Kapital Zwei

1293 Words
KAPITEL ZWEi Dmitri Irgendetwas stimmte nicht mit Irina. Ich bemerkte es sofort, als sie an diesem Morgen mein Büro betrat. Sie bewegte sich anders, vorsichtig. Als ob ihr Körper schmerzte. Als ob sie versuchte, nicht zusammenzubrechen. Ihr Gesicht war blass. Ihre Augen waren rot und geschwollen, als hätte sie geweint. Und sie sah mich nicht an. Nicht direkt. Nicht so, wie sie es sonst tat. „Ihren Tee, Sir“, sagte sie leise und stellte die Tasse auf meinen Schreibtisch. Ihre Hände zitterten. Die Tasse klapperte auf der Untertasse. Ich runzelte die Stirn. „Irina.“ „Ja, Sir?“, antwortete sie, ohne mich anzusehen. „Geht es Ihnen gut?“, fragte ich. „Ja, Sir. Mir geht es gut.“ Ihre Stimme war flach und leer. Sie log. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und musterte sie. Vier Jahre kannte ich dieses Mädchen. Vier Jahre lang hatte ich sie beobachtet, wie sie sich in meinem Leben bewegte, wie Licht durch Wasser. Ich kannte jeden Ausdruck in ihrem Gesicht. Jede Nuance ihrer Stimme. Jede Kleinigkeit, die sie glücklich, traurig oder ängstlich machte. Dies war anders. Dies war schlimmer als Angst. Sie war innerlich zerbrochen. „Ist letzte Nacht etwas passiert?“, fragte ich vorsichtig. Ihr ganzer Körper erstarrte. „Nein, Sir. Nichts ist passiert.“ Eine weitere Lüge. „Irina, sieh mich an.“ Meine Stimme war sanft. Ich hatte noch nie meine Stimme gegen sie erhoben. Endlich hob sie den Blick und sah mir in die Augen. Und was ich dort sah, schnürte mir die Kehle zu. Schmerz lag in ihren Augen. „Wer hat dir wehgetan?“, fragte ich mit leiser, bedrohlicher Stimme. Sie bewegte sich. „Niemand, Sir. Versprochen. Ich habe nur schlecht geschlafen.“ Ich glaubte ihr nicht. Aber ich wusste auch, dass ich nicht weiter nachhaken sollte. Irina war sanftmütig, aber nicht schwach. Wenn sie etwas verbergen wollte, dann tat sie es gut. „Wenn dich jemand berührt hat“, sagte ich langsam, „wirst du es mir sagen. Verstanden?“ „Ja, Sir“, flüsterte sie. „Ich werde sie töten“, sagte ich bestimmt. „Ich weiß, Sir.“ Sie drehte sich um und ging, vorsichtig, als ob jeder Schritt schmerzte. Ich sah ihr nach und spürte, wie Wut in mir aufstieg. Jemand hatte ihr etwas angetan. In meinem Haus. Unter meinem Schutz. Ich weiß nicht was. Aber ich werde es herausfinden, und wenn ich es weiß, werden sie es bereuen. Der Morgen zog sich endlos hin. Ich hatte Besprechungen mit meinen Vorgesetzten. Erhielt den Gebietsbericht. Zählte Geld. Plante gegen Feinde. Doch meine Gedanken kreisten immer wieder um Irina. Um den Schmerz in ihren Augen. Um das Zusammenzucken, als ich ihren Namen sagte. Am Nachmittag konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Ich suchte sie und fand sie in der Wäschekammer, wo sie mit den anderen Dienstmädchen Bettwäsche zusammenlegte. Sie sah schlimmer aus als heute Morgen. Ihre Haut hatte einen grauen Schimmer. Trotz der Kälte bildeten sich Schweißperlen auf ihrer Stirn. „Irina“, rief ich von der Tür aus. Erschrocken blickte sie auf. „Herr?“ „Komm her“, befahl ich sanft. Sie legte das Laken, das sie gerade zusammenlegte, beiseite und kam langsam auf mich zu. Die anderen Dienstmädchen beobachteten sie neugierig. Sie wussten, dass sie meine Lieblingsdienerin war, und das war mir egal. Ich bedeutete ihr, mir in den Flur zu folgen, außer Hörweite. „Du siehst krank aus“, sagte ich unverblümt. „Mir geht es gut, Herr. Ich bin nur müde.“ „Dir geht es nicht gut. Wann hast du das letzte Mal gegessen?“ Sie zögerte. „Heute Morgen.“ „Du lügst schon wieder.“ Ihre Schultern sanken. „Gestern. Glaube ich. Ich kann mich nicht erinnern.