Matthias Falkenberg hatte Polizeistationen schon immer gehasst.
Selbst jetzt, als er unter flackernden Neonröhren saß und vom beißenden Gestank nach verbranntem Kaffee, Desinfektionsmittel und Verzweiflung umgeben war, biss er verächtlich die Zähne zusammen. Männer wie er gehörten nicht hierher. Männer wie er waren für Sitzungssäle geschaffen, für ausgedehnte Weinberge unter endlosem Himmel, für Penthouses aus Glas und Marmor – nicht für enge Räume, in denen Telefone, müde Beamte und die brüchigen Stimmen von Zivilisten widerhallten, die Erklärungen abgaben, die ihr Schicksal nie ändern würden.
Und doch war er hier.
Mit bewusster Präzision rückte er die Manschetten seines schwarzen Hemdes zurecht, darauf bedacht, sie nicht auf dem zersplitterten Holztisch zu zerknittern. Äußerlich ruhig, doch innerlich brodelte in seinem Kopf eiserne Berechnung. Der Wille seines Vaters schwebte wie ein Gespenst über ihm: Heirate mit dreißig, oder verliere alles.
Das Falkenberg-Imperium – jahrhundertealte Weinberge, deren Trauben zu flüssigem Gold gepresst wurden – hing von dieser Bedingung ab. Sein Erbe, sein Vermächtnis, alles, wofür er gekämpft hatte, wurde durch eine einzige Klausel bedroht.
Und nun, mit einer einzigen grausamen Wendung, war seine zukünftige Braut – die Frau, die alles sichern sollte – verschwunden.
Nicht durch einen Skandal. Nicht durch Verrat. In der Leichenhalle.
Er hatte den Nachmittag damit verbracht, ihre Leiche zu identifizieren. Aschfahl. Knochen gebrochen. Weiße Spitze purpurrot gefärbt. Sie war ein Mittel zum Zweck gewesen, nichts weiter: eine Transaktion, eine Vereinbarung zwischen zwei Familien. Ihr in Ungnade gefallener Vater würde seine Spielschulden erlassen bekommen, und im Gegenzug würde Matthias sein Erstgeburtsrecht behalten. Es hatte keine Illusionen von Liebe gegeben – nur Unterschriften, Geld und Bequemlichkeit.
Aber die Bequemlichkeit war tot, und sie auch.
Die Neonröhren summten. Das Geräusch grub sich wie ein Insekt in seinen Schädel. Seine Fäuste ballten sich auf dem Tisch.
„Mr. Falkenberg.“
Die Stimme kam aus dem Türrahmen. Matthias hob den Kopf.
Friedrich.
Tadellos gekleidet wie immer, das silberne Haar nach hinten gekämmt, sein Gesichtsausdruck undurchdringlich wie gemeißelter Stein. Friedrich war jahrelang sein Schatten gewesen, die Art von Mann, dessen Loyalität mehr wert war als Blut. Er verschwendete keine Worte, und Matthias verschwendete sein Vertrauen nicht an viele andere.
„Die Befragung des Fahrers ist abgeschlossen“, sagte Friedrich leise.
Matthias’ sturmgrauer Blick schärfte sich. „Bring sie her.“
Minuten später öffnete sich die Tür erneut.
Und sie trat ein.
Emma Weiss.
Er erkannte sie plötzlich. Er kannte sie – flüchtig. Sie war auf dem Gut aufgewachsen, als Tochter eines der leitenden Weinbergsaufseher seines Vaters. Als Mädchen hatte sie sich bescheiden und ehrgeizig verhalten, mit sanftem Lächeln und stiller Anmut, einer Präsenz, die höflich mit dem Hintergrund verschmolz.
Doch das Mädchen aus seinen Erinnerungen war verschwunden.
Jetzt entstellten blaue Flecken ihre Haut. Getrocknetes Blut krustete an ihrer Schläfe. Eine Polizeidecke lag um ihre Schultern, fest umklammert wie eine Rüstung. Doch ihre Augen …
Ihre Augen brannten.
Nicht vor Angst. Nicht vor Scham.
Vor Trotz.
Matthias musterte sie schweigend, ließ die Anspannung auf sich wirken, das Summen der Lichter füllte die Lücke zwischen ihnen. Sein Blick heftete sich auf sie, bis sie sich darunter bewegte, und erst dann zerschnitt seine Stimme die Luft – leise, kalt, tödlich ruhig.
„Haben Sie eine Ahnung, was Sie getan haben?“
Emma biss die Zähne zusammen. Ihre Stimme klang rau, rau vom Rauch und dem Schock. „Ich habe meine Aussage gemacht. Es war ein Unfall.“
Matthias erhob sich mit einer fließenden Bewegung, raubtierhaft und kontrolliert. Die Stuhlbeine quietschten über den Boden. Sein Schatten ragte über ihren, als er die Distanz überbrückte.
