Andreas Sicht
Alle Augen waren auf mich gerichtet, und ich hatte keine andere Wahl, als den Raum zu betreten. Mein Blick wanderte sofort zum anderen Ende, wo er stand – grübelnd wie ein dunkler Engel. Er sah immer noch genauso aus wie früher: wütend, rebellisch und arrogant. Wie hatte ich nur erwartet, dass er sich ändern würde? Mir sank das Herz, und ich fühlte mich, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden.
Seine blauen Augen trafen meine, und mein Herz raste. Ich versteifte mich, als sein Blick sich in meinen bohrte. Mein Atem stockte an meinem Schlüsselbein. All die Erinnerungen schossen mir in diesem Moment durch den Kopf. Sie machten mich schwindlig, verletzt und taub vor Sehnsucht. So viele Jahre waren zwischen uns vergangen, und doch kämpfte ich darum, die Gefühle zu verbergen, die mir die Kehle zuschnürten. Der Grund war offensichtlich: Ich liebte ihn mit allem, was ich besaß. Trotz seiner Zurückweisung hatte ich es nicht geschafft, von ihm loszukommen.
War er wirklich hier? Die kurzen schwarzen Haare, die dichten dunklen Brauen, die langen, geschwungenen Wimpern, das markante Gesicht und die vollen Lippen – alles war noch genauso wie damals. Er war immer noch der schönste Mann der Welt. Nur gehörte er nicht mir.
„Andrea! Du hast mich warten lassen!“ Sein zweischneidiges Eingeständnis riss mich zurück in die Realität, und ich bemühte mich, unbeeindruckt zu wirken. Er hatte sich kein bisschen verändert. Das Spiel mit Worten und Gefühlen war schon immer seine Stärke gewesen. Ich wusste genau, worauf er anspielte. Ich war in jener schicksalshaften Nacht vor fünf Jahren verschwunden, nachdem er mich beleidigt hatte, als ich ihm meine Schwangerschaft gestand.
Noch mehr schmerzte es, dass er einen Monat nach meiner Abreise heiratete – nur um sich ein Jahr später wieder scheiden zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich aufgehört, ihn im Auge zu behalten, mich an den Kreuzungen wieder aufzurappeln und mein Leben zu leben, ohne in den Rückspiegel zu schauen.
Fünf Jahre lang hatte ich ihn aus meinem Leben verbannt. Seine verletzende Zurückweisung hallte noch immer jede Nacht in meinem Kopf wider. Sie traf mich tiefer als eine Kugel.
Ich blinzelte und unterbrach den Blickkontakt. Ich war nicht mehr die unerfahrene, leichtgläubige Frau, die ich einmal war – nicht mehr bereit, auf seinen Köder hereinzufallen.
„Es tut mir leid, Mr. Concorde! Es gab einen Notfall, den ich nicht übersehen konnte.“ Er zuckte beinahe bei meinem hochmütigen Ton zusammen, während die anderen uns misstrauisch beobachteten. Niemand wagte es, vor dem neuen CEO ungefragt zu sprechen.
„Erklären Sie sich!“ Misstrauen flackerte auf seinem Gesicht auf, verflog aber bald. Er war nie leicht zu durchschauen.
„Es ist persönlich.“ Dachte er wirklich, ich würde mich vor allen erklären? Ein Nerv spannte sich an seiner Schläfe.
„Sollen wir weitermachen?“ Seine Augenbrauen hoben sich leicht, während er meinen Blick herausfordernd erwiderte. Er ahnte nicht, dass ich den Köder nicht annahm. Er konnte das Meeting fortsetzen – aber nicht sein Flirtspiel dort, wo er vor Jahren aufgehört hatte.
Ohne seine Andeutungen zu beachten, begrüßte ich die anderen und marschierte nach vorne, um mich für meine Präsentation fertigzumachen.
„Lass dich nicht einschüchtern. Du hast hart für diesen Auftrag gearbeitet!“, stachelte es mich innerlich an. Ich blickte mich um und sah den selbstgefälligen Gesichtsausdruck meines Konkurrenten, Herrn Jenkins. Als Chefarchitekt von Greensboro Architectural Solutions waren seine Entwürfe zwar genauso gut, doch Sebastián Conrad bevorzugte immer meine. Vielleicht schöpfte Jenkins nach dem Wechsel in der Geschäftsführung Hoffnungen auf den Auftrag.
