Kapital9

1228 Words
KAPITEL NEUN Irinas Sicht Ich stand am Fenster und sah zu, wie die Brüder, die sich einst geliebt hatten, sich beinahe gegenseitig umbrachten – meinetwegen. Dmitri hatte seinen Männern befohlen, seinen Bruder zu töten! Meine Welt stand still. Mikhail hatte eingegriffen und den Krieg beendet. Ich legte meine Hand auf meinen Bauch. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass in mir ein Leben heranwuchs. Ein Baby. Das Ergebnis einer schrecklichen, verwirrenden Nacht mit Alexei. Mein Herz war schwer. Dimitri und Alexei, Brüder, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen, waren nun meinetwegen Feinde. Ich wollte das nicht. Ich wollte nur Frieden. Nach einem langen, heftigen Streit ging Alexei weg. Die Tür öffnete sich. Ich drehte mich um und sah Dimitri hereinkommen. Seine Knöchel waren mit dem Blut seines Bruders befleckt, und seine Augen waren dunkel vor Wut. Doch als er mich sah, wurde sein Gesichtsausdruck weicher. Er kam auf mich zu und schloss mich wortlos in die Arme. Er vergrub sein Gesicht in meinem Haar und atmete tief durch. Ich spürte die Anspannung in seinem Körper. „Dimitri …“, begann ich. „Morgen Abend findet eine Ratssitzung statt“, unterbrach er mich mit rauer Stimme. „Alle Pakhans werden entscheiden. Sie werden entscheiden, wem du gehörst.“ Mir stockte der Atem. „Ich will nicht …“ – „So ist es nun mal“, sagte er mit brüchiger Stimme. Er umfasste mein Gesicht. „Und ich werde dafür sorgen, dass sie entscheiden, dass du mir gehörst.“ „Und wenn nicht?“, flüsterte ich, die Angst schnürte mir die Kehle zu. „Was wirst du dann tun? Wirst du es akzeptieren? Oder wirst du einen Krieg beginnen?“ Er sah mir in die Augen, und ich sah die Wahrheit darin. Sie war erschreckend. „Ich werde alles tun, um dich zu behalten“, sagte er leise. „Selbst wenn es bedeutet, die ganze Welt in Schutt und Asche zu legen.“ Meine Augen weiteten sich. „Das kannst du nicht ernst meinen.“ „Ich meine jedes Wort.“ Bevor ich widersprechen konnte, erschien ein Wächter in der Tür. Sein Gesicht war kreidebleich. „Sir“, sagte er eindringlich. „Sie müssen kommen. Sofort. Es gab einen Angriff.“ Dimitri erstarrte. „Welcher Angriff?“ „Auf Alexeis Konvoi. Jemand hat sie auf dem Rückweg zu seinem Gut überfallen. Es gab … viele Tote.“ Der Wächter schluckte schwer. „Und Sir … Alexei wird vermisst.“ Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Vermisst? Alexei? Einen Moment lang huschte ein seltsamer, finsterer Ausdruck über Dimitris Gesicht. Er war da und wieder verschwunden, aber ich hatte ihn gesehen. Er wirkte wie … Erleichterung. Mir sank das Herz. Er lachte leise. „Problem gelöst.“ „Nein, Dmitri. Du musst ihn finden“, sagte ich mit zitternder Stimme. Er sah mich verwirrt an. „Warum? Er ist mein Feind. Dank dessen, der ihn entführt hat, ist er uns nicht mehr im Weg.“ „Nein, Dimitri, hör mir zu!“ Ich packte seinen Arm. „Wenn du nicht gehst, wenn du ihn nicht suchst, werden alle denken, du hättest es getan. Sie werden denken, du hättest den Anschlag geplant, um deinen Bruder zu töten! Dann wird der Rat mich dir niemals ausliefern.“ Ich sah, wie sich Verständnis in seinen Augen aufhellte, gefolgt von Frustration. Er wollte nicht nach Alexei suchen. Er war froh, dass er fort war. „Er hat versucht, dich mir wegzunehmen“, knurrte er. „Er ist dein Bruder!“, flehte ich. „Und das ist eine Falle. Siehst du es denn nicht? Du musst gehen. Du musst deine Männer nehmen und ihn finden. Du musst allen deine Unschuld beweisen.“ Er starrte mich lange an, ich sah den inneren Kampf in seinen Augen. Schließlich atmete er scharf aus. „Du hast recht“, brummte er. „So muss ein Pakhan handeln.“ Ich nickte, Erleichterung durchströmte mich. „Du solltest gehen.“ Er nahm meine Hand und führte mich durch einen Flur. Er schloss mit einem Schlüssel ein Zimmer auf. Es war groß und luxuriös. „Du wirst hier warten“, sagte er. „Es ist das sicherste Zimmer im Haus. Die Tür lässt sich von außen abschließen. Niemand kann hineinkommen.“ Angst lief mir über den Rücken. „Du sperrst mich ein?“ „Um dich zu beschützen“, sagte er mit sanfter Stimme. Er umfasste mein Gesicht mit seinen Händen. „Irina, du bist mein Ein und Alles. Ich darf dich nicht verlieren. Ich komme zurück. Versprochen.“ Er beugte sich näher zu mir, und bevor ich etwas sagen konnte, pressten sich seine Lippen auf meine. Meine Augen weiteten sich, aber ich wich nicht zurück, sondern lehnte mich an ihn. Es war kein zärtlicher Kuss. Es war ein feuchter, verzweifelter Kuss. Er war lang und tief, erfüllt von all seiner Angst und seinem Verlangen. Ich konnte nicht atmen. Als er sich endlich löste, rangen wir beide nach Luft. „Ich komme wieder“, flüsterte er, seine Stirn an meine gelehnt. Ich wollte nicht, dass er ging. Ich wollte nicht, dass es endete. Aber sein Bruder war verschwunden. „Bereiten Sie das Auto vor“, befahl Dimitri einem Wachmann draußen. „Wir fahren zum Tatort.“ Der Wächter nickte und eilte davon. Dimitri drehte sich zu mir um. „Ich muss gehen.“ Ich nickte und ließ seine Hände los. Er drehte sich um und ging hinaus. Ich hörte, wie der Schlüssel im Schloss klickte. Ich war wieder gefangen, aber diesmal zu meinem eigenen Schutz. Ich saß auf der Bettkante und lauschte, wie es im Haus still wurde. Unten hörte ich mehrere Autos anfahren und wegfahren, das Echo hallte in der Dunkelheit wider. Er musste alle mitgenommen haben. Ich war allein. Stunden vergingen. Und es begann heftig zu regnen. Meine Gedanken kreisten um Dmitri. War er ein guter Mensch? Ich döste ein, zusammengerollt auf den Kissen, umgeben vom Duft von Minze und Rosen. Dann hörte ich das Klappern einer Türklinke. Ich riss die Augen auf. Die Türklinke des Schlafzimmers rüttelte heftig. Jemand versuchte, hereinzukommen. Mir gefror das Blut in den Adern. Ich richtete mich auf, mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. War es Dmitri? Aber er hatte den Schlüssel, er würde doch nicht versuchen, in sein eigenes Zimmer einzubrechen. Oder hatte er den Schlüssel auf dem Weg verloren? Waren es die Leute, die Alexei angegriffen hatten? Waren sie wegen mir gekommen? Wegen meines Babys? Hatten sie herausgefunden, dass ich hier war, allein und schutzlos? Das Geklapper wurde immer heftiger und lauter. Jemand versuchte definitiv einzubrechen. Oh Gott. Ich schlug mir die Hände vor den Mund. Dann: KLAPP! Ein kräftiger Tritt traf das schwere Holz. Die Tür wackelte im Rahmen. Es kam wieder. KLAPP! Ein Riss entstand in der Nähe des Schlosses. Ich sprang vom Bett und wich in die hinterste Ecke des Zimmers zurück. Ich war gefangen. Es gab kein Entkommen. KLAPP! Mit einem letzten, widerlichen Schlag zersplitterte die Tür und sprang auf. Sie schwang nach innen und knallte gegen die Wand. Eine Gestalt stand als Silhouette im Türrahmen, groß und breitschultrig, schwer atmend von der Anstrengung. Er trat in das Dämmerlicht des Zimmers. Ich presste mir die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Es war Alexei!
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