Emma Weiss hatte sich diesen Tag jahrelang vorgestellt.
Der Tag ihrer Abschlussfeier.
Der Höhepunkt endloser langer Nächte, unzähliger Prüfungen und eines Traums, den sie Hand in Hand mit Julian Falkenberg zu verwirklichen glaubte – dem Mann, den sie seit ihrer Jugend liebte, dem zweiten Sohn einer der renommiertesten Winzerdynastien Europas.
Statt Julians Arm um ihre Schultern stand sie allein am Rande des überfüllten Universitätshofs und umklammerte ihr Diplom, während Familien und Paare um sie herum feierten.
„Geschäftstreffen“, hatte er an diesem Morgen gesagt, seine Stimme warm, sanft, beruhigend. Immer beruhigend. „Wir treffen uns heute Abend auf dem Weingut. Ich habe eine Überraschung für dich.“
Emma hatte sich an diese Worte geklammert wie an einen Rettungsanker und lächelte, als ihre Kommilitonen und Professoren ihr gratulierten. Julian war immer beschäftigt; er war schließlich ein Falkenberg. Sein Charme, sein Ehrgeiz, seine kultivierte Fähigkeit, sich in jedem gesellschaftlichen Kreis zurechtzufinden – das war Teil dessen, was sie zu ihm hingezogen hatte. Er ließ sie glauben, dass sie in seine Welt gehörte.
Heute Abend, sagte sie sich, würde er ihren verpassten großen Moment wiedergutmachen. Das tat er immer – zumindest wollte sie das glauben.
Es machte ihr nichts aus zu warten. Mit Julian war sie immer geduldig gewesen.
Doch als sich der Hof langsam leerte – Freunde umarmten sich, Mütter weinten, Väter klopften ihren Kindern auf die Schulter –, lastete die Einsamkeit schwerer auf ihren Rippen. Sie stellte sich Julian an ihrer Seite vor, dieses unbeschwerte Lächeln umspielte seine Lippen, seinen Arm um ihre Schultern gelegt, wie er es früher in den Weinbergen getan hatte, als sie jünger waren. Sie stellte sich vor, wie er sie ins Licht zog und ihr zuflüsterte, dass sie ihn stolz gemacht hatte.
Stattdessen sah sie nur die Gesichter fremder Menschen und die harte Wahrheit seiner Abwesenheit.
Ihr Lächeln erlosch. Sie schlüpfte davon, bevor der Schmerz in ihrem Hals sie verriet.
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Am Abend stand sie vor dem Gut Falkenberg, ihr Herz klopfte vor Vorfreude.
Vor ihnen ragte das weitläufige Herrenhaus auf, dessen Steinfassade im sanften Schein der Laternen leuchtete. Die Fenster leuchteten warm in der Nacht, aus dem Inneren drang das Summen von Musik und Gelächter. Hinter dem Haus erstreckten sich endlose Weinberge, das Erbe der Falkenbergs, jede Rebreihe so präzise und rücksichtslos wie die Familie, der sie gehörte.
Emma strich ihr schimmerndes champagnerfarbenes Kleid glatt. Ihre Finger zitterten trotz ihres tiefen Atems. Dieser Abend fühlte sich an wie der Beginn von etwas Neuem. Vielleicht würde Julian sie wirklich überraschen – eine Verlobung vielleicht, ein Versprechen für ihre gemeinsame Zukunft. Sie stellte sich vor, wie er unter den Gartenlichtern auf die Knie sank, wie sie unter Tränen Ja sagte und wie die Gäste vor Freude in die Luft strömten.
Ihr Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken.
Ein Mitarbeiter, den sie kannte, begrüßte sie höflich. Sein Ton war neutral, respektvoll, aber in seinen Augen lag etwas – vielleicht Mitleid oder die stille Anerkennung ihres Status in dieser Welt. „Mister Julian wurde zuletzt im Garten gesehen, Miss Weiss.“
Emma lächelte, dankte ihm und eilte zu den Glastüren, die zu den Falkenberg-Gärten führten.