So war es auch mit Herrn Arlington, dem Mitbegründer von Arlington and Perkins. Sein triumphierendes Lächeln brachte mich zum Kochen.
„Wir fangen mit Herrn Jenkins an, da er pünktlich angekommen ist!“ Ich blickte auf und sah Zions entschlossenen Blick. Ich wusste, worauf er hinauswollte. Er wollte mir das Leben schwer machen. Das war mir recht.
Herr Jenkins sprang von seinem Platz auf, um mit seiner Präsentation zu beginnen, während ich mich auf den Platz am anderen Ende setzte – so weit weg wie möglich von Zion. Er warf mir einen verärgerten Blick zu, aber ich ignorierte ihn und die leeren Plätze neben ihm.
Mr. Jenkins’ Präsentation war gut, aber Zion kritisierte ihn so sehr, dass sein Selbstvertrauen in den Hintergrund geriet. Benommen setzte er sich hin und überließ Mr. Arlington die Führung. Ihm erging es genauso. Ich ließ mich dadurch nicht entmutigen. Ich war bereit, mit allen Mitteln für diesen Deal zu kämpfen.
„Sie müssen verstehen, dass der Kunde ein Starhotelier ist! Ich will narrensichere Designs, die unseren Ruf nicht gefährden!“ Ich saß da und hörte ihm zu, wie er die wichtigsten Strukturen besprach, die der Kunde in das Design integrieren wollte.
Nach zwei weiteren Präsentationen war ich endlich an der Reihe. Zion beobachtete mich wie ein Falke, bereit, mich in Stücke zu reißen. Ich leckte mir nervös die Lippen, holte tief Luft und begann meine Präsentation – den Blickkontakt mit allen haltend, besonders mit Zion.„Ich habe Nachhaltigkeit in alle meine fünf Entwürfe integriert. Ökologische Bauweisen, energieeffiziente Heizungs-, Lüftungs- und Klimasysteme, LED-Beleuchtung, Wassereinsparung durch wassersparende Armaturen und Wasserrecyclingsysteme sind die wichtigsten Komponenten, die ich umsetzen möchte. Unter Berücksichtigung des aktuellen Trends zu Wellnessreisen sehen alle meine Entwürfe Wellnesseinrichtungen wie Spas, Yogastudios und Meditationsräume vor. Ich habe einen modernen Boutique-Look gewählt und dabei den Standort und die Anforderungen des Kunden berücksichtigt, bin aber offen für Änderungen. Dies ist nur ein Entwurf. Mein endgültiger Entwurf wird erst nach einem Treffen mit dem Kunden und einer Besichtigung des Standorts konkretisiert.“
„Warum glauben Sie, dass ein moderner Look genau das ist, was der Kunde braucht? Rom, wo das erste Hotel entstehen wird, hat ein reiches kulturelles Erbe. Sollten wir diesen Faktor nicht nutzen, um Gäste anzulocken?“ Ich kannte ihn zu gut, um zu ahnen, dass er dieses Thema ansprechen würde.
„Ja, aber wenn alle Hotels in der Nähe dasselbe Thema verfolgen, glauben Sie nicht, dass ein anderer Ansatz diesem Projekt seine Einzigartigkeit verleihen würde?“ Zion nickte, völlig verblüfft über den Umfang meiner Recherche. Ich durchsuchte die Website des Kunden, suchte nach Informationen zum Standort und rief sogar den Geschäftsführer an, um mich vor Beginn der Planungen zu informieren.
„Wie ich bereits sagte, sind dies nicht die endgültigen Entwürfe. Jedes Hotel soll eine Geschichte erzählen, die die Besucher anzieht. Sie sollen den Besuchern ein Markenerlebnis bieten. So wählte er bei anderen Reisezielen immer wieder blind denselben Markennamen!“ Ich bemerkte kurz die Anerkennung in seinen Augen, bevor sie von seinem typischen kalten, arroganten Blick überdeckt wurde.
Im Laufe der Präsentation wuchs mein Selbstvertrauen. Ich wusste, ich hatte es geschafft und das Projekt würde definitiv mir gehören. Ich hatte einmal für Zion in seinem Architekturbüro ZC Architects mit Sitz in Athen, Griechenland, gearbeitet. Er kannte meine Arbeitsweise bestens. Nach meiner Präsentation setzte ich mich hin und wartete auf sein Urteil, aber er stand einfach auf, um zu gehen.
