Kapitel 1: Die Hoffnung stirbt zuletzt
War dies endlich der lang ersehnte Brief? Welche Worte würde er bergen, und könnte sie nun endlich ihre Mutter ausfindig machen? Nach all den Qualen, die sie durch Joshua hatte ertragen müssen – den Mann, der sie einst aus einem trostlosen Kinderheim gerettet hatte, nur um sich als ihr schlimmster Albtraum zu entpuppen –, nachdem sie sogar ihren Namen in Christine geändert hatte, bestand nun doch die Möglichkeit, ihre Mutter wiederzufinden und ein glückliches Leben zu führen?
Drei Wochen zuvor:
Christine war mittlerweile achtzehn Jahre alt und hatte ihren Umzug nach Mexiko hinter sich gebracht. Sie fand Arbeit in einem Hotel und arbeitete als Kellnerin. Es waren bereits drei Monate vergangen, und sie hatte sich in dieser Zeit ein eigenes Leben aufgebaut. Sie genoss ihr neues Dasein in vollen Zügen und konnte endlich all die Dinge tun, die
junge Mädchen in ihrem Alter gerne taten: Ausgehen und sich mit neuen Freunden treffen. Das Leben erschien ihr wunderschön, und sie hatte nicht die Absicht, ihre frisch gewonnene Freiheit jemals wieder aufzugeben.
Christine war eine äußerst fleißige junge Frau, die ihre Arbeit gerne verrichtete. Doch an diesem Morgen fühlte sie sich nicht wohl und rief im Hotel an, um sich krank zu melden. Bereits den gesamten Morgen plagte sie Übelkeit, und sie vermutete, dass es sich nur um eine einfache bakterielle Infektion handeln könnte. Nachdem sie einen Arzttermin vereinbart hatte, legte sie sich erneut hin.
Am späten Nachmittag war es endlich so weit, und Christine hatte ihren Arzttermin. "Herzlichen Glückwunsch, Sie befinden sich im sechsten Monat Ihrer Schwangerschaft! Aber wie kommt es, dass Sie zuvor nichts bemerkt haben?", erklärte der Arzt. Christine wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Wie konnte das sein? Im sechsten Monat? Zu dieser Zeit war sie immer noch bei Joshua. Plötzlich verblasste ihr Gesicht. Das durfte nicht sein – nein.
"Sind Sie sicher?", fragte sie den Arzt. "Ja, Sie befinden sich zwischen dem fünften und sechsten Monat",
bestätigte dieser. "Ich ... ich danke Ihnen, Doktor", sagte Christine und verließ die Praxis. Sie war schockiert. Ein großer Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet, und Tränen stiegen in ihre Augen. Wie konnte das passieren? Und ausgerechnet von Joshua? Der Mann, der sie jahrelang vergewaltigt hatte. Ihr Kopf fühlte sich auf einmal leer an und ihr wurde schwindelig. Sie schien nicht mehr klar denken zu können. Was sollte sie nun tun?
Sie war bereits zu weit fortgeschritten, um sich gegen das Baby zu entscheiden. Sie setzte sich auf eine Parkbank, ihre Unterlippe zitterte, und die Tränen schossen einfach aus ihr heraus. Sie weinte bitterlich, und einige Passanten schienen besorgt zu ihr herüberzublicken, gingen aber schließlich weiter. Christine war erleichtert, denn sie wollte jetzt nicht sprechen, aber sie sehnte sich danach, dass Michael bei ihr wäre. Er hätte sie in den Arm genommen, ihr versichert, dass alles gut werden
würde und sie in jeder Hinsicht unterstützt. Doch er war nicht hier, denn sie befand sich allein in Mexiko. Er war immer da gewesen, wenn sie ihn brauchte, und jetzt, da sie ihn wirklich brauchte, war er nicht da. Sie hätte nie gedacht, wie sehr sie ihn vermissen würde. Ihr gingen viele Gedanken durch den Kopf, vor allem, wie sie es ihrem Chef erklären sollte. Sie war so glücklich gewesen, diesen Job in einem angesehenen Hotel zu bekommen. Sollte das jetzt alles vorbei sein?
Zwar könnte sie immer wieder Arbeit finden, aber sie wollte nicht gehen. Sie hatte sich gut mit dem Personal verstanden, und auch der Chef war wirklich nett. Er hatte ihr die Möglichkeit gegeben, ein normales Leben zu führen, indem er ihr eine Anstellung anbot und sie zuerst in seinem Hotel unterbrachte, bis sie sich eine kleine Wohnung besorgte. Sie war ihm so dankbar, und das durfte jetzt nicht enden, nur weil sie schwanger war.
Nach einer gefühlten Ewigkeit stand Christine auf und begab sich nach Hause. Sie musste sich vorerst ablenken und einen klaren Kopf bekommen, bevor sie erneut über die gesamte Situation nachdenken konnte. Was sollte sie nun tun? Sie hatte zwar bemerkt, dass sie in letzter Zeit öfter Magenprobleme und etwas zugenommen hatte, aber sie hatte es eher auf Stress geschoben, nicht auf eine Schwangerschaft. Es war bereits zu spät für eine Abtreibung, aber sie fühlte sich noch nicht bereit
für ein Kind. Sie hatte erst selbst so viel durchgemacht und musste das alles verarbeiten, und nun sollte sie auch noch die Verantwortung für ein Kind übernehmen. Die Angst überwältigte sie, und sie war unsicher, wie sie damit umgehen sollte.
„ Ich bin doch erst achtzehn“, murmelte sie immer wieder vor sich hin, als sie die Haustür öffnete und sich erst einmal setzte. Das alles musste sie zuerst verdauen. Sie holte sich ein Glas Wasser und legte die Hand auf ihre Stirn. "Was soll ich jetzt tun?", sagte sie wiederholt und begann zu weinen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder richtig
allein. Hier hatte sie niemanden, dem sie so sehr vertraute, dass sie mit ihm über ihre Schwangerschaftsängste sprechen konnte. Sicherlich hatte sie ein paar Freundschaften geschlossen, aber sie war mit niemandem so eng verbunden, dass sie ihre Sorgen teilen wollte. Und was würde ihr Chef dazu sagen? War sie jetzt ihren Job los? Wie sollte sie dann ihre Rechnungen bezahlen? Unzählige unbeantwortete Fragen wirbelten in ihrem Kopf herum, und sie starrte eine Weile auf etwas Unbestimmtes,
da sie so in ihren Gedanken versunken war. Plötzlich schrillte ihr Telefon, und sie erschrak.
"Hallo!" stammelte Christine etwas hilflos in den Hörer, als sie das Telefon abrupt abhob.
"Senhorita, wo bleiben Sie? Sie sollten sich bei mir melden!" "Senor Martinez!" Ihr stockte der Atem. Es war ihr Hotelchef. Sie hatte
ihm doch gesagt, dass sie sich melden würde. Warum rief er sie jetzt an? Hätte er nicht warten können?
"Senor Martinez, es tut mir leid. Ich werde mich umgehend auf den Weg
machen." "Was hat der Arzt bei Ihrem Termin gesagt Christine?" "Senor Martinez, bitte kündigen Sie mich nicht. Ich
brauche das Geld und liebe meinen Job, aber ich bin schwanger!", flehte sie ihn an und legte auf, um sich
zurück zur Arbeit zu begeben. Als sie vom Tisch aufstand, fiel ihr Blick erneut auf das, was die ganze
Zeit vor ihr gelegen hatte. Sie war so sehr in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie es zuvor nur verschwommen wahrgenommen hatte. Doch nun erkannte sie, was es war: eine Postkarte, die sie von Michael erhalten hatte. Darauf stand: "Viel Glück bei der Suche nach deiner Mutter. Ich liebe dich!" Das Bild auf der Postkarte zeigte eine Frau mit einem Baby. War das ein Zeichen? Sollte sie nun nach ihrer Mutter suchen, oder sollte sie das Baby behalten? Sie hatte Michael damals gesagt, dass sie nach ihrer Mutter suchen wollte, als sie noch bei ihm wohnte. Sie dachte kurz darüber nach, schüttelte die Gedanken dann
vorerst aus ihrem Kopf und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Die Priorität lag jetzt darin sicherzustellen, dass ihr Chef sie nicht gleich wegen der Schwangerschaft kündigen würde. Nicht irgendeine Postkarte, die möglicherweise ein Zeichen sein sollte. Möglicherweise waren es nur Hirngespinste.
"Christine, bitte kommen Sie in mein Büro!" Herr Martinez forderte sie auf, als er sie am nächsten Morgen im Flur des Personaleingangs des Hotels sah. Christine nickte und folgte ihm. Ihr Kopf war voller Gedanken. Was würde er jetzt sagen? Immerhin hatte er, als er sie angesprochen hatte, einen ziemlich strengen Gesichtsausdruck und seine Stimme klang ernster als gewöhnlich.
"Christine, Sie sind eine hervorragende Mitarbeiterin, und ich möchte Sie nicht verlieren. Bitte setzen Sie sich", sagte Senior Martinez, als sie in sein Büro eintrat. Er schien zu wissen oder zumindest zu ahnen, dass sie nervös und besorgt über seine Reaktion war. Sie nahm auf einem der Stühle Platz, die vor seinem Schreibtisch standen. Es war das erste Mal seit vier Monaten, dass sie hier war, als sie sich noch bei Michael versteckt hatte, nachdem sie ihren Tod vorgetäuscht hatte, um Joshua zu entkommen. Damals hatte sie ihr Vorstellungsgespräch gehabt, bevor sie überhaupt nach Mexiko gezogen war. Sie hatte sicherstellen wollen, dass sie einen Job hatte, bevor sie den Umzug wagte. Ihr Blick schweifte durch den Raum. Er war sehr hell, und die pastellblaue Tapete schien perfekt zum hellen Parkettboden zu passen. Die dunklen Möbel hoben sich deutlich ab. Sie fragte sich, ob Herr Martinez das Büro selbst eingerichtet hatte oder ob jemand anderes dafür verantwortlich war. Wie auch immer, sie fand es schön.
"Christine, Sie arbeiten nun seit einigen Monaten für mich, und ich kenne Ihre Geschichte. Sie waren immer ehrlich zu mir, und das schätze ich sehr an meinen Mitarbeitern. Sie sind stets die Erste, die mit der Arbeit beginnt, und die Letzte, die nach Hause geht. Ich mag Sie, sowohl als Mitarbeiterin als auch als Mensch. Nun haben wir eine gewisse
Herausforderung. Sie sind schwanger!" Herr Martinez sprach das Problem offen an.