Der Garten sah aus wie aus einem Märchen: Spaliere voller Rosen, Lichterketten, in denen Regentropfen glitzerten, der Duft von Lavendel und Weintrauben hing in der feuchten Luft. Emmas Absätze klapperten leise auf dem gepflasterten Weg, als sie um eine Ecke bog, in der Erwartung, Julian dort zu sehen.
Stattdessen erstarrte sie.
Julian war da – seine Hände umschlossen das Gesicht einer anderen Frau, seine Lippen pressten sich zu einem langsamen, gemächlichen Kuss auf ihre. Nicht hastig, nicht nachlässig. Intim. Zärtlich. Als ob Emma nicht existierte.
Ihr stockte der Atem. Das Geräusch des Regens wurde leiser und durch das Pochen ihres eigenen Herzschlags ersetzt.
Sie schrie nicht. Sie schrie nicht auf. Sie drehte sich einfach um und ging davon. Ihre Absätze versanken im nassen Gras, ihr Kleid streifte Dornen, als sie vorbeiging. Das Lachen, das sie zuvor mit Klassenkameraden erzwungen hatte, das Bild von Julian, der mit einem Ring kniete – alles zerbrach wie Glas in ihrer Brust.
„Emma!“
Seine Stimme krachte wie eine Peitsche durch die Nacht.
Sie ging weiter.
„Emma, warte!“
Hinter ihr donnerten Schritte. Er packte ihr Handgelenk, als sie die Kiesauffahrt erreichte, und wirbelte sie herum.
„Emma, es ist nicht so, wie es aussah“, sagte er schnell, seine Stimme leise, aber eindringlich. Sein Griff war warm, vertraut und besitzergreifend.
Sie riss sich los. „Wirklich? Denn es sah genau so aus, als würdest du jemanden küssen, der nicht ich war.“
Einen Moment lang flackerten seine hübschen Gesichtszüge – Schuld huschte über seine Augen. Doch genauso schnell kehrte seine geübte Gelassenheit zurück. Julian Falkenberg, der charmante zweite Sohn, der Mann, der Gift mit Samt überdecken konnte.
„Es ist … kompliziert.“ Sein Ton wurde sanfter, einschmeichelnder, so wie er sich schon aus unzähligen Situationen herausgeredet hatte.
Emma lachte bitter auf. „Kompliziert? Julian, ich dachte, ich bedeute dir etwas.“
„Tust du“, sagte er und trat näher. Seine Stimme wurde leiser, einschmeichelnd, fast hypnotisch. „Emma, bitte. Du denkst zu viel nach. Ich liebe dich.“ Seine Finger strichen mit bewusster Sanftheit über ihren Arm, dieselben Hände, die sich gerade noch in den Haaren einer anderen Frau verfangen hatten.
Ihre Brust schmerzte. Sie schüttelte den Kopf, Tränen drohten ihr in die Augen zu steigen. „Ich habe dir nur zugehört. Die ganze Zeit. Und jetzt sehe ich, wer du wirklich bist.“
Julians Kiefer spannte sich an. Sein Charme brach. „Tu das nicht. Mach keine Szene daraus.“ Sein Ton wurde schärfer, der Stahl unter dem Samt löste sich. „Du überreagierst.“
Dieses einzelne Wort zersplitterte etwas in ihr.
„Überreagieren Sie?“ Ihre Stimme zitterte vor Wut. „Julian, du bist ein Feigling.“
Zum ersten Mal fiel seine Maske vollständig. Sein Blick wurde kalt, berechnend, ein Anflug der Rücksichtslosigkeit, die er sonst verbarg. Doch Emma blieb nicht lange genug, um mehr zu sehen.
Sie drehte sich um und schritt davon, ihre Absätze schlugen hart auf den nassen Steinen auf, und ließ den Jungen zurück, den sie zu kennen glaubte.
Sie hatte davon geträumt, dass diese Nacht der Anfang der Ewigkeit sein würde. Stattdessen war sie das Ende.
