KAPITEL ACHT
Dimitri
„Tötet ihn.“
Die Worte entfuhren mir, bevor ich nachdenken konnte.
Meine Männer bewegten sich augenblicklich und hoben ihre Gewehre. Zwanzig Waffen waren auf meinen Bruder gerichtet.
Alexei zuckte nicht einmal. Er stand da in seinem teuren Anzug, umringt von meinen bewaffneten Wachen, und lächelte.
„Du wirst mich nicht töten, Dima“, sagte er leise. „Du hast nicht den Mut dazu.“
Wut durchfuhr mich wie ein Feuer. „Fordere mich nicht heraus.“
„Ich fordere dich nicht heraus. Ich durchschaue deinen Bluff.“ Er breitete die Arme aus. „Nur zu. Gib den Befehl. Lass deine Männer mich wie einen Hund in deiner Eingangshalle niedermähen. Aber du und ich wissen beide, dass du es nicht tun wirst.“
„Warum?“, fragte ich kalt. „Weil wir Brüder sind? Das ist in dem Moment gestorben, als du sie berührt hast.“
Seine grünen Augen fixierten meine. „Wenn du mich tötest, gibst du ihr Recht. Du beweist, dass du genau das bist, was sie fürchtet. Ein Monster, das jeden vernichtet, der sich ihm in den Weg stellt. Sogar die Familie.“
Ich hasste ihn dafür, dass er Recht hatte.
Mein Finger zuckte in Richtung meiner Pistole. Ich wollte es selbst tun. Ich wollte eine Kugel zwischen diese grünen Augen jagen und diesem Albtraum ein Ende setzen.
Aber ich konnte nicht.
Denn irgendwo über uns könnte Irina zusehen. Und wenn ich Alexei kaltblütig tötete, würde ich sie für immer verlieren.
„Waffen runter“, sagte ich leise.
Alexeis Lächeln wurde breiter. „Kluge Entscheidung.“
„Verschwindet“, sagte ich. „Sofort. Bevor ich es mir anders überlege.“
„Ich habe etwas für Irina mitgebracht.“ Er deutete auf den Wächter neben sich, der einen Korb trug. „Essen, Medizin. Dinge, die sie für die Schwangerschaft braucht.“
„Sie hat alles, was sie braucht.“
„Wirklich?“, fragte Alexei und zog eine Augenbraue hoch. „Oder hat sie alles, was du denkst, dass sie braucht? Da gibt es einen Unterschied, Bruder.“
„Hör auf, mich so zu nennen.“
„Warum?“ Er grinste. „Wir sind Brüder. Egal, wie sehr du mich hasst. Egal, wie sehr du dir wünschst, ich wäre tot. Wir sind immer noch Brüder. Wir haben immer noch dasselbe Blut. Dasselbe Gesicht. Dasselbe …“
„Genug.“ Langsam ging ich die Treppe hinunter. „Du wirst sie nicht sehen. Du wirst nicht mit ihr sprechen. Du wirst mein Haus verlassen und nie wiederkommen.“
„Nein.“
Drei Stufen vor dem Ende blieb ich stehen. „Was hast du gesagt?“
„Ich habe Nein gesagt.“ Alexei trat einen Schritt vor. „Ich gehe nicht, ohne sicherzustellen, dass du sie nicht wie eine Gefangene einsperrst.“
Ich knirschte mit den Zähnen. „Wie ich sie beschütze, geht dich nichts an.“
„Hör auf, dich selbst zu belügen, Dimitri.“ Alexeis Stimme wurde leiser. „Du hast sie nie berührt. Du hast sie nie für dich beansprucht. Du hast wie ein Narr gewartet, während ich …“
Bevor ich nachdenken konnte, handelte ich und überbrückte die Distanz zwischen uns mit zwei Schritten. Meine Faust traf mit der ganzen Wucht meiner Wut seinen Kiefer.
Alexei taumelte zurück. Blut spritzte aus seinem Mund. Doch er fiel nicht.
Er lachte.
„Da ist er ja“, sagte er und wischte sich das Blut von der Lippe. „Der wahre Dimitri. Nicht der kontrollierte Pakhan. Das bist du. Lass es raus!“
„Du weißt nichts über mich.“
„Ich weiß alles über dich.“ Er trat näher. „Ich weiß, dass du panische Angst hast. Ich weiß, dass du zum ersten Mal in deinem Leben die Kontrolle verlierst. Ich weiß, dass du lieber dieses ganze Anwesen niederbrennen würdest, als sie mir zu überlassen.“ Er lachte.
„Dann verstehst du, warum du gehen musst. Sofort.“
„Ich verstehe, warum du mich loswerden willst“, korrigierte Alexei. „Denn jeder Moment, den ich hier stehe, erinnert dich daran, dass ihr Körper mich erwählt hat. Und jetzt wächst ein Leben in ihr heran, das es beweist.“
Ich schlug ihm ins Gesicht, und er sank auf ein Knie.
Meine Wachen stürmten vor, und seine Wachen hoben sofort ihre Waffen.
„Ruhe bewahren!“, durchbrach Michails Stimme das Chaos. Er erschien oben auf der Treppe, sein Gesicht vor Wut verzerrt. „Alle! Sofort Ruhe bewahren!“
Alle erstarrten.
Michail kam langsam herunter. Sein Blick wanderte zwischen mir und Alexei hin und her. Ich sah die Enttäuschung in seinen Augen.
„Ich habe euch ein paar Stunden allein gelassen“, sagte er leise mit düsterer Stimme. „Und das ist der Dank? Ihr hättet euch beinahe in eurem eigenen Haus umgebracht.“
„Er weigerte sich zu gehen“, sagte ich kalt.
„Weil du sie gefangen hältst“, entgegnete Alexei und stand auf. „Ich habe ihr Geschenke mitgebracht, und er lässt mich nicht einmal zu ihr.“
„Sie will dich nicht sehen.“ Ich funkelte mich an.
„Soll sie es mir doch selbst sagen!“, zischte er.
„Genug!“, rief Michail und schlug mit seinem Stock auf den Marmorboden. Der Knall hallte wie ein Schuss wider. „Alexei, du lässt den Korb stehen und gehst. Dimitri, du gibst dem Mädchen, was Alexei mitgebracht hat, wenn es sicher ist. Und ihr beide haltet euch die nächsten 24 Stunden voneinander fern. Ist das klar?“
„Er darf nie wiederkommen“, sagte ich.
„Du kannst mich nicht von meinem Kind fernhalten“, sagte Alexei.
„Warte ab.“ Mein Blick verdunkelte sich.
„Jungs.“ Michails Stimme war jetzt leise. Traurig. „Eure Eltern würden weinen, wenn sie euch jetzt sehen könnten. Zwei Brüder, die einander mehr als alles andere liebten, sind nun bereit, sich wegen eines Mädchens gegenseitig umzubringen.“
„Sie ist nicht einfach nur ein Mädchen“, sagte ich leise, Tränen stiegen mir in die Augen.
Alexei hatte mich gebrochen. Ich hatte ihm alle Frauen erlaubt, die er wollte. Und er hatte mir die Einzige genommen, die ich hatte.
„Ich weiß.“ Michail legte mir eine Hand auf die Schulter. „Aber sie ist es nicht wert, alles für sie zu zerstören.“
„Doch, das ist sie“, sagte Alexei.
Ausnahmsweise stimmte ich meinem Bruder zu.
Michail seufzte schwer. „Dann bleibt mir keine Wahl.“ Er sah zwischen uns hin und her. „Ich berufe morgen Abend eine Versammlung mit allen Familien ein. Mit allen Pachans. Wir werden diese Angelegenheit dem Rat vorlegen. Er soll entscheiden, wer das Recht hat, sie zu beanspruchen.“
„Nein“, sagte ich sofort. „Das ist eine Familienangelegenheit. Sie sollte in diesem Haus bleiben.“
„Es ist keine Familienangelegenheit mehr, seit du beinahe einen Krieg in deiner Eingangshalle angezettelt hast“, sagte Michail entschieden. „Der Rat wird entscheiden. Und ihr beide werdet sein Urteil akzeptieren. Das ist endgültig.“
Er drehte sich um und ging. Seine Schritte hallten in der plötzlichen Stille wider.
Alexei sah mich an. Sein Gesicht war gezeichnet, doch seine grünen Augen brannten vor Entschlossenheit.
„Ich werde gewinnen“, sagte er leise.
„Der Rat wird sehen, dass du sie durch Täuschung entführt hast“, entgegnete ich.
„Das werden wir sehen.“ Er wischte sich das Blut vom Mund.
Er drehte sich zum Gehen um, seine Wachen folgten ihm. Der Korb stand auf dem Boden.
Ich sah ihm nach.
Und tief in meinem Inneren wusste ich, dass die morgige Nacht alles verändern würde.
Einer von uns würde gewinnen, einer würde verlieren.
Langsam stieg ich die Treppe hinauf, an meinen Wachen vorbei, und ging zu Irinas Zimmer.
Leise schloss ich die Tür auf.
Sie stand am Fenster. Sie drehte sich um, als ich eintrat. Ihre bernsteinfarbenen Augen waren vom Weinen gerötet. Ohne nachzudenken, schloss ich sie in die Arme und roch an ihrem vertrauten Shampoo.
„Dimitri …“
„Morgen Abend findet eine Ratssitzung statt“, unterbrach ich sie. „Alle Familien werden entscheiden, zu wem du gehörst.“
„Ich will nicht …“
„In unserer Welt gehörst du demjenigen, den der Rat bestimmt. Und ich werde dafür sorgen, dass sie entscheiden, dass du mir gehörst.“
„Was, wenn sie es nicht tun?“ Ihre Stimme sank zu einem Flüstern. „Was wirst du tun, Dimitri? Wenn sie mich Alexei geben? Wirst du es akzeptieren? Oder wirst du einen Krieg beginnen?“
Ich sah in ihr schönes, aber verängstigtes Gesicht. In die Frau, die ich mehr liebte als mein eigenes Leben.
„Ich werde alles tun, um dich zu behalten“, sagte ich leise. „Selbst wenn es bedeutet, die ganze Welt niederzubrennen.“
Ihre Augen weiteten sich. „Das kannst du nicht ernst meinen.“
„Ich meine jedes Wort.“
Bevor sie antworten konnte, erschien einer meiner Wachen in der Tür. Sein Gesicht war bleich.
„Sir“, sagte er eindringlich. „Sie müssen schnell kommen. Es gab einen Angriff.“
Mir stockte der Atem. „Was für ein Angriff?“
„Auf Alexeis Konvoi. Jemand hat sie auf der Straße überfallen. Es gab Tote und Verletzte. Und Sir …“ Er zögerte. „Alexei wird vermisst.“