KAPITEL SIEBEN
Irina
„Mach mich dazu, kleiner Bruder.“ Dmitris Stimme war eiskalt.
Ich presste mich an Dimitris Brust, mein ganzer Körper zitterte. Ich spürte sein Herz unter meiner Wange pochen. Ich spürte die Anspannung in jedem Muskel. Ich spürte die Wut, die von ihm ausging wie Hitze.
Das war meine Schuld.
Das alles war meine Schuld.
„Ihr beide, genug!“, durchschnitt Michails Stimme den Raum wie ein Messer. „Alexei, steck deine Waffen weg. Sofort!“
Alexei rührte sich nicht. Seine Augen blieben auf Dmitri gerichtet.
Ich hatte Dimitri in den vier Jahren, in denen ich ihm diente, noch nie so erlebt, ich hatte ihn noch nie die Kontrolle verlieren sehen. Er war immer ruhig, immer gefasst und hatte sich und alle um ihn herum stets im Griff.
Doch jetzt brannten seine ozeanblauen Augen vor einer Wut, die mich entsetzte.
„Bitte“, flüsterte ich an seine Brust. „Bitte hör auf.“
Dimitris Arme schlossen sich fester um mich. „Schon gut“, murmelte er. „Ich lasse nicht zu, dass er dich mitnimmt.“
„Dimitri, lass sie los“, sagte Michail bestimmt. „Das hilft nicht.“
„Sie ist verzweifelt. Sie braucht …“
„Sie braucht, dass ihr beide aufhört, euch wie Tiere zu benehmen“, unterbrach Michail ihn. „Sieh sie dir an. Sie hat panische Angst. Du machst alles nur noch schlimmer.“
Dimitri sah mich an. Sein Gesichtsausdruck wurde etwas weicher, als er mein Gesicht sah.
„Es tut mir leid“, sagte er leise. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Du hast mich nicht erschreckt“, log ich. „Ich … ich kann es einfach nicht mit ansehen, wie ihr euch gegenseitig verletzt, bitte.“
Zögernd ließ er mich los, und ich vermisste sofort seine Wärme.
Alexei trat einen Schritt vor, seine Hände zitterten. „Irina, komm mit mir, ich bringe dich irgendwohin, wo er dich nicht kontrollieren kann.“
„Sie kontrollieren?“, rief Dimitri erneut lauter. „Ich beschütze sie!“
„Wovor denn? Vor mir? Ich bin der Vater ihres Kindes!“
„Du bist ihr fremd“, entgegnete Dimitri. „Sie kennt dich nicht. Sie vertraut dir nicht. Warum sollte sie mit dir irgendwohin gehen?“
„Wegen des Babys …“
„Hör auf, das Baby als Ausrede zu benutzen!“, brüllte Dimitri. „Dir ist das Baby egal. Dir geht es nur ums Gewinnen. Dir geht es nur darum, mir etwas wegzunehmen, weil du es nicht ertragen kannst, dass ich etwas habe, was du nicht hast!“
„Das stimmt nicht“, sagte Alexei. Doch seine Stimme zitterte leicht.
„Ist es das nicht?“, lachte Dimitri bitter auf. „Du warst schon immer so. Immer nur darauf aus, was ich habe. Immer nur darauf aus, es mir wegzunehmen. Nun, du kannst sie nicht haben. Ich werde sterben, bevor ich zulasse, dass du sie mir nimmst.“
„Dann stirb.“ Alexeis Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber sie klang tödlich.
Michail trat erneut zwischen sie. „Das reicht! Ihr gebt jetzt Ruhe, oder ich lasse euch in getrennte Flügel einsperren, bis ihr euch wieder wie Erwachsene benehmt.“
„Sie bleibt bei mir“, sagte Dimitri trotzig.
„Sie kommt in einen neutralen Flügel“, korrigierte Michail. „Zu den Wachen, die ich auswähle. Und keiner von euch wird sie ohne meine Erlaubnis sehen. Ist das klar?“
„Nein“, sagten beide Brüder gleichzeitig.
„Das war keine Frage“, sagte Michail kalt. „Das war ein Befehl. Und du wirst ihn befolgen, oder du wirst die Konsequenzen tragen, die dir nicht gefallen werden.“
Stille breitete sich aus.
Ich blickte zwischen den beiden Brüdern hin und her.
Sie waren sich so nahegestanden. Sie hatten zusammen gekämpft, zusammen geblutet und einander gegen die Welt beschützt.
Jetzt standen sie sich wie Feinde gegenüber.
Wegen mir.
„Ich würde lieber sterben, als von ihr getrennt zu werden“, sagte Dmitri.
Ohne mich umzudrehen, führte er mich aus ihrer Nähe.
Und innerhalb weniger Stunden änderte sich alles.
Dmitri handelte schnell und effizient. Wachen wurden versetzt. Meine Sachen wurden in ein anderes Zimmer in seinem Flügel gebracht, weiter entfernt von meinem Schlafzimmer.
Er umstellte den Flur mit Wachen, die nur ihm treu ergeben waren. Männer, die lieber ihr Leben geben würden, als jemanden durchzulassen.
Ich saß auf der Kante meines neuen Bettes und sah ihm zu, wie er Befehle erteilte. Ich sah ihm dabei zu, wie er sich von dem sanften Mann, den ich liebte, in jemanden verwandelte, den ich kaum wiedererkannte.
„Dimitri“, sagte ich leise. „Das ist nicht nötig. Ich brauche nicht …“
„Du brauchst Schutz“, unterbrach er mich. „Vor ihm. Vor jedem, der versuchen würde, dich mitzunehmen.“
„Aber …“
„Keine Widerrede, Irina.“ Seine Stimme war fest. „Du bleibst hier. Du gehst nicht ohne meine Erlaubnis. Du sprichst mit niemandem, ohne dass ich dabei bin. Verstanden?“
Ich starrte ihn an. „Du machst mich zu deiner Gefangenen.“
„Ich beschütze dich.“
Er ging zur Tür, hielt inne und sah mich an.
„Ich lasse dir Essen bringen. Medizin gegen die Krankheit. Alles, was du brauchst. Aber du bleibst in diesem Zimmer. Ist das klar?“
„Bitte“, flüsterte ich. „Tu das nicht.“
„Ich tue das, weil ich dich liebe“, sagte er. „Auch wenn du das jetzt nicht sehen kannst.“
Dann ging er, und ich hörte das leise Klicken des Schlosses.
Ich rannte zur Tür und versuchte, sie zu öffnen. Sie rührte sich nicht.
„Dimitri!“, rief ich. „Dimitri, bitte!“
Es kam keine Antwort.
Ich presste meine Stirn gegen die Tür. Tränen strömten mir über die Wangen.
Er hatte mich eingesperrt.
Stunden vergingen. Ein Dienstmädchen brachte Essen. Sie sah mich nicht an. Sie stellte das Tablett nur ab und ging schnell wieder.
Die Tür schloss sich hinter ihr wieder ab.
Ich konnte nichts essen. Mir war übel vor Angst.
Was habe ich getan?
Was habe ich entfesselt?
Die Nacht brach herein, und es wurde still im Haus. Ich lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Ich presste meine Hand auf meinen Bauch.
Da hörte ich Schreie von irgendwo unten. Wütende Stimmen hallten durch das Haus.
Ich stand auf und ging zum Fenster. Von meinem Zimmer aus konnte ich in die Eingangshalle hinuntersehen.
Alexei stand am Eingang, flankiert von seinen Wachen. Er trug einen makellosen schwarzen Anzug. Sein Haar war ordentlich frisiert. Er wirkte gefasst, mächtig und gefährlich.
Einer seiner Wachen trug etwas, das wie ein Geschenkkorb aussah.
Der leichtsinnige Alexei Volkov hatte einer Frau Geschenke mitgebracht?
„Ich verlange, die Mutter meines ungeborenen Kindes zu sehen!“, hallte seine Stimme durch das Herrenhaus.
Mir stockte der Atem. Ich presste die Hände gegen die Scheibe und beobachtete ihn.
Dimitri erschien oben auf der großen Treppe. Er stand da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, flankiert von seinen Wachen. Ich konnte nur seinen Rücken sehen.
„Sie will dich nicht sehen“, rief Dimitri hinunter.
„Soll sie es mir doch selbst sagen“, forderte Alexei.
„Du bist hier nicht willkommen“, sagte Dmitri ruhig. „Geh jetzt.“
„Ich gehe nirgendwohin ohne sie.“
Es wurde still.
Die Wachen zu beiden Seiten rückten näher. Ihre Hände wanderten zu den Waffen.
Das würde in einem Blutbad enden.
„Bitte“, flüsterte ich und presste meine Stirn gegen die Scheibe. „Bitte tu das nicht.“
Aber sie konnten mich nicht hören. Niemand konnte mich hören.
Dimitri trat eine Stufe die Treppe hinunter. Seine Stimme wurde eiskalt.
„Verlass mein Haus, Bruder. Solange du noch kannst.“
Alexeis Hand wanderte zu seiner Waffe. „Nicht ohne sie.“
Dimitri zuckte nicht. Er rührte sich nicht.
Er wandte sich einfach seinen Männern zu und gab den Befehl, der den letzten Rest ihrer Kameradschaft zerstörte.
„Tötet ihn.“