Fünfzehn Jahre zuvor
Der Geruch von Rauch war Emmas erste Erinnerung – beißend und erstickend, dicht von brennendem Holz und geschmolzenem Plastik. Sie war sechs, zusammengerollt im Bett, die Welt hinter ihren Augenlidern glühte orange.
„Papa?“, flüsterte sie.
Keine Antwort.
Das Knacken von zersplitterndem Glas hallte durch die Hütte, gefolgt vom hungrigen Tosen der Flammen. Hitze drückte gegen ihre Tür, als wollte das Feuer selbst eindringen.
Emma kletterte aus dem Bett, ihr Stoffkaninchen in einem Arm. Ihre nackten Füße klatschten auf den Holzboden, der schon warm unter ihren Zehen war. Sie hustete, der Rauch kroch ihr in die Kehle und brannte in ihren Augen, bis Tränen ihre Sicht trübten.
„Papa!“
Der Flur erstreckte sich vor ihr, ein Tunnel aus Rauch und Funken. Ihre kleinen Beine zitterten unsicher, als eine Gestalt durch den Dunst brach.
Ein Schatten – größer als sie, kein Mann, aber auch noch kein Kind. Sein Gesicht war vom Ruß verschwommen, seine Züge verloren sich im Chaos. Er zögerte nicht. Mit einer schnellen Bewegung riss er sich die Jacke vom Leib und legte sie ihr um die schmalen Schultern.
„Halt durch“, sagte er mit heiserer, aber fester Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
Starke Arme hoben sie hoch. Sie umklammerte ihr Kaninchen fester und presste ihr Gesicht an seine Brust. Sein Herz hämmerte wie eine Trommel in ihrem Ohr, als er den einstürzenden Flur entlangraste.
Flammen loderten über ihnen, gierige Finger griffen nach unten. Balken stöhnten und splitterten unter der Hitze. Die Welt tobte, doch in ihrer Erinnerung hörte sie nur das dumpfe Geräusch seiner Schritte und den kratzigen Stoff seines rauchgetränkten Hemdes an ihrer Wange.
Die Haustür gab mit einem Krachen nach, und plötzlich verschluckte sie die Nacht – kalte Luft, scharf in ihren Lungen, Sterne fern und gleichgültig über ihnen. Er setzte sie auf dem frostigen Boden des Weinbergs ab. Seine Hände waren ungeschickt, aber vorsichtig, als er ihr die Glut aus dem Haar wischte.
„Bleib hier“, drängte er mit stoßweisem Atem. „Nicht bewegen.“
Sie schüttelte heftig den Kopf und umklammerte seinen Ärmel. „Papa ist noch da!“
Ein Ausdruck huschte über sein Gesicht – Angst, Wut oder vielleicht Trauer –, doch dann presste er die Zähne zusammen. Er riss sich los und verschwand zurück in der Hölle.
Emma drückte ihr Kaninchen an ihre Brust und wiegte sich auf den Fersen, während Schluchzer sie durchfuhren. Das Feuer färbte den Himmel orange und rot, Funken wirbelten empor wie verlorene Sterne. Die Zeit dehnte sich, jede Sekunde schwer wie Stein.
Endlich taumelte die Gestalt heraus und zog ihren Vater über die Schultern. Der Körper des Mannes hing schlaff herab, sein Kopf baumelte, Ruß verdunkelte sein Gesicht. Die Arme des Jungen waren versengt, seine Schritte unsicher, doch er blieb nicht stehen, bis ihr Vater zu Boden gelassen wurde.
Emma eilte auf zitternden Beinen vorwärts und kniete sich neben sie. Der Junge rang nach Luft, sein Gesicht war von Rauch und Flammen überschattet. Dann – wortlos – stemmte er sich hoch und stolperte zur Straße.
„Warte!“, rief sie und griff nach ihm.
Doch er war schon weg.
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Als Emma im Krankenhaus aufwachte, roch die Luft nach Desinfektionsmittel und Verbänden statt nach Rauch. Ein stetiges Piepen erfüllte den Raum, und neben ihr saß Julian Falkenberg.
Sein jungenhaftes Gesicht war blass, umrahmt von zerzaustem blondem Haar. Seine Hände zitterten, als er ihr das schweißnasse Haar aus der Stirn strich.
„Du bist jetzt in Sicherheit“, flüsterte er mit angespannter Stimme.
Ihre Kehle war zu wund, um zu sprechen, also umklammerte sie nur seine Hand. Er drückte zurück, fest und bestimmt, und in ihrem Kinderherzen kristallisierte sich die Wahrheit heraus: Julian war derjenige, der sie aus den Flammen gerettet hatte. Julian hatte dem Feuer getrotzt, um sie zu retten.
Er wies sie nie zurecht.
Von diesem Tag an war Julian ihr Held – der Junge, den sie vergötterte, der Junge, von dem sie glaubte, dass er nichts schuldete und doch alles gab.
Was Matthias, Julians älteren Bruder, betraf, so blieb er distanziert, kalt und undurchschaubar. Stets am Rande ihrer Welt, mit scharfem Blick und abgehackten Worten. Emma nahm an, es kümmerte ihn nicht. Sie hatte nie etwas anderes vermutet.
