1.2 Chris

1391 Words
Es war der erste Tag des neuen Semesters und die neuen Studenten betraten den Campus. Natürlich war ich schon ein paar Stunden vorher auf dem Gelände. Irgendjemand musste ja beim Aufbau der Feierlichkeiten helfen. Nachdem alle Vorbereitungen abgeschlossen waren und sich der Campus nun langsam mit Leben füllte, schaute ich mir wie immer das Frischfleisch an. Es waren mal wieder sehr viele junge Leute dabei. Ich hatte den Anblick über die Jahre schätzen gelernt. Ich fand es aber auch interessant zu sehen, dass wie immer ein paar ältere Leute den Weg zur Musik gefunden hatten. Während der Studiengangsleiter seine Rede über Ziele, Ausrichtungen und Unterrichtsfächer hielt, die sich seit acht Jahren nicht verändert hatte, ließ ich den Blick weiter in die Runde schweifen. Nach ein paar Sekunden sah ich ein Gesicht, das mir von irgendwoher bekannt vorkam. Es gehörte zu den älteren Neuanfängerinnen. Ihre schulterlangen, kastanienbraunen Haare glitzerten in den Sonnenstrahlen und das Gesicht war mit leichten Sommersprossen bedeckt. Ich wusste genau, dass ich sie in der Vergangenheit schon mehrfach gesehen hatte, nur wusste ich eben nicht, wo. Ich schüttelte den Gedanken zunächst ab und verließ die Feierlichkeiten, denn ich musste noch ein wenig Stoff für den morgigen Tag vorbereiten. Ich war jetzt seit drei Jahren Dozent an der Uni. Vor acht Jahren hatte ich selber an der Stelle gestanden, an der nun das Frischfleisch stand. Danach begann mein steiler Aufstieg zum Dozenten für Musikgeschichte. Ich wählte die Popgeschichte immer mit Absicht als Fach für das erste Semester aus. Sie brachte einen leichten Einstieg mit sich und jeder Student hatte in seiner Vergangenheit irgendeinen Berührungspunkt mit der Popmusik. Außerdem zeigte sich hier immer ganz gut, wer das Zeug für dieses Fach hatte. Wer bei diesem Thema schon nicht mehr mitkam, dem konnte ich auch die Geschichte der Klassik oder des Jazz nicht mehr vermitteln. Als ich mit den Vorbereitungen fertig war, verließ ich das Unigelände und fuhr nach Hause, um meine Schwimmsachen zu holen. Schwimmen war für mich schon immer der beste Ausgleich zum stressigen Alltag. Als ich mich umgezogen hatte und die Halle betrat, sah ich sie. Jetzt wusste ich wieder, wo ich die Frau von der Uni heute Morgen schon so oft gesehen hatte. Sie besuchte dasselbe Schwimmbad wie ich und das schon seit mindestens zwei Jahren. Sie war mir dort schon öfter aufgefallen, aber sie hatte jetzt kürzere Haare. Mir gefielen ihre Kurven, die ich bisher nur aus der Ferne gesehen hatte, recht gut. Einmal wollte ich ihr näher kommen, doch plötzlich sprang sie ins Wasser und begann einen Tauchgang hinzulegen, auf den selbst Kapitän Nemo stolz gewesen wäre. Ab diesem Moment hatte ich es nicht noch einmal versucht, auch wenn ich mich schon zu den schüchternen Frauen hingezogen fühlte. Ich wusste auf jeden Fall, dass sich mir jetzt eine Gelegenheit bieten würde, ihr näher zu kommen, ohne dass ihr das Wasser helfen würde. Ich würdigte sie keines weiteren Blickes und zog meine Bahnen, damit ich pünktlich zum Abendessen bei meinen Eltern sein konnte. Als ich damals Musik studierte, waren sie nicht sehr überzeugt davon und meinten, ich solle doch lieber Jura studieren. Ich setzte allerdings meinen Willen durch, und dass ich nun Dozent an eben dieser Uni war, beeindruckte sie schon ein wenig. Zumindest redete ich mir dies ein, denn meine Eltern waren, was das anging, nie sehr gesprächig. Nach dem Abendessen ging ich nach Hause, bereitete noch ein paar Dinge vor und ging zu Bett, um den nächsten Tag in Angriff nehmen zu können. Am nächsten Tag begann endlich die Uni. Ich hielt erst eine Vorlesung zum Thema Geschichte der Klassik. Diesen Stoff vermittelte ich Studenten im zweiten Semester. Als die Vorlesung vorbei war, war es Zeit, mich auf den Weg zu ihr zu machen. Ich betrat den Hörsaal und hörte die Leute reden. Ich sah mich um, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Hatte sie schon kalte Füße bekommen? Ich setzte zu einem lauten “Ruhe bitte” an und der ganze Hörsaal verstummte. Mein Blick schweifte durch den Saal und jetzt entdeckte ich sie. Von ihrer Reaktion zu schließen, schien ich ihr im Schwimmbad durchaus aufgefallen zu sein. Ihr Kopf erinnerte mich nun an