Paiges Perspektive
„Ich weiß, was du getan hast, Greg“, sage ich, als ich am nächsten Morgen herunterkomme und ihn am Esstisch eine Schüssel Müsli essen sehe.
Die Worte sind kaum über meine Lippen gekommen, da verzieht sich sein Gesicht schon zu einer bitteren Miene. Er schaut mit dem Löffel auf halbem Weg zu seinem Mund zu mir auf.
„Ja? Und was glaubst du, habe ich gemacht?“, fragt er spöttisch.
Ich lasse sein Arbeitshandy vor ihm auf den Tisch fallen. Auf dem Bildschirm leuchten noch mehr Nachrichten auf. Ihr Name. Ihr Gesicht. Die Nachrichten.
Leanne: „Guten Morgen, mein Hübscher.“
Leanne: „Ich vermisse deine Berührung.“
Leanne: „Heute Abend, nachdem sie eingeschlafen ist?“
Leanne: „Durch dich fühle ich mich endlich wieder lebendig.“
Lebendig! Ich sterbe hier einen langsamen Tod, während er dafür sorgt, dass eine andere Frau sich wieder lebendig fühlt!
„Liebst du sie?“ Meine Stimme bricht ein wenig. Ich hasse es! Ich hasse, wie klein und schwach ich klinge!
Greg starrt das Handy an, als wäre es eine Waffe, und vielleicht ist es das auch. Denn ich bin endlich fertig damit, die gutmütige Närrin zu spielen, die trotz all der Vernachlässigung immer lächelnd sein Chaos beseitigt hat.
„Sie bedeutet mir nichts“, seufzt er. „Es ist kompliziert.“
„Nein!“ Ich trete einen Schritt zurück und schlinge meine Arme um mich selbst, damit ich nicht versucht bin, ihm die Schüssel an den Kopf zu werfen. „Es ist eigentlich ganz einfach. Du hast gelogen. Du hattest s*x mit ihr, während ich mich um Jaxon gekümmert und hart gearbeitet habe, um dieses Haus zu bezahlen. Und währenddessen habe ich nie den Glauben daran verloren, dass wir unsere Ehe noch retten könnten.“
Eine schwere Stille legt sich über den Raum.
„Ich brauchte jemanden für mich, Paige“, sagt er. „Du warst, ach verdammt, du warst, seit ich dich getroffen habe, eigentlich nie wirklich hier. Du hast mich nie wirklich an dich herangelassen, weil du immer an Geistern festgehalten hast. Weil du immer auf die Rückkehr deines kostbaren Ryder gewartet hast.“
Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, schließe ihn dann aber wieder. Hat er recht? Ist das alles meine Schuld?
„Du hast recht“, erwidere ich. „Vielleicht habe ich an dem Mädchen festgehalten, das ich einmal war. An den Stücken, die ich versucht habe zusammenzukleben. An der Hoffnung, dass du lernen könntest, mich so zu lieben, wie ich bin. Ich werde niemals die Person sein, die du aus mir formen willst! Und mein Sohn auch nicht!“
„Mama!“, erklingt Jaxons Stimme leise von oben und ich drehe mich um, um zu gehen.
„Wohin gehst du?“, fragt Greg, während sein Stuhl über den Boden kratzt, als er aufsteht.
„Irgendwohin, wo wir atmen können. Weit weg von dir und dieser Lüge. Ich will die Scheidung!“
Dann gehe ich nach oben und packe zwei Reisetaschen für mich und Jax. Greg macht sich nicht einmal die Mühe, irgendetwas zu sagen, um uns aufzuhalten. Er versucht nicht einmal, sich zu entschuldigen. Dann gehe ich zur Tür hinaus und verlasse das Leben, das ich mir hier aufgebaut hatte.
Jax ist still, während wir vom Haus wegfahren, und ich werfe im Rückspiegel einen Blick auf ihn. Seine Augen sehen besorgt aus, während er sein Kuscheltier, das ein kleiner grauer Wolf ist, an seine Brust drückt. Er spürt, dass etwas nicht stimmt, und ich finde es wirklich schrecklich, dass auch er unter Gregs Handlungen leiden muss.
„Wie wäre es, wenn wir beim Café anhalten und Pfannkuchen zum Frühstück essen?“, frage ich.