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Als Emma in ihr Auto stieg, war der Regen zu einem reißenden Strom geworden. Wassermassen prasselten gegen die Windschutzscheibe, durchnässten ihr Haar und tropften in ihren Kragen. Ihre zitternden Finger steckten den Schlüssel ins Zündschloss. Der Motor heulte auf.
Sie fuhr schnell los, die Reifen spuckten Kies auf. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass es schmerzte.
Scheinwerfer durchschnitten den Sturm, verschwommen vom Regenguss. Die Scheibenwischer quietschten und räumten gerade genug, dass sie die kurvenreiche Bergstraße vor sich sehen konnte.
Tränen trübten ihre Sicht. Sie blinzelte heftig und trat stärker aufs Gaspedal. Ihre Gedanken kreisten im Kreis.
Die Jahre, die sie mit Julian verbracht hatte. Wie er sie in seine Welt hineingezogen und ihr das Gefühl gegeben hatte, auserwählt und etwas Besonderes zu sein. Wie sie ihn verteidigt hatte, als die Leute flüsterten, er sei rücksichtslos, egoistisch, unzuverlässig. Wie töricht sie gewesen war zu glauben, sie könne ihn stützen, zähmen, genug lieben.
Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Sie umklammerte das Lenkrad fester.
Ihr Handy summte im Getränkehalter. Julians Name blitzte über das Display.
Sie ignorierte es.
Die Kurve kam schnell. Zu schnell.
Sie trat auf die Bremse.
Nichts passierte.
Ihr Magen zog sich zusammen.
Sie trat noch einmal, fester. Das Pedal sank bis zum Boden durch. Tot.
„Nein –“ Ihre Stimme brach. „Nein, nein, nein, nein!“
Panik stieg in ihr auf, als das Auto ins Schleudern geriet. Sie zog die Handbremse an, doch die Reifen quietschten, nutzlos auf dem glatten Asphalt. Die Leitplanke ragte auf und glänzte nass im Scheinwerferlicht.
Ihr Schrei wurde vom Sturm verschluckt.
Und dann – Scheinwerfer.
Ein anderes Auto brach durch den Regenvorhang und glitt auf der anderen Seite auf sie zu. Eine weiße Limousine. Bänder wehten aus den Spiegeln, Blumen auf der Motorhaube.
Ein Hochzeitsauto.
Emmas Blut gefror.
Sie hatte keine Zeit auszuweichen.
Der Aufprall erfolgte mit einem markerschütternden Krachen. Metall kreischte, Glas explodierte, der Airbag explodierte mit brutaler Wucht gegen ihre Brust. Schmerz schoss durch ihre Schulter, als der Sicherheitsgurt tief einschnitt.
Für eine desorientierte Sekunde herrschte Stille, unterbrochen vom Zischen des Motors und dem unerbittlichen Regen.
Emma keuchte und zwang sich, die Luft zurück in ihre Lungen zu atmen. Ihr Körper zitterte, als sie gegen die zerdrückte Tür drückte. Sie ächzte und gab dann nach.
Kalte Nachtluft strömte herein und brannte auf ihrer Haut. Sie stolperte hinaus, ihre Schuhe rutschten auf dem nassen Asphalt. Ihre Beine fühlten sich schlaff an, ihr schwirrte der Kopf.
Sie drehte sich zum anderen Auto um.
Durch die zerbrochene Heckscheibe sah sie weiße Spitze. Einen Schleier. Purpurrot breitete sich über Seide aus.
Die Braut war leblos auf dem Sitz zusammengesunken.
Emmas Knie gaben nach. Entsetzen durchfuhr sie. Sie taumelte zurück und schüttelte den Kopf, doch der Anblick brannte sich in ihre Augen.
Leise heulten Sirenen in der Ferne und durchschnitten den Regen.
Ihr Blickfeld verengte sich. Silberne Regenstreifen verschwammen zu nichts. Kalter Asphalt biss ihr in die Handflächen, als sie fiel. Der kupferne Geschmack von Blut füllte ihren Mund.
Ihr letzter Gedanke, scharf und gnadenlos, brannte sich in ihr fest: Ich habe sie getötet.
Dann wurde die Welt schwarz.