einen Krebs, und sie begann ihn hinter einem Buch zu verbergen. Ich grinste, drehte mich um und legte meine Tasche auf den Stuhl. Das konnte ein lustiges Semester werden. Als ich mich nun wieder den Anwesenden zuwandte, war sie nicht mehr hinter ihrem Buch verborgen und schaute mir direkt in die Augen. Dieses Mal errötete sie nicht, wobei ihre Haut auch noch nicht den normalen Farbton wieder angenommen hatte. Ich löste den Blick von ihr und begann mit meiner Lektion. “Es freut mich, dass ihr hier so zahlreich erschienen seid. Ich bin Chris, euer Dozent für Musikgeschichte. Wir werden dieses Semester die Geschichte der Popmusik behandeln. Vielleicht fragt ihr euch, warum wir damit anfangen. Nun, jeder hat schon in irgendeiner Form seine Berührungen mit der Popmusik gemacht, und deswegen ist es ein Thema, das einen einfachen Einstieg bringt. Seid euch gewiss, dass die Geschichte der Popmusik noch vergleichsweise einfach ist. Solltet ihr hier bereits Probleme haben, so empfehle ich euch, das Studium nicht weiterzuführen. In diesem Sinne, fangen wir an.” Ich begann den Anfängern die erste Vorlesung in meinem Lieblingsfach zu halten. Ich hätte über das Thema stundenlang reden können und fand es ein bisschen schade, dass die Zeit immer nur so kurz war. Während ich über die Anfänge der Popmusik philosophierte, beobachtete ich die Leute in meinem Hörsaal. Viele saßen da und machten Notizen. Einige schauten lieber auf ihr Smartphone und ich wusste jetzt schon, dass sie das zweite Semester wohl nicht überleben würden. Meine Schwimmbadbekannte schaute öfter zur Seite oder wandte sich schnell ihren Notizen zu, wenn mein Blick auch nur annähernd in ihre Richtung fiel. Dies löste ein wenig Freude in mir aus. Nachdem ich ein wenig mehr über die Geschichte der Popmusik erzählt hatte, neigte sich die Stunde auch schon fast dem Ende zu. Das war, auch wenn ich die Stunde am liebsten nie enden lassen wollte, auch die Zeit, die mir am meisten an dieser Vorlesung gefiel. Fragestunde! Für gewöhnlich stellte ich den Studenten am Ende einer Vorlesung fünf Fragen und jede war schwieriger als die vorherige. Ab der zweiten Stunde wurde es etwas einfacher, da ich das Thema der aktuellen Stunde bereits im Vorfeld bekannt gab. Aber hier und heute traf ich sie unvorbereitet. Bei der ersten Frage schnellten noch alle Hände nach oben und auch bei der zweiten war noch jeder dabei. Doch bei der dritten Frage wurden es schon deutlich weniger Meldungen. Bei der vierten meldeten sich nur noch drei Personen. Dann kam sie, die Letzte der Fragen. Ich war mir sicher, dass niemand auch nur annähernd die Antwort kennen würde. Also stellte ich sie und war mir des Sieges gewiss. Doch unerwartet hob sie die Hand und dieses Mal errötete sie nicht. Ihr Blick irritierte mich fast, aber ich verlor meine Fassung nicht. Zwar hatte sie sich auch bei den anderen vier Fragen gemeldet, doch bisher hatte ich sie nicht zu Wort kommen lassen. Ich schaute sie amüsiert an und sagte: “Nun es scheint, als hätten wir eine Gewinnerin. Zumindest wenn die Antwort richtig ist.” Ihre Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ich hörte das erste Mal ihre Stimme. Beim Sopran der Worte bekam ich Lust, sie singen zu hören. Darüber hinaus stimmte die Antwort zu meinem Erstaunen auch noch. “Na, da haben wir ja eine ganz Schlaue unter uns. Bitte sei so nett und verrate uns deinen Namen.“ sagte ich und hob provokativ eine Augenbraue. Sie erwiderte entschlossen meinen Blick. Ihr Name war also Lea. Ich fand, dass die Melodie des Namens wunderbar zu ihrer sopranen Stimmlage passte. Bevor ich etwas erwidern konnte, schallte es zum Stundenende. Ich sammelte mich kurz und erhob die Stimme, während schon die ersten Leute aufstanden. “Das Thema der nächsten Stunde werden die Beatles sein. Ich werde auch dann am Ende der Stunde wieder fünf Fragen stellen. Wenn ihr euch ein bisschen vorbereitet, könnt ihr dieses Mal alle Fragen richtig beantworten, wie unsere Lea.” Als ich ihren Namen noch einmal erwähnte, ließ sie ihre Federtasche fallen. Die Stifte verteilten sich auf dem Boden und sie sammelte sie eilig wieder ein. Ich grinste, nahm meine Tasche und verließ den Hörsaal. Der erste Tag mit ihr war interessant gewesen.
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