„Kommt Greg auch mit?“
„Nein, Schatz, nur wir beide. Wir werden ein kleines Abenteuer erleben“, sage ich und versuche, so fröhlich wie möglich zu klingen.
„Wohin fahren wir denn?“
„Wir werden ab jetzt in der Nähe von Tante Poppy wohnen“, sage ich mit einem Lächeln, aber Jaxons Augen füllen sich mit Tränen. „Es wird alles gut, mein Schatz. Das verspreche ich dir“, sage ich und versuche, ihn zu beruhigen.
„Aber was ist mit meinen Freunden und Oma und Opa?“, fragt er leise.
„Du wirst viele neue Freunde finden. Und Oma und Opa werden im Geiste bei uns sein. Sie wachen immer über dich.“
Während Jaxon dann seine Pfannkuchen isst, führe ich ein paar Telefonate. Der Vermieter des Hauses, das Poppy mir vermittelt hat, ist sehr verständnisvoll bezüglich unserer Situation und stimmt zu, dass wir noch heute einziehen können.
Poppy hatte recht. Es ist tatsächlich ein niedliches Haus. Ich hatte nur die Bilder online gesehen, die sie mir geschickt hatte. Aber ich vertraute Poppy, als sie sagte, es sehe in der Realität genauso aus, wie die Bilder es gezeigt hatten.
Es ist kleiner als unser jetziges Haus, aber einfach perfekt für mich und Jax. Ich konnte nicht viele Informationen über die Stadt finden, aber die örtliche Schule sieht wunderbar aus. Nach meinem Telefongespräch mit der Schulleiterin denke ich, dass Jaxon dort aufblühen wird. Direkt morgen Nachmittag werden wir die Schule besuchen und uns alles ansehen.
Nach dem Frühstück gehen wir in den Blumenladen nebenan und ich lasse Jax seine Lieblingsblumen aussuchen, während ich etwas Lavendel und blaue Rosen auswähle und sie dem Strauß hinzufüge, den ich auf das Grab meiner Eltern legen werde.
Meine Gedanken schweifen zurück zu Ryder. Er schenkte mir oft einzelne Rosen in unterschiedlichen Farben und erklärte mir dann, was jede einzelne Farbe bedeutete. Beim Bezahlen bemerke ich ein paar schwarze Rosen und nehme mir eine.
„Möchten Sie diese auch dem Strauß hinzufügen?“, fragt die Floristin.
„Nein, danke. Diese möchte ich separat kaufen.“
Etwas später kommen wir am Friedhof an und Jax legt die Blumen auf den Grabstein meiner Eltern. Jaxon war erst einen Tag alt, als sie starben, aber ich habe immer dafür gesorgt, dass er von ihnen wusste. Sie waren bei einem schrecklichen Autounfall gestorben, während ich noch im Krankenhaus lag, nachdem ich entbunden hatte.
Bis zu jenem Tag hatte ich immer gedacht, Ryder zu verlieren, wäre das Schlimmste, was mir passieren könnte. Meine Eltern waren die Besten. Sie unterstützten mich während meiner Schwangerschaft und während ich um Ryder trauerte. Mein Herz schmerzt immer noch, weil sie meinen Sohn nicht kennenlernen konnten. Sie hätten Jaxon geliebt und es macht mich extrem traurig, dass er nie eine Beziehung zu ihnen haben konnte. Außerdem könnte ich momentan wirklich die Unterstützung meiner Mutter gebrauchen. Ich weiß, dass sie mir ein paar weise Worte anbieten würde, die mich und Jaxon in eine bessere Zukunft führen würden.
Nach einiger Zeit auf dem Friedhof steigen wir zurück ins Auto und sind bereit, diese Stadt zu verlassen und unser neues Leben zu beginnen. Ich habe nur noch einen letzten Stopp zu absolvieren.
Ich parke vor dem freistehenden Bungalow, Ryders altem Haus, und Erinnerungen überwältigen mich. Ich war seit Jahren nicht mehr hier gewesen, nicht seit ich Greg getroffen habe. Diesen Ort zu besuchen, fühlte sich an, als würde ich ihn betrügen. Leider ist seine Hingabe zu mir nun verblasst.
