Kapitel Eins
KAPITEL EINS
Irinas Sicht
Die Musik unten war so laut, dass die Fenster klirrten.
Ich presste mir die Kissen auf die Ohren und versuchte, das Chaos unten auszublenden. Das Gelächter. Das Geschrei. Das gelegentliche Klirren von zerbrechendem Glas.
Die Volkov-Bratwa feierte Siege, als ginge die Welt unter, und heute Abend hatten sie allen Grund zum Feiern. Dimitri hatte die östlichen Docks gesichert, sein Territorium erweitert und seine Rivalen vernichtend geschlagen, ohne einen einzigen Mann zu verlieren.
Ich hätte mich für ihn freuen sollen. Ich freute mich für ihn. Aber ich war auch todmüde.
Vorher hatte ich mit den anderen Hausangestellten die Feier geplant. Ich hatte dafür gesorgt, dass alles bereit und nach Dimitris Geschmack vorbereitet war.
Vier Jahre als seine persönliche Zofe hatten mich gelehrt, seine Stimmungen besser zu lesen als Worte auf einer Seite. Ich wusste, wie er seinen Tee mochte. Wie er seine Anzüge gebügelt haben wollte. Wie er nach Gewalt Stille brauchte.
Und heute Abend hatte er mir befohlen, im Schlafzimmer zu bleiben, fernab der Party, fernab seiner Männer.
„Bleib in meinem Zimmer“, hatte er gesagt, seine ozeanblauen Augen so ernst, dass es mir den Magen umdrehte. „Schließ die Tür ab. Komm nicht vor dem Morgen heraus.“
Ich hatte nicht gefragt, warum. Man hinterfragt Dimitri Volkov nicht.
Und nun liege ich hier. Zusammengekauert in seinem riesigen Bett, das nach teurem Parfüm und seiner Einzigartigkeit duftete. Die Laken waren zu weich auf meiner Haut. Alles in seiner Welt war zu schön, zu perfekt, und ich gehörte nirgendwo hinein.
Aber ich liebte ihn trotzdem.
Ich hatte es nicht beabsichtigt. Man verliebt sich nicht in seinen Herrn. Das war die Art von Dummheit, die Mädchen wie mich verletzte. Aber Dimitri war sanft zu mir, auf eine Art, wie er zu niemand anderem sanft war. Er sagte bitte und danke. Er fragte nach meinem Tag. Er sah mich an, als wäre ich ein Mensch und nicht eine Sache.
Und ich war eine Sache. Vor vier Jahren wurde ich an den Volkov-Clan verkauft, um eine Schuld zu begleichen, die gar nicht meine war. Das war alles, was ich je gekannt hatte.
Ich war gerade dabei einzuschlafen, als ich das Klappern der Türklinke hörte.
Mein Herz raste. Ich hatte abgeschlossen. Ganz sicher.
Doch die Tür ging trotzdem auf.
Und eine Gestalt taumelte in die Dunkelheit. Groß, mit breiten Schultern, und diese Silhouette hätte ich selbst blind erkannt.
„Dimitri?“, flüsterte ich.
Er antwortete nicht. Er schwankte nur, als würde der Boden unter ihm kippen. Er trug seinen Morgenmantel. Den schwarzen Seidenmantel, den ich gestern zurechtgelegt hatte. Sein Haar fiel ihm ins Gesicht und wirkte zerzaust und wild.
Erleichterung durchströmte mich, als ich ihn anstarrte. Er musste nach mir sehen wollen.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich leise.
Er bewegte sich auf das Bett zu. Seine Schritte waren schwerfällig und ungelenk. Es fühlte sich seltsam an. Dimitri bewegte sich nie so. Er war immer beherrscht und sich jeder Faser seines Körpers bewusst.
„Dimitri?“, sagte ich noch einmal.
Er ließ sich neben mir aufs Bett fallen. Die Matratze gab unter seinem Gewicht nach.
Er roch nach Wodka, Rauch und etwas Scharfem, das mir die Nase rümpfen ließ.