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Gegenwart
Das stetige Piepen des Herzmonitors erfüllte das Krankenzimmer, so stetig, dass es zu einer Art grausamem Schlaflied geworden war. Emma saß an Matthias’ Bett und strich mit der Hand leicht über die Verbände, die um seine Finger gewickelt waren. Die sterilen weißen Wände, das leise Summen der Leuchtstoffröhren, der Geruch des Desinfektionsmittels – das war seit Wochen ihre Welt.
Die Erschöpfung lastete auf ihren Knochen, doch sie weigerte sich zu gehen. Nicht ein einziges Mal.
Manchmal flüsterte sie ihm in der Stille zu – Geschichten über ihre Tochter, über die Weinberge, über das Meer vor ihrer Villa. Manchmal saß sie einfach nur schweigend da und beobachtete, wie sich seine Brust hob und senkte.
Und dann – Bewegung.
Seine Finger zuckten an ihren.
Emma erstarrte, ihr stockte der Atem. „Matthias?“, flüsterte sie und beugte sich vor. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie dachte, es könnte den Monitor übertönen.
Seine Lider flatterten auf. Graue Augen, stürmisch und desorientiert, blinzelten im Licht. Einen Moment lang verdunkelte Verwirrung sein Gesicht. Dann fiel sein Blick auf sie.
„Warum … bist du hier?“ Seine Stimme war rau, Misstrauen durchzog jede Silbe.
Ihre Kehle schnürte sich zu, die Worte verhedderten sich. „Du bist wach“, hauchte sie.
Aber er ließ nicht nach. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, seine scharfen Augen musterten ihr Gesicht, als suchten sie nach einer Täuschung. „Warum bist du hier?“
Sie schluckte schwer. „Ich bin deine Frau.“
Die Worte schienen zwischen ihnen zu fallen wie Steine ins Wasser und tief zu versinken.
Er runzelte die Stirn. „Meine … Frau?“
„Ja.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihr Puls raste. „Wir sind verheiratet.“
Verwirrung flackerte in seinen Augen auf und verhärtete sich zu etwas Kälterem. Er holte flach Luft, sein Blick wanderte zum Fenster. „Das Letzte, was ich weiß …“ Seine Stimme brach vor Schwäche. „Du warst Julians Freundin.“
Die Worte trafen sie wie Glas.
Emmas Brust zog sich zusammen, aber sie behielt ihre Stimme ruhig. „Das ist lange her.“
Er drehte den Kopf wieder zu ihr, und trotz seiner Gebrechlichkeit schärfte sich sein Blick vor Misstrauen. „Ich … erinnere mich nicht daran. An nichts davon.“
„Du lagst monatelang im Koma“, erklärte sie leise. „Deine Erinnerung – es kann eine Weile dauern, bis sie zurückkommt.“
Sein Kiefer spannte sich an, ein leises Echo des Falkenberg-Stahls, den sie so gut kannte. „Warum hast du mich nicht verlassen?“
Emma erstarrte. Dutzende Antworten brannten ihr auf der Zunge. Weil ich dich liebe. Weil du der Vater unseres Kindes bist. Weil es mich umbringen würde, wegzugehen. Doch was herauskam, war einfacher, leiser.
„Weil ich Menschen, die mir wichtig sind, nicht verlasse.“
Einen Moment lang sah er sie nur an, seine sturmgrauen Augen suchten und durchbrachen ihre Abwehr, als könnte er die Schichten darunter sehen. Und dann huschte sein Blick, nur für einen kurzen Augenblick, in die Ecke des Zimmers, in der das Kinderbett eines Jungen stand. Höchstens zehn Monate alt – ein ganzes Leben, an das er sich nicht erinnerte. Misstrauen schlich sich ein, leise, aber giftig: War dieses Kind seins oder war es ein weiteres Geheimnis, das mit Julian verbunden war?
Und dann, mit sichtlicher Anstrengung, wandte er sich ab und zog sich hinter seine Mauern zurück.
„Du solltest gehen“, sagte er schließlich mit schwacher Stimme. „Du musst nicht bleiben.“
Emma richtete sich auf, ihre Hände zitterten, aber ihre Stimme war fest. „Ich gehe nirgendwo hin.“
Er öffnete die Lippen, doch der Schlaf übermannte ihn, bevor er antworten konnte. Seine Augen schlossen sich, sein Atem beruhigte sich, und im Raum versank erneut Stille – nur der Monitor, nur ihr Herzschlag.
Emma lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, stille Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie griff wieder nach seiner Hand, ihre Finger verschränkten sich sanft mit seinen bandagierten.
Matthias erinnerte sich nicht an sie. In seinem zerbrochenen Gedächtnis gehörte sie immer noch zu Julian, lebte immer noch im Schatten einer Liebe, die vor Jahren gestorben war. Aber Emma kannte die Wahrheit. Und sie würde nicht gehen – nicht von seiner Seite, nicht aus dem Kampf, der noch vor ihm lag.
Eines Tages würde seine Erinnerung zurückkehren. Eines Tages würde die Wahrheit über das Feuer, die Lawine und Julians Pläne ans Licht kommen.
Bis dahin würde sie warten.
Und sie ließ nicht los.