Der einst wunderschön gepflegte Garten ist jetzt überwuchert und die Farbe blättert vom kleinen Eisentor am Eingang ab. Das Haus sieht aber immer noch unberührt aus.
„Wer wohnt hier, Mama?“, fragt Jax.
„Hier hat dein Papa gelebt, bevor er verschwunden ist“, antworte ich ehrlich.
Obwohl er nicht alt genug ist, um es vollständig zu verstehen, habe ich Jaxon nie die Wahrheit verheimlicht. Ich wollte nicht, dass er aufwächst und denkt, sein Vater hätte ihn nicht gewollt.
„Glaubst du, er könnte sich noch hier verstecken? Wir könnten versuchen, ihn zu suchen. Vielleicht ist er unter seinem Bett. Ich verstecke mich immer unter meinem Bett, wenn ich Angst habe“, sagt Jax und ich lächle über seine Naivität.
„Nein, mein Kleiner, er ist nicht da drin“, seufze ich und schnalle meinen Sicherheitsgurt ab.
„Kann ich mitkommen?“, fragt Jaxon, als ich aus dem Auto steige.
„Klar“, erwidere ich, öffne seine Tür und helfe ihm aus seinem Sitz, bevor ich die einzelne schwarze Rose vom Beifahrersitz nehme.
Die verrosteten Scharniere des Eisentores quietschen, als ich versuche, es zu öffnen. Ein weiteres Zeichen dafür, dass hier seit Jahren niemand mehr war. Ich hatte erwartet, dass das Haus inzwischen verkauft worden wäre. Dass dieses Haus immer noch leer steht, macht die ganze Sache nur noch rätselhafter.
Ich gehe Hand in Hand mit Jax zur Tür. Schmetterlinge flattern in meinem Magen, genau wie beim ersten Mal, als ich diesen Weg entlangging, um vor unserem ersten Date an dieser Tür zu klopfen. Ryders Eltern waren damals nicht zu Hause gewesen und er hatte mich eingeladen, einen Film mit ihm zu schauen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie mir der Atem stockte, als er die Tür öffnete und mich seine stechend blauen Augen fesselten.
Zuerst saßen wir unbeholfen an den gegenüberliegenden Enden der Couch und teilten uns eine Tüte Popcorn. Während der Film lief, rückten unsere Hände langsam näher zusammen, bis sich unsere Finger berührten. Jener leichte Kontakt ließ mein Herz rasen und ich wusste in jenem Moment, dass Ryder jemand Besonderes für mich sein würde.
Bei niemandem habe ich mich jemals wieder so gefühlt wie damals bei Ryder. Jede seiner Berührungen fühlte sich wie ein beruhigender Balsam an. Seine Küsse fühlten sich an, als würden sie meine Seele elektrisch aufladen. Und seine Umarmungen waren wie ein undurchdringlicher Schild. So sicher fühlte ich mich in seinen Armen.
Dann zieht Jaxon seine Hand aus meiner und reißt mich aus meiner Erinnerung, die sich in meinem Kopf abgespielt hatte. Er tritt auf die Türschwelle und legt eine Hand flach auf die Tür, während er die Augen schließt.
„Er ist nicht hier“, seufzt er und tritt zurück, um wieder meine Hand zu nehmen.
Ich beuge mich hinunter und lege die Rose auf die Türschwelle.
„Was bedeutet die schwarze Rose?“, fragt Jax.
„Sie steht für Macht, Stärke und Hoffnung. Sie kann aber auch Mitgefühl oder das Ende einer Beziehung bedeuten“, erkläre ich und bin froh, dass ich ihm ein Stück der Überzeugungen seines Vaters mitgeben kann.
Ich werfe einen letzten Blick auf das Haus, dann drehe ich mich um und gehe. Ich schließe nun das Kapitel dieses Lebensabschnitts. Es ist an der Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und alle Geister loszulassen. Jetzt können wir endlich anfangen, in die Zukunft zu schauen. Ich kann nur hoffen, dass sie gnädiger zu mir sein wird als die Vergangenheit.
Als wir die Stadtgrenze überqueren, schaue ich in meinen Rückspiegel. Wir waren hier eine Weile lang glücklich, aber jetzt steht dieser Ort nur noch für Verrat und Traurigkeit. Es ist an der Zeit, neue Erinnerungen an einem neuen Ort zu schaffen.