“ „Warum isst du nicht?“ „Mir ist übel.“ „Mein Magen …“ Sie presste die Hand auf ihren Bauch, und ihr Gesicht wurde noch blasser. „Entschuldigen Sie.“ Sie eilte an mir vorbei zum Badezimmer am Ende des Flurs. Ich hörte sie würgen, diese schrecklichen Geräusche, als würde jemand den letzten Rest seines Magens entleeren. Ich wartete. Als sie herauskam, zitterte sie. Ihre Augen waren wässrig. Sie sah aus, als könnte sie jeden Moment zusammenbrechen. „Das reicht jetzt“, sagte ich bestimmt. „Sie haben für heute Feierabend.“ „Nein, bitte. Ich habe noch so viel zu tun …“ „Das ist mir egal. Sie sind krank. Sie brauchen Ruhe.“ „Es ist nur ein Magen-Darm-Infekt.“ „Es wird vorübergehen.“ „Dann wird es vorübergehen, während du dich ausruhst.“ Ich nahm ihren Arm sanft und führte sie zurück in mein Schlafzimmer. Sie war zu schwach, um zu protestieren. Ich setzte sie auf die Bettkante. Sie sah klein und zerbrechlich aus, wie sie da saß, die Hände fest im Schoß gefaltet. „Bleib hier“, befahl ich. „Rühr dich nicht.“ Ich ging ins Badezimmer und suchte den Medizinschrank. Schmerzmittel. Etwas gegen Übelkeit. Ich brachte sie mit einem Glas Wasser zurück. „Nimm die“, sagte ich und reichte ihr die Tabletten. Sie sah sie an, als könnten sie sie beißen. „Ich brauche keine Medizin, Sir.“ „Nimm sie, Irina. Das ist ein Befehl.“ Mit zitternden Händen schluckte sie die Tabletten und trank dann das ganze Glas Wasser aus, als hätte sie tagelang nichts getrunken. Vielleicht hatte sie es ja auch nicht. „Leg dich hin“, sagte ich und zog die Decke zurück. „Sir, ich kann nicht in Ihrem privaten Bett schlafen.“ „Das ist nicht angemessen.“ „Ich sorge dafür, dass es angemessen ist. Leg dich hin.“ Widerwillig gehorchte sie und rollte sich wie ein Kind auf die Seite. Ich zog die Decke über sie und legte sie ihr um die Schultern. Sie sah mich nicht an. Sie schloss die Augen. Ich stand lange da und beobachtete ihren Atem. Ich sah, wie die Anspannung langsam aus ihrem Körper wich, als das Medikament wirkte. „Ruhe dich aus“, sagte ich leise. „Schlaf so lange du musst.“ „Wo wirst du schlafen?“, fragte sie mit bereits belegter Stimme. „In meinem Arbeitszimmer. Ich muss sowieso arbeiten.“ „Es tut mir leid, Sir. Ich wollte Sie nicht stören“, sagte sie. „Hör auf, dich zu entschuldigen, es ist nicht deine Schuld.“ Doch selbst während ich das sagte, fragte ich mich, wofür sie sich entschuldigte. Welche Last sie trug, die sie so gebrochen aussehen ließ. Ich ging zur Tür, blieb dann stehen und sah sie noch einmal an. „Wenn du etwas brauchst“, sagte ich, „bin ich im Arbeitszimmer.“ Sie antwortete nicht. Sie war bereits eingeschlafen, ihr Atem ging tief und gleichmäßig, ihr Gesicht wirkte endlich friedlich. Ich schloss leise die Tür hinter mir und blieb mit geballten Fäusten im Flur stehen. Irgendetwas stimmte nicht. Und ich würde herausfinden, was. Ich saß in meinem Arbeitszimmer und sah mir einige Berichte an, als Alexei, mein Zwillingsbruder, hereinstolperte. Er sah furchtbar aus. Seine Augen waren blutunterlaufen. Seine Haare waren zerzaust. Er bewegte sich, als würde ihm der Kopf explodieren, wenn er nur einen Schritt zu fest machte. „Du siehst aus wie der Tod“, sagte ich. „Ich fühle mich auch wie der Tod.“ Er ließ sich in den Stuhl gegenüber meinem Schreibtisch fallen und stöhnte. „Ich habe zu viel getrunken.“ „Offensichtlich“, sagte ich und blickte wieder in meinen Bericht. „Ich kann mich an die Hälfte der Nacht nicht erinnern.“ Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. „Habe ich irgendetwas Dummes angestellt?“
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