Bevor sie reagieren konnte, legte er ihre Hand um ihre Kehle – nicht fest genug, um sie zu würgen, aber fest genug, um sie an die Wand zu drücken, ihren Rücken gegen den kalten Gips gepresst.
„Ein Unfall?“ Seine Worte trieften vor Gift. „Du hast meine Verlobte umgebracht.“
Emmas Lippen öffneten sich, ihr stockte der Atem, doch ihr Blick blieb unverwandt. „Und du glaubst, ich wollte das? Warum sollte ich?“
„Beleidige mich nicht.“ Sein Griff wurde ein wenig fester, gerade genug, um ihr die Luft zu rauben. Seine Augen trafen ihre, sturmgraue Blitze durchfuhren sie. „Du bist Julians Freundin. Erwartest du von mir, dass das nicht geplant war?“
Der Name traf sie wie eine Klinge.
Julian.
Immer Julian.
Emmas Herz stockte. Die Anschuldigung war nicht nur grausam – sie war absurd. Doch dennoch schwebte der Schatten seines Namens zwischen ihnen und vergiftete alles.
Ein bitteres Lachen entfuhr ihren Lippen. „Die neue Schachfigur deines Bruders ist viel mehr wert, als ich es je war.“
Der Seitenhieb traf. Sein Kiefer spannte sich an.
Julian. Rücksichtslos, anspruchsvoll, von vielen geliebt, aber von niemandem vertraut. Matthias war sie seit seiner Kindheit ein Dorn im Auge. Der Gedanke, dass er hinter diesem Unfall die Fäden zog, war plausibel – unglaublich plausibel.
Doch Matthias’ Blick ruhte auf Emma. Geschunden. Erschöpft. Doch unbeugsam.
Keine Intrigantin. Keine Drahtzieherin. Sie wirkte weniger wie eine Feindin als vielmehr wie jemand, der in die Fänge von Wölfen geworfen worden war.
Die Tür knarrte auf. Friedrich erschien wieder, eine Mappe in der Hand.
„Sir“, sagte er mit leiser Stimme. „Das sollten Sie sich ansehen.“
Matthias ließ sie sofort los. Sie hustete und rieb sich den Hals, doch ihr Blick blieb unverwandt.
Friedrich legte die Mappe auf den Tisch. „Sie haben ihr Fahrzeug untersucht. Die Bremsen wurden manipuliert. Absichtlich.“
Emmas Augen weiteten sich. „Was?“
Matthias überflog den Bericht, seine Wut kühlte ab und wurde schärfer. Die Klinge der Berechnung. Jemand hatte das inszeniert. Jemand hatte gewollt, dass ihr Wagen außer Kontrolle geriet und sie mit seinem Hochzeitszug kollidierte.
Ein Name brannte sich in sein Gedächtnis ein.
Julian.
Er sprach ihn nicht laut aus. Er musste es nicht.
Emmas Stimme durchbrach die Stille. „Ich habe dir doch gesagt – ich wollte das nicht. Ich wusste nicht einmal –“
„Ich weiß“, sagte Matthias schließlich. Sein Ton war unleserlich, doch er durchschnitt ihre Panik wie Stahl.
Sie blinzelte. „Du … glaubst mir?“
Matthias antwortete nicht. Er griff einfach in den Ordner und zog ein knackiges Dokument heraus. Mit chirurgischer Präzision legte er es flach zwischen ihnen auf den Tisch.
Emma runzelte die Stirn. „Was ist das?“
„Ein Weg nach vorn.“ Seine Stimme klang entschlossen, kalt. „Für uns beide.“
Sie senkte den Blick. Ihr stockte der Atem.
Ein Ehevertrag.
Ihre Kehle war trocken. „Das kann nicht dein Ernst sein.“
„Oh, ich meine es sehr ernst.“ Er ließ einen Stift über den Tisch gleiten, das leise Kratzen hallte wie eine Drohung wider. „Unterschreib das, und du bist unantastbar. Keine Anklage. Keine Klagen. Kein Getuschel. Schutz, Reichtum, Macht. Alles, was du brauchst, um das zu überleben, was kommt. Und ich werde haben, was ich brauche.“
„Dein Erbe“, flüsterte sie.
„Das Testament meines Vaters ist sehr genau.“ Seine Worte waren abgehackt, gnadenlos. „Heirate oder verliere alles. Und wenn ich falle, gewinnt Julian.“
Emmas Atem beschleunigte sich.
„Du bittest mich, dich zu heiraten“, sagte sie vorsichtig.
