Kapital Drei

1466 Words
KAPITEL DREI Irina Drei Wochen waren seit jener Nacht vergangen. Drei Wochen, in denen ich aufwachte und mir wünschte, alles wäre nur ein böser Traum gewesen. Drei Wochen, in denen ich Spiegel mied, weil ich mich selbst nicht ertragen konnte. Drei Wochen, in denen ich so tat, als wäre alles in Ordnung, obwohl nie wieder etwas in Ordnung sein würde. Ich hatte Alexei seit jenem Morgen nicht mehr gesehen. Er verschwand am Tag nach der Party, und ich war dankbar dafür. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Ich konnte nicht in diese waldgrünen Augen blicken, ohne mich zu erinnern. Dimitri merkte, dass etwas nicht stimmte. Natürlich. Er kannte mich zu gut. Aber ich log und log und log, bis ich meine eigenen Worte fast glaubte. Es sei nur ein Magen-Darm-Infekt, sagte ich ihm. Nur Erschöpfung. Nur Stress. Aber das stimmte nicht. Die Krankheit kam nun jeden Morgen. Ich erbrach mich, bis nichts mehr übrig war. Ich hörte auf zu essen, weil Essen alles nur noch schlimmer machte. Ich verlor Gewicht, das ich mir nicht leisten konnte zu verlieren. Und ich wusste es. Tief in meinem Inneren, an einem Ort, wo ich nicht hinsehen wollte, wusste ich, was mit mir geschah. Ich war schwanger. Von Alexei. Der Gedanke ließ mich schreien. Ich wollte mir die Haut vom Leib reißen. Ich wollte im Nichts verschwinden, um dem, was kommen würde, nicht ins Auge sehen zu müssen. Denn Dimitri würde es irgendwann herausfinden. So etwas konnte man nicht ewig verbergen. Und wenn er es herausfand, würde alles, was ich mir in vier Jahren aufgebaut hatte, zu Staub zerfallen. Er würde mich hassen. Er würde denken, ich hätte ihn verraten. Er würde mir niemals glauben, dass es ein Irrtum war. Dass ich ihn für den Falschen gehalten hatte. Die Angst fraß mich auf wie Säure. Ich versuchte, es zu verbergen. Ich trug weite Kleidung und mied ihn so gut es ging. Ich erledigte meine Pflichten schnell und ging, bevor er Fragen stellen konnte. Aber heute hatte er mich gebeten, ihm die Haare zu waschen. Das tat ich oft. Es war etwas Intimes und Stilles, das ich normalerweise liebte. Doch heute zitterten meine Hände, als ich das Waschbecken mit warmem Wasser füllte. Heute rebellierte mein Magen vor Übelkeit, die einfach nicht verschwinden wollte. Dimitri saß mit zurückgeneigtem Kopf und geschlossenen Augen auf dem Stuhl neben seinem Waschbecken. Er sah friedlich aus. Und wunderschön. Vorsichtig goss ich Wasser über sein Haar und sah zu, wie es dunkler wurde und an seiner Kopfhaut klebte. Meine Finger verteilten Shampoo in den dicken Strähnen und massierten seine Kopfhaut, so wie er es mochte. „Das tut gut“, murmelte er. Ich versuchte zu lächeln, aber mein Gesicht erstarrte. Plötzlich wurde mir schwindelig. Nur ein bisschen. Gerade genug, um mich innehalten zu lassen. Ich blinzelte heftig und arbeitete weiter, spülte das Shampoo mit zitternden Händen aus. Mir wurde wieder schwindelig. Diesmal stärker. Meine Sicht verschwamm. Meine Knie fühlten sich weich an. Das Waschbecken in meinen Händen wog plötzlich eine Tonne. „Irina?“, fragte Dimitri mit einer Stimme, die wie aus der Ferne klang. "Bist du…" Das Becken glitt mir aus den Fingern. Das Wasser spritzte überall hin. Und dann schoss der Boden auf mich zu. Ich hörte Dimitri meinen Namen rufen und spürte, wie mich starke Arme auffingen, bevor ich auf den Boden aufschlug. Dann wurde alles schwarz. Als ich erwachte, lag ich in Dimitris Bett. Das Zimmer war dunkel und still. Mein Kopf pochte dumpf und anhaltend. Ich versuchte, mich aufzusetzen, aber eine Welle der Übelkeit drückte mich zurück. „Nicht bewegen.“ Ich drehte den Kopf und sah einen alten Mann auf einem Stuhl neben dem Bett sitzen. Dr. Petrov. Ich erkannte ihn wieder, weil einer der Wachen letztes Jahr erschossen worden war. Er war der Hausarzt der Familie Volkov. Schrecken durchfuhr mich wie eiskaltes Wasser. „Was ist passiert?“, fragte ich mit heiserer Stimme. „Sie sind ohnmächtig geworden“, sagte er sanft. „Dimitri Volkov hat mich hierhergebracht, um Sie zu untersuchen.“ „Wo ist er?“, fragte ich vorsichtig. „Er hatte eine wichtige Besprechung, die er nicht verpassen durfte. Aber er hat mir ausdrücklich aufgetragen, mich um Sie zu kümmern.