Prolog
Die Kälte der Nacht kroch wie eine lebendige Macht durch die stille Ebene. Der Wind trug das leise Flüstern der Blätter mit sich, ein Klang, der an Worte erinnerte, die keiner verstehen konnte. Vor dem Eingang des Düsterwalds, dessen schwarze Baumkronen sich zu einem düsteren Dach vereinten, stand ein Mann. Er zögerte. Die Fackel in seiner Hand war kaum mehr als ein schwacher Lichtschein, der gegen die Dunkelheit ankämpfte. Die Flammen flackerten, als hätte selbst das Feuer Angst vor dem, was jenseits der Baumgrenze lag. Sein Atem ging flach, und in seinen Augen lag ein Schatten aus Zweifeln – und aus Wissen. Hinter ihm lag die Sicherheit der bekannten Welt. Felder, die von der Dämmerung bedeckt waren, ein Dorf mit leuchtenden Fenstern, in denen Menschen lachten, sich Geschichten erzählten, die aus diesem Wald stammten. Geschichten, die ihn hierhergebracht hatten. Man sagte, der Wald sei verflucht. Man sagte, er verschlinge die Seelen derer, die ihn betraten. Aber noch mehr fürchteten die Menschen das, was der Wald verbarg – und was manchmal aus ihm herauskam.
Der Mann zog tief Luft, seine Hand ballte sich um den Griff seines Dolches. „Es gibt kein Zurück“, murmelte er, die Worte verloren im Rauschen des Windes. Mit einem letzten Blick zurück wandte er sich dem Eingang zu. Die Fackel vor sich haltend, trat er in die Finsternis. Die Schatten schlossen sich um ihn wie eine zweite Haut. Die Dunkelheit war nicht nur ein Mangel an Licht – sie war lebendig. Sie pulsierte in den Tiefen des Düsterwalds, zog sich zwischen die knorrigen Äste und verschlang alles, was in ihre Reichweite geriet. Kein Laut war zu hören, außer dem gelegentlichen Knarren der Bäume, das wie das Stöhnen eines Sterbenden klang. