in dem man dann doch alleine seine Bahnen schwamm und dann wieder nach Hause ging.
So tat ich es auch heute und legte mich erschöpft ins Bett. Das Bild vom Schwimmbadkerl kam mir wieder vor das innere Auge und ich spürte Erregung in mir hochkommen. Da ich ungern erregt einschlief, besorgte ich es mir selbst, damit mein Kopf danach frei wurde und ich gut einschlafen konnte. Dabei stellte ich mir eine Duschszene im Schwimmbad vor, die so nie stattfinden würde. Aber mir half sie, zum Höhepunkt zu kommen.
Der nächste Tag brachte mir wieder Herzklopfen. Bei jedem Betreten der Unisäle war ich aufs Neue aufgeregt, wie der Dozent wohl sein würde und wie er den Unterrichtsstoff vermitteln konnte. Von meiner Freundin hatte ich erfahren, dass viele Dozenten eine Macke oder einen Tick hatten. Außerdem war die Qualität jedes Faches sehr unterschiedlich. Das hatte ich in Notenlehre schon bemerkt. Das Fach war sehr langweilig. Nicht nur, dass ich den Stoff schon kannte, der Dozent brachte ihn auch noch trocken rüber.
Das nächste Fach war Popgeschichte, auf das ich mich gestern schon gefreut hatte. Als der Dozent hineinkam, las ich gerade in dem Buch, was wir uns für das Fach anschaffen sollten. Ich fand es sehr spannend, weswegen ich den ersten Blick zum Tutor noch ein paar Sekunden hinauszögerte. Als dann seine Stimme erklang und um Ruhe bat, war für mich die Stimme sehr angenehm. Umso erstaunlicher fand ich, dass sie mir eine Gänsehaut verursachte. Ich hob den Blick und mein Herz setzte eine Sekunde aus. Da stand der Schwimmbadkerl und verschaffte sich Gehör. Das konnte nicht wahr sein! Gestern hatte ich noch voll die SB-Fantasie mit ihm gehabt und heute stand er als Tutor vor mir, um mir ein Semester Popgeschichte einzuprügeln.
Ich wurde rot und versteckte mich hinter meinem Buch. In der letzten Stunde hatte ich mich ein wenig mit einer Kommilitonin unterhalten, die sich in diesem Kurs auch neben mich gesetzt hatte. Sie warf mir einen komischen Blick zu, und ich versuchte mich aufzusetzen und das Buch zu senken. Das fiel mir sehr schwer, vor allem, als sich plötzlich unsere Blicke trafen.
Unsere Blicke verhakten sich einen Moment, aber er löste sich davon, um sich vorzustellen. Sein Name war also Chris. Wie oft hatte ich mir Namen für ihn überlegt, wenn ich ihn im Schwimmbad beobachtet hatte. Auf Chris war ich nicht gekommen. Ich versuchte mich wieder zu konzentrieren. Er drohte gerade, wenn man mit der Popgeschichte schon nicht klar kam, man in den Folgesemestern Probleme bekommen würde. Ich wusste nicht, ob das eine bewusste Drohung war und er mit den Studenten spielte. Wollte er ihren Ehrgeiz ansprechen oder machte es ihm nur einfach Spaß, so zu reden? Ich konnte es noch nicht einschätzen.
Meine Kommilitonin neben mir fing an, sich Notizen zu machen und auch ich nahm meinen Block hervor, um mir ein paar Sachen zu notieren, die ich noch nicht wusste. Seine Stimme war sehr angenehm und mit seiner Art, uns die Geschichte näher zu bringen, kam ich sehr gut klar. Es machte Spaß, ihm zuzuhören, vor allem, weil er nicht in einen monotonen und langatmigen Monolog verfiel. Man konnte heraushören, dass ihn das Thema selbst interessierte und er seinen Unterricht gut vorbereitete.
Der Schreibblock vor mir hatte den großen Vorteil, dass ich mich ihm schnell zuwenden konnte, wenn Chris in meine Richtung blickte. Mein Herz schlug noch immer schnell und ich hatte noch nicht verarbeitet, dass wirklich der Schwimmbadkerl hier vor mir stand und über Popmusik philosophierte.
Ich merkte gar nicht, wie die Zeit verflog. Ein zufälliger Blick auf die Uhr verriet mir, dass die Stunde bald enden würde. Auch er blickte kurz auf seine Uhr und dann sah ich ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen. Was hatte er vor?
Er begann eine sehr einfache Frage zu stellen. Ganz automatisch schnellte meine Hand hoch, so wie jede andere im Hörsaal. Es folgten weitere und mit jeder neuen Frage meldeten sich immer weniger. Am Ende war ich die Einzige, die ihre Hand erhoben hatte bei der anscheinend letzten Frage. Unsere Blicke trafen sich, aber ich war mir meiner Antwort so sicher und wollte sie auch loswerden, dass mich der erneute Augenkontakt nicht störte. Kurz meinte ich Verwirrung in seinen Augen aufblitzen zu sehen, aber es war zu schnell vorbei, als dass ich mir ganz sicher war. Dann grinste er süffisant mit den Worten:
“Nun, es scheint, als hätten wir eine Gewinnerin. Zumindest wenn die Antwort richtig ist.”
Da ich mir so sicher war, sprudelten meine Worte wie von selbst aus meinem Mund. Er wirkte überrascht und brachte dies auch gleich zum Ausdruck:
“Na, da haben wir ja eine ganz Schlaue unter uns. Bitte sei so nett und verrate uns deinen Namen.”
Seine Augenbraue rutschte nach oben. Meine Sympathie ihm gegenüber, die sich die Stunde über immer weiter gesteigert hatte, sank deutlich. Was sollte jetzt dieses chauvinistische Gehabe? War er frauenfeindlich oder nur ein Arschloch?
Entschlossen verriet ich ihm meinen Namen und damit auch allen Kommilitonen im Saal. Das war Nötigung! Aber ich würde mich nicht von ihm mobben lassen und klein beigeben!
Wieder trafen sich unsere Blicke und ich konnte nicht erkennen, worüber er nachdachte. Der typische Uniklingelsound ertönte und beendete die Vorlesung. Ich war froh, dass ich den Blick beenden konnte, und packte ein, wie die meisten um mich herum. Einige standen schon auf, als Chris nochmal seine Stimme erhob.
“Das Thema der nächsten Stunde werden die Beatles sein. Ich werde auch dann am Ende der Stunde wieder fünf Fragen stellen. Wenn ihr euch ein bisschen vorbereitet, könnt ihr dieses Mal alle Fragen richtig beantworten, wie unsere Lea.”
Als ich meinen Namen aus seinem Mund hörte, zuckten vor Schreck meine Finger. Leider hatte ich gerade meine Federtasche zumachen wollen. Sie fiel mir aus der Hand und die Stifte verteilten sich auf dem Boden. So ein verdammter Mist. Meine Kommilitonin neben mir kicherte. Ich war mir nun sicher. Er war ein Arschloch!
Ich sammelte schnell meine Stifte ein und blickte beim Aufstehen Richtung Dozententisch. Er war natürlich nicht mehr da. Wenn er mich jetzt auf dem Kicker haben sollte, musste ich mich wohl oder übel auf das nächste Thema vorbereiten, damit er mich nicht vor allen blamieren konnte. Ich ignorierte die kleine Vorfreude auf die nächste Vorlesung mit ihm und war mir sicher, dass ich mich nicht darauf freute, mich mit den Beatles auseinanderzusetzen.
Naja, vielleicht ein bisschen.