„Vielen Dank für Ihre harte Arbeit. Ich melde mich mit meiner Entscheidung bei Ihnen. Das war’s fürs Erste.“ Es war üblich, die Entwürfe vor der Fertigstellung mit dem Kunden zu besprechen. Ich packte meine Sachen zusammen, um zu gehen, als Zion an der Tür stehen blieb.
„Andrea, wir kommen sofort in mein Büro!“ Er verließ den Raum, ohne meine Antwort abzuwarten. Sein Tonfall gefiel mir nicht, da ich nicht mehr seine Angestellte war. Wenn er hier im Büro über Persönliches reden wollte, war ich überhaupt nicht interessiert. Beruflich wäre ich jedoch froh gewesen, wenn er mich nicht bevorzugt hätte.
Ich konnte den verurteilenden Blick all meiner Konkurrenten erkennen. Mr. Jenkins blickte mich finster an, als hätte ich ein schweres Verbrechen begangen. „Vorteile, Architektin zu sein!“, murmelte er und warf mir einen verächtlichen Blick zu, während die anderen ihm zustimmend grinsten.
Ich verlor die Fassung. Mein Körper kochte vor Wut, und ich ging zielstrebig auf ihn zu. Dachte er etwa, ich würde das auf sich beruhen lassen? Was er sagte, war abfällig. Es war verbale Beleidigung!
Seine Augen weiteten sich, als ich vor ihm stand und ihm den Weg versperrte. „An Ihrer Stelle würde ich mit meinen Worten vorsichtig sein, Mr. Jenkins. Ich bin stolz auf mich als Architektin! Wenn Sie so gut sind, beweisen Sie Ihren Mut durch Ihre Arbeit, nicht durch kleinliche Politik. Wenn ich noch eine abfällige Bemerkung über mich höre, verklage ich Sie und Ihre Firma wegen Geschlechterdiskriminierung und verbaler Beleidigung! Ich werde nur wenige Minuten brauchen, um Beweise gegen Sie zu sammeln.“
„Sie verstehen mich falsch, Ms. Cromwell!“, fing er an, aber ich hob die Hand, um ihn zu stoppen.
„Das glaube ich nicht. Merken Sie sich meine Worte. Ich stoße keine sinnlosen Drohungen aus!“ Ich sah mich um und bemerkte den schuldbewussten Gesichtsausdruck aller. Das beruhigte mich. Trotzdem war ich wütend auf Zion. Wie konnte er nur so unprofessionell sein? Ich hatte das Bedürfnis, ihm seine eigene Medizin zu geben. Ich hatte keine Zeit für ein persönliches Treffen. Für ein berufliches Gespräch musste er einen passenden Termin für mich ausmachen. So funktionierte Sebastián.
Ich verließ den Konferenzraum, um meine Sachen zu holen. Meine Arbeit bei Conrad war erledigt, und ich konnte zurück in mein Büro. Es war ein kleiner Raum, nur einen Steinwurf von meiner Wohnung entfernt. Die Nähe war hilfreich, da ich die Zwillinge im Kindergarten gegenüber untergebracht hatte.
Zum Glück bemerkte niemand, wie ich mich aus dem Büro schlich. Ja, ich war ihm entkommen.
Gerade als ich mein Büro aufschloss, klingelte mein Telefon. Es war ein Anruf von Conrad. Ich nahm den Anruf an, aber zu meiner Überraschung war nicht Laura am anderen Ende.
„Andrea? Wo bist du? Ich dachte, ich hätte dich in mein Büro gebeten.“ Zions wütende Stimme am anderen Ende überraschte mich.
„Ich bin im Büro, Mr. Concorde. Warum möchten Sie mich sprechen? Können Sie mir das bitte per E-Mail schicken?“
Er spottete über meine Bitte. „Es hat nichts mit der Arbeit zu tun, Andrea. Es ist privat.“
Jetzt war ich an der Reihe, ihn zu verspotten. „Mein privater Terminkalender ist eng, Mr. Concorde. Wenn Sie mir etwas zum Vertrag sagen möchten, kann ich morgen in Ihr Büro kommen.“