Der Sandsack gab bei jedem Schlag ein dumpfes Geräusch von sich, als würde er immer weniger bereit sein, zurückzuschlagen. Lennox Graves’ Arme bewegten sich in müden, mechanischen Rhythmen. Eins–zwei, zurücktreten, Körpertreffer, noch ein Haken. Die Bewegungen waren präzise—zumindest in den ersten Minuten. Doch dann veränderte sich etwas. Sloane beobachtete vom Rand des Rings. Sie sah, was sonst niemand bemerkt hätte: die feine, zitternde Spannung in Lennox’ Schultern, den leicht zu heftigen Jab mit der Linken, den verzögerten Rhythmus seiner Rückbewegung.
Das war kein Training mehr. Das war unterdrückte Wut, die an Intensität gewann. Sloane trat näher. Sie sprach noch nicht. Die Luft um sie herum schien schwerer zu werden. Lennox bemerkte es nicht—oder es war ihm egal.
Der nächste Schlag hatte nichts mehr mit Technik zu tun. Es ging nur um Entladung. Das Geräusch war anders. Der Sandsack donnerte scharf, und die Ketten über ihm gaben ein metallisches Knarren von sich, als er hin- und herschwang.
„Lennox“, sagte Sloane leise, aber warnend. Er reagierte nicht. Er schlug einfach weiter.
„Lennox“, wiederholte sie jetzt fester. „Hör auf. Das ist nicht das, was wir vereinbart haben.“
Die Antwort war ein weiterer Schlag. Noch härter. Sein Gesicht zeigte keine Wut—sondern etwas Tieferes. Abkopplung. Blindheit. Als hätte sich etwas aus seiner Vergangenheit in die Gegenwart geschlichen, und jeder Schlag galt nicht dem Sandsack, sondern etwas, das er nicht vergessen konnte.
Sloane handelte instinktiv. Sie trat vor, um den Sack von der Seite zu stabilisieren. Eine Hand griff hoch, um ihn aufzuhalten, bevor er zurück gegen Lennox schwingen konnte—doch er war bereits mitten im Schlag. Und dann geschah es. Sein linker Arm, schnell, instinktiv, unkontrolliert... traf sie. Nicht absichtlich. Aber direkt an der Schulter. Die Kante seines Handschuhs erwischte sie voll. Ihr Körper taumelte einen Schritt zurück.
„Verdammt“, zischte Sloane und griff reflexartig nach ihrer Schulter.
Der Raum verstummte. Der Sandsack schwang weit aus, dann langsam zurück ins Zentrum. Lennox erstarrte mitten in der Bewegung, sein Brustkorb hob und senkte sich heftig, die Augen weit aufgerissen.
„Du…“ flüsterte er heiser. „Ich wollte nicht…“
Sloane hob die Hand, um zu signalisieren, dass sie in Ordnung war. Doch ihr Gesichtsausdruck war nicht ruhig. Zum ersten Mal zeigte sich etwas in ihrem Gesicht, das sie sonst verbarg: Schmerz—und darunter… Angst. Nicht vor dem Schlag. Sondern die Angst, dass dies in ihm lebte.
Lennox trat einen Schritt zurück. Seine Handschuhe hingen schlaff an den Seiten, wie zwei schwere, nutzlose Gewichte. Die Luft um ihn herum schien zu zittern, und sein Gesicht war blasser, als man es je gesehen hatte.
„Ich habe es nicht gewollt“, sagte er leise. „Ich schwöre, Sloane… es war keine Absicht.“
Sie hielt sich noch immer die Schulter. Das Pochen ließ schon langsam nach, doch ihre Bewegungen waren jetzt zurückhaltender. Sie atmete tief durch.
„Ich weiß“, sagte sie schließlich, ihre Stimme kalt und klar. „Aber es ist trotzdem passiert.“
Stille. Der Ventilator an der Wand sprang an, als wolle er sie daran erinnern, dass die Welt sich weiterdrehte. Doch am Rand des Rings, in diesem stillen Moment, brach etwas.
Und etwas anderes… begann.
Sloane trat zurück. Ihre linke Schulter pochte dumpf, als hätte der Schlag nicht nur Gewebe getroffen, sondern etwas Tieferes angerührt, etwas Aufgewickeltes. Es war nichts gebrochen. Kein Blut. Aber die Berührung—die Wucht des Handschuhs gegen ihre Haut—sie war da. Das Schlimmste war nicht die Kraft. Sondern die Tatsache, dass es passiert war. Lennox stand wie eingefroren. Seine behandschuhten Hände zitterten—nicht vor Erschöpfung, sondern vor Ekel vor sich selbst. Kein Schlag war je so tief gelandet. Nicht so. Nicht bei jemandem, der unbewaffnet war. Jemandem, der keine Bedrohung war.
Jemandem, der… auf ihn achtzugeben versuchte.
„Sloane…“ begann er, leise und rau, doch sie hob die Hand, um ihn zu stoppen.
„Nicht“, sagte sie. Ihre Stimme war wie Eis, das auf der Schneide einer Klinge tanzte. „Kein Wort.“
Lennox schloss den Mund. Seine Kehle war trocken. Seine Beine bewegten sich nicht. Er stand wie ein Verurteilter, unsicher, was mehr wehtat: die Strafe oder die Schuld. Sloane senkte langsam die Hand von ihrer Schulter. Etwas Klinisches lag in der Bewegung. Sie umklammerte die Verletzung nicht, prüfte nicht den Schaden. Sie war nicht der Typ, der Schwäche zeigte. Schon gar nicht vor ihm.
„Erstens“, begann sie, scharf ausatmend, „wenn du mich noch einmal schlägst—egal ob Unfall, Instinkt oder Reflex—bin ich weg. Das Training. Die Tour. Alles.“
„Ich wollte… ich wollte es nicht“, versuchte Lennox erneut, doch ihre Stimme schnitt ihn ab.
„Mir ist völlig bewusst, dass du es nicht wolltest. Aber du hast es trotzdem getan.“
Die Stille drängte sich zwischen sie, schwer und metallisch. Das Surren des Ventilators hallte zu scharf von den Wänden wider, wie ein Gedanke, der sich zu schnell dreht und keinen Ausweg findet.
Sloane ging zum Sandsack hinüber und blieb daneben stehen. Sie legte ihre Handfläche auf das Leder, dort, wo der Handschuh getroffen hatte. Es war keine schmerzhafte Geste—eher eine Erinnerung. An das, was sie hatte vermeiden wollen, aber doch geschah: Körper und Wut, die kollidierten.
„Deshalb lasse ich dich nicht volle Kraft gehen“, sagte sie leise und starrte den Sack an. „Deshalb gibt es Regeln. Deshalb bitte ich dich, dich an Tempo, Atmung, Richtung zu halten. Weil du gefährlich bist, wenn du die Kontrolle verlierst.“
Lennox bewegte sich immer noch nicht. Sein Atem war schwerer, aber seine Stimme hielt er unter Kontrolle. Er sah Sloanes Rücken an—nicht mit reumütiger Zärtlichkeit, sondern mit jener schmutzigen Spannung, die er seit seiner Kindheit in sich trug. Die wie ein Daueralarm in seinem Blut kreiste.
„Ich hätte zurückziehen müssen“, murmelte er. „Ich wusste, dass ich kippte. Aber… ich konnte nicht aufhören. Wenn es einmal anfängt, hört es nicht mehr auf. So ist es eben.“
„So ist es nicht, Lennox“, Sloane drehte sich um, ihre Stimme plötzlich scharf und fest. „Das ist eine Entscheidung. Jedes einzelne Mal. Dein Körper bewegt sich nicht von selbst. Du fängst an. Du hörst nicht auf. Und wenn du zu feige bist, das zu kontrollieren, dann gehörst du nicht in den Ring. Dann gehörst du nicht unter Menschen.“
Die Worte trafen ihn. Härter, als er je geschlagen hatte.
„Wie kannst du es wagen“, zischte Lennox und trat einen Schritt auf sie zu. „Du weißt nichts über mich. Du hast keine Ahnung, was in meinem Kopf vorgeht. Für dich sind es nur Daten und Herzfrequenzen. Ich bin nur eine Fallstudie, nicht wahr?“
„Für mich bist du ein Patient. Einer, der sein Leben jeden Tag beenden könnte, wenn er nicht lernt, sich zu regulieren“, schoss sie zurück. „Und ich bin diejenige, die versucht, dich davon abzuhalten, eines Tages jemand anderen zu schlagen—nicht aus Versehen.“
Das letzte Wort fiel mit leiser Wucht. Sie schrie nicht. Sie erhob nicht ihre Stimme. Und gerade deshalb war es gefährlicher. Weil darin diese kalte, unendliche Logik lag. Beruflicher Abscheu, gehüllt in Rüstung.
Lennox ballte seine behandschuhten Fäuste.
„Du verstehst mich nicht. Du wirst mich nie verstehen.“
„Ich muss dich nicht verstehen“, sagte Sloane kühl. „Das ist nicht meine Aufgabe. Aber dich einzudämmen? Das ist es. Und wenn du nicht kooperierst, dann endet unsere Zusammenarbeit. Sofort. Dein Körper ist noch nicht zusammengebrochen, Lennox—aber das, was in ihm tobt… das könnte dich jeden Moment unterziehen.“
Sein Atem stockte. Seine Augen waren noch immer eisblau, aber nicht kalt—verhangen. Wie ein Strudel, der keinen Kurs findet.
Sloane war bereits auf dem Weg zum Ausgang. Ihre Schulter war noch geschützt, auch wenn sie es nicht zeigte. Ihre Haltung wankte nicht. Als sie an ihm vorbeiging, murmelte Lennox leise:
„Ich habe nicht um deine Hilfe gebeten.“
Sloane blieb stehen. Drehte sich nicht um.
„Und ich habe nicht darum gebeten, geschlagen zu werden.“
Dann ging sie hinaus.
Und das Geräusch der Tür war lauter als der Schlag. Die Stille im Flur wirkte erdrückend. Sloane zog ihre Jacke enger um die Schulter, während sie durch den Seitenkorridor von PowerCore ging, vorbei an den Spinden, dem Waschraum, der Videozentrale. Sie hinkte nicht, stolperte nicht, doch in jedem Schritt lag eine Spur von Steifheit. Der Schmerz war nicht stechend—aber der Moment spielte sich immer wieder in ihrem Kopf ab.
Es war nicht der körperliche Schlag, der am meisten schmerzte. Das war nur ein Aufblitzen, Schwung gegen Muskel. Das eigentliche Trauma war der Ausdruck in Lennox’ Gesicht, kurz bevor er die Kontrolle verlor. Dieses blinde, vertraute Gesicht. Der Moment, in dem ein Mensch in sich selbst verschwindet.
Sie kannte ihn. Zu gut. Sie blieb vor Marcus’ Büro stehen. Zwei Klopfer. Fest, aber ruhig. Eine Sekunde später rief eine Stimme von innen:
„Ist offen.“
Die Tür knarrte leise. Sloane trat ein. Marcus saß über seine Notizen gebeugt, Kaffeetasse in der Hand, sein Schreibtisch akribisch ordentlich, bis zur Sterilität. Als er Sloanes Gesicht sah—und die Art, wie sie ihre linke Schulter leicht steif hielt—stand er sofort auf.
„Was ist passiert?“
„Keine Fraktur“, sagte Sloane schnell. „Nur ein schlecht getimter Treffer. Reflexartig.“
„Lennox?“ fragte Marcus, obwohl er die Antwort schon wusste.
Sloane nickte.
„Nicht absichtlich. Der Sandsack schwang zurück, und er war schon in Bewegung. Hat meine Schulter erwischt.“
Marcus atmete aus. „Setz dich. Lass mich nachsehen.“
Sloane setzte sich langsam auf die Untersuchungsliege, bemüht, nicht zu viel Schwäche zu zeigen—doch ihr Gesicht war ohne Maske. Kein Schmerz. Enttäuschung. Über ihre eigenen Grenzen. Über ihre Kontrolle. Über Lennox.
Marcus öffnete ihren Reißverschluss, schob vorsichtig das Oberteil beiseite, um an die Schulter zu kommen.
„Heb den Arm zur Seite. Langsam.“ Seine Stimme war ruhig, aber ungewöhnlich aufmerksam. „Wo spürst du es?“
„Seitlicher Deltamuskel, Ausstrahlung zum Schulterblatt“, antwortete Sloane nüchtern. „Stumpfes Trauma, höchstwahrscheinlich. Kein tiefer Muskelriss.“
„Verstehe.“ Marcus’ Finger glitten sanft über den Muskel, prüften auf Schwellung. „Manche Bereiche lassen sich nicht zähmen. Er ist genau so.“
„Das geht über mangelnde Kontrolle hinaus“, murmelte Sloane, den Blick an die Wand gerichtet. „Das ist Instinkt. Tiefsitzender Reflex. Und heute hat dieser Reflex mich getroffen.“
„Und du?“ fragte Marcus—nun nicht mehr nur nach der Verletzung.
Sloane schwieg einen Moment. Dann seufzte sie.
„Ich bin am Ende meiner Geduld. Nicht weil er aggressiv ist. Sondern weil er nicht vorankommt. Ich bin jede Stunde da, leite, beobachte, deeskaliere—und nichts. In dem Moment, in dem er allein in seinem Kopf ist, kippt er. Heute hätte er mich fast mitgerissen.“
Marcus zog ihr Oberteil behutsam wieder zurecht. Ihre Schulter war gerötet, aber nicht geschwollen.
„Kühlung, Ruhe, mobil halten“, sagte er. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und wartete. Er wusste, dass sie nicht nur wegen der Behandlung gekommen war. Lange warten musste er nicht. Sloane hob den Blick und sagte etwas, das sie selten tat:
„Ich will dich bei den nächsten Trainingseinheiten dabei haben. Mit mir. Aktiv.“
Marcus war nicht überrascht. Aber die Art, wie sie es sagte—das schon. Sie befahl nicht. Sie forderte nicht. Sie bat.
„Lennox respektiert keine Autorität—nur das, was er respektiert. Und das bin nicht ich. Noch nicht. Aber er hat Angst vor dir. Und vielleicht ist das genau das, was jetzt gebraucht wird. Ein dritter Punkt. Jemand, der ihn zurückholt, bevor er wieder die Kontrolle verliert. Über sich. Und über mich.“
Marcus dachte darüber nach. Er drehte seine Kaffeetasse in den Händen.
„Willst du bleiben?“
Sloane zögerte nicht.
„Ich kann es mir nicht leisten, auszusteigen. Denn wenn ich jetzt gehe, ist niemand da, um ihn auf Kurs zu halten. Und dann scheitert er nicht wegen des Schlages. Er scheitert wegen seines eigenen Geistes.“
„Und das willst du verhindern?“
„Nicht für ihn“, sagte Sloane leise. „Für mich. Denn wenn ich aufgebe, obwohl es noch eine Chance gibt… werde ich mir das nie verzeihen.“
Stille. Nur das Ticken der Uhr erfüllte den Raum. Schließlich nickte Marcus.
„Ich werde morgen früh da sein.“
Sloane stand auf. Sie richtete ihre Jacke, und trotz des Schmerzes blieb ihre Haltung fest.
„Danke“, sagte sie schlicht.
Dann ging sie hinaus. Hinter ihr hatte sich die Welt nicht verändert. Nichts war leichter geworden. Lennox war nicht berechenbarer. Ihre Schulter schmerzte noch, die Wut pochte weiter. Aber die Last—war nun geteilt.
Und das war etwas.