„Nein.“ Er beugte sich vor, sein Schatten erstreckte sich über den Tisch, bis er sie ganz verschluckte. „Ich sage dir, du sollst mich heiraten. Du willst Rache, nicht wahr? An Julian? So bekommst du sie.“
Ihre Finger zitterten über dem Stift. Die Entscheidung war Wahnsinn. Gefährlich. Unwiderruflich. Und doch durchdrang unter ihrer Angst eine scharfe Klarheit:
Wenn Julian sie zum Schweigen bringen wollte, war die Heirat mit Matthias vielleicht die einzige Möglichkeit zu überleben. Und vielleicht die einzige Möglichkeit, die Wahrheit zu erfahren.
Emma biss die Zähne zusammen. Langsam und bedächtig griff sie nach dem Stift.
Der Vertrag verschwamm vor ihren Augen, doch sie zwang ihre Hand, ruhig zu bleiben. Mit jedem Tintenstrich band sie sich an einen Mann, den sie kaum kannte.
Matthias sah ihr zu, ohne mit der Wimper zu zucken. Als sie fertig war, faltete er den Vertrag zu einem perfekten Quadrat zusammen und steckte ihn in seine Jackentasche, als besiegelte er ein Schicksal.
„Du gehörst jetzt mir“, sagte er leise.
Ihre Augen blitzten, Wut sprühte in ihr, doch sie unterdrückte jede Erwiderung.
„Bring sie zum Auto“, wies Matthias Friedrich an. „Wir fahren nach Hause.“
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Die schwarze Limousine durchschnitt den Sturm. Scheinwerfer zerteilten die regennasse Straße, während Emma steif auf dem Rücksitz saß, die Stirn gegen die kalte Scheibe gepresst. Jeder Kilometer trug sie weiter weg von den Ruinen ihres alten Lebens, tiefer hinein in den Rachen von etwas, das sie noch nicht benennen konnte.
Das Gut Falkenberg ragte am Horizont auf, Jahrhunderte des Reichtums und der Rücksichtslosigkeit, in Stein gemeißelt. Seine Fenster leuchteten schwach, doch für Emma wirkten sie weniger wie Wärme, sondern eher wie wachsame Augen.
Drinnen, im großen Foyer, drängte sich schweigendes Personal. Ihre Blicke verweilten – neugierig, berechnend, manche sogar ängstlich. Geflüster blühte bereits wie Ranken: Die Braut war tot, und der Erbe hatte eine andere Frau an ihrer Stelle heimgebracht.
Matthias ignorierte sie. Seine Schritte waren lang, gebieterisch, gebieterisch. Emma folgte ihm, die Decke fester umklammernd, und spürte ihre Blicke auf ihrer Haut.
Sie gingen durch hallende, mit Eichenholz gesäumte Korridore, der Duft von Wein und alter Macht lag schwer in der Luft. Schließlich blieb Matthias vor einer schmalen, spiralförmig nach unten führenden Steintreppe stehen.
„Hier entlang“, sagte er knapp.
Emma zögerte. „Wohin gehen wir?“ „Der Keller.“
Ihr Magen zog sich zusammen. „Du … sperrst mich ein?“
Er antwortete nicht. Er stieg in die Dunkelheit hinab, seine Schritte hallten. Widerwillig folgte sie ihm.
Die schwere Tür öffnete sich ächzend und gab den Blick auf einen höhlenartigen Raum frei, der mit alten Rieslingflaschen und Eichenfässern gesäumt war. Die Luft war kühl, feucht, durchzogen vom Geruch der Erde. Dichte Schatten drückten sich an die Wände.
Es war kein Gefängnis. Aber es fühlte sich so an.
Emma drehte sich zu ihm um und hob das Kinn, trotz der Angst, die in ihrem Bauch kribbelte. „Glaubst du, das gibt mir Sicherheit?“
Matthias’ Blick durchbohrte sie, undurchdringlich. „Ich glaube, das hält euch nah.“
Ihre Blicke trafen sich. Für einen Moment – kaum ein Flackern – wurde etwas in seinen sturmgrauen Augen weicher. Bedauern vielleicht. Wiedererkennen. Doch es verschwand, bevor sie es benennen konnte.
Er trat näher, so nah, dass die kalte Luft vor Hitze zu vibrieren schien. Seine Stimme war leise, vertraut und gefährlich zugleich.
„Jetzt steckst du mittendrin, Emma. Es gibt kein Zurück.“
Ihr stockte der Atem. Doch dann – langsam, stetig – richtete sich ihr Rücken auf.
„Das hatte ich nicht vor.“
Ein gefährliches Lächeln umspielte seine Lippen.