“ Ich schloss die Augen. Natürlich hatte er eine Besprechung. Dimitri hatte ständig Besprechungen. Die Bratwa machte nicht dicht, nur weil ein Dienstmädchen zusammengebrochen war. „Mir geht es gut“, sagte ich. „Ich bin nur müde. Ich kann jetzt wieder arbeiten gehen.“ „Das ist leider nicht möglich.“ Dr. Petrovs Stimme war freundlich, aber bestimmt. „Sie sind sehr schwach. Sie haben nichts gegessen. Ihr Körper ist stark belastet.“ „Ich werde mehr essen. Versprochen. Ich muss nur …“ „Sie sind schwanger, Fräulein Irina“, sagte er plötzlich. Die Worte hingen wie ein Todesurteil in der Luft. Ich starrte ihn an. Mein Mund öffnete sich, aber ich brachte keinen Laut heraus. „Etwa in der vierten Woche“, fuhr er fort. „Deshalb waren Sie so krank. Die Schwangerschaftsübelkeit sollte in ein paar Wochen nachlassen, aber Sie müssen essen. Sie müssen sich ausruhen. Sie müssen auf sich und das Baby achten.“ Das Baby. Dieses Wort machte alles auf eine Weise real, wie es vorher nicht gewesen war. Da wuchs ein Baby in mir heran. Alexeis Baby. Eine ständige, lebendige Erinnerung an die schlimmste Nacht meines Lebens. „Nein“, flüsterte ich. „Nein, das ist unmöglich.“ „Ich bin mir der Diagnose ganz sicher“, erwiderte er ruhig. „Weiß Dimitri Bescheid?“ Meine Stimme versagte bei seinem Namen. Dr. Petrov zögerte. „Ich habe es ihm noch nicht gesagt. Ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen. Aber er muss es irgendwann erfahren.“ „Nein.“ Ich richtete mich zu schnell auf, und mir wurde schwindelig. „Nein, Sie dürfen es ihm nicht sagen. Bitte. Sie dürfen es nicht.“ „Miss Irina, er wird es so oder so erfahren. Es ist besser, wenn er es von mir erfährt …“ „Bitte.“ Tränen rannen mir über die Wangen. „Bitte sagen Sie es ihm nicht. Noch nicht. Ich brauche Zeit. Ich muss mir überlegen, wie ich es ihm erkläre. Bitte.“ Der Arzt sah mich mit traurigen, wissenden Augen an. Als verstünde er mehr, als ich sagte. „Ich gebe dir eine Woche“, sagte er leise. „Eine Woche, um es ihm selbst zu sagen. Aber danach, falls du es nicht getan hast, muss ich ihn informieren. Zu deiner und der Sicherheit des Babys.“ Eine Woche. Sieben Tage, um herauszufinden, wie ich das Einzige zerstören konnte, was mir je gutgetan hatte. Dr. Petrov gab mir Medikamente gegen die Übelkeit und die strenge Anweisung, zu essen und mich auszuruhen. Dann packte er seine Sachen und ging, die Tür leise hinter sich schließend. Ich lag in Dimitris Bett, starrte an die Decke, meine Hand auf meinen noch immer flachen Bauch gepresst. Ein Baby. Ich trug ein Baby. Und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Stunden vergingen. Das Licht draußen verblasste von Grau zu Schwarz. Ich hörte Schritte im Flur. Stimmen. Die Geräusche des Hauses, das sich dem Abendrhythmus anpasste. Ich sollte aufstehen, zurück in mein Zimmer gehen und so lange wie möglich so tun, als wäre alles normal. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte der Welt außerhalb dieses Zimmers nicht mehr ins Auge sehen. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Dimitri trat ein. Er sah wütend aus. Sein Kiefer war angespannt. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Seine ozeanblauen Augen brannten vor Wut, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich hatte diese Seite an ihm noch nie gesehen. Das war nicht der Dimitri, der so sanft zu mir gewesen war. Das war der Pakhan. Das Monster, vor dem Moskau Angst hatte. Ich sprang mit zitternden Beinen aus dem Bett. Mein ganzer Körper bebte. Ich wollte fliehen, aber es gab keinen Ausweg. Dimitri machte drei lange Schritte und blieb vor mir stehen. „Du bist schwanger.“ Seine Stimme war eiskalt. Die Art von Kälte, die die Hölle gefrieren lassen konnte. Meine Augen weiteten sich. Mein Mund öffnete sich, aber ich brachte kein Wort heraus. Woher wusste er das? Wie hatte er es herausgefunden? Aber in diesem Haus verbreiteten sich Nachrichten schneller als das Licht. Jemand musste es ihm erzählt haben. Ein Dienstmädchen. Ein Wächter. Jemand, der den Arzt gehört hatte. Jemand, der es kaum erwarten konnte, die Neuigkeit zu verbreiten. „Wer hat es gewagt, dich anzufassen?!“ Seine Stimme war tief und bedrohlich. Jedes Wort schnitt wie eine Klinge. Ich wich einen Schritt zurück. Tränen stiegen mir in die Augen. Mir schnürte es die Kehle zu. „Dimitri, bitte …“ „WER?!“, brüllte er.
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