Er war furchtbar betrunken.
Ich hatte Dimitri noch nie betrunken gesehen. Er trank zwar, aber nie so. Nie so viel, dass er die Kontrolle verlor.
„Du solltest dich ausruhen“, sagte ich sanft. „Du hast zu viel getrunken.“
Seine Hand fand mein Gesicht im Dämmerlicht und umfasste meine Wange. Sein Daumen strich mit überraschender Zärtlichkeit über meine Lippen.
Mir stockte der Atem.
„Dimitri“, flüsterte ich.
Er küsste mich.
Ich erstarrte. Das war falsch. Das überschritt jede sorgsam errichtete Grenze, die wir in vier Jahren gezogen hatten. Doch seine Lippen waren warm und voller Verlangen, und ich hatte so oft von diesem Moment geträumt, dass mein Körper sich bewegte, bevor mein Verstand es verhindern konnte.
Ich erwiderte den Kuss.
Er zog mich näher an sich, seine Hände glitten in mein Haar. Der Kuss wurde tiefer, dringlicher, fast fieberhaft. Als hätte er sich ewig zurückgehalten und könnte es nun nicht mehr.
„Ich habe mir das gewünscht“, flüsterte er gegen meine Lippen, seine Stimme rau und undeutlich. „Ich wollte dich.“
Diese Worte brachen mir das Herz.
Ich ließ ihn mir das Nachthemd über den Kopf ziehen. Ich ließ ihn mich auf die Kissen zurücklehnen. Ich ließ ihn meinen Hals, meine Schultern, überall küssen. Seine Hände nahmen mich in Besitz, als wäre ich etwas Kostbares, nicht etwas Gekauftes.
Als er in mich eindrang, keuchte ich auf. Da war Schmerz, stechend und hell, aber darunter lag etwas anderes. Etwas, das sich anfühlte, als wäre ich endlich erwählt worden.
Wir bewegten uns gemeinsam in der Dunkelheit. Sein Atem ging rau in meinem Ohr. Meine Finger krallten sich in seine Schultern. Die Lust steigerte sich immer weiter, bis ich dachte, ich würde daran zerbrechen.
Ich schrie seinen Namen, als ich meinen Höhepunkt erreichte. „Dimitri.“
Er vergrub sein Gesicht in meinem Hals und zitterte an mir, sein ganzer Körper erstarrte, bevor er zusammensackte.
Danach zog er mich an sich, sein Arm lag schwer um meine Taille. Ich schmiegte mich an ihn, mein Herz raste, als würde es mir gleich aus der Brust springen.
Das war wirklich passiert. Dimitri hatte sich endlich für mich entschieden.
Ich errötete, als ich seinem ruhigen, gleichmäßigen Atem lauschte. Er war in einen tiefen Schlaf gefallen. Meine Augen wurden schwer. Ich ließ mich in den Schlaf gleiten, glücklich zum ersten Mal seit Ewigkeiten.
Als ich erwachte, war das Zimmer noch größtenteils dunkel. Doch ein dünnes, graues Licht kroch durch die Vorhänge. Der Morgen dämmerte.
Der Arm um meine Taille war verschwunden.
Ich setzte mich langsam auf, mein Körper schmerzte an verschiedenen Stellen. Ich sah mich um, um ihn zu finden, und erwartete, Dimitri bei den Vorbereitungen für den Tag zu sehen, wie er es immer tat.
Die Badezimmertür öffnete sich.
Er trat heraus, komplett angezogen in schwarzem Hemd und schwarzer Hose. Seine Haare waren noch immer zerzaust, aber seine Bewegungen waren nun ruhig und kontrolliert.
Dann sah er mich an.
Und mein Lächeln erlosch.
Seine Augen waren grün.
Nicht ozeanblau. Nicht die Farbe, die ich besser kannte als mein eigenes Spiegelbild. Sie waren waldgrün.
Mein Herz blieb stehen.
Es war nicht Dimitri.
Ich hatte mit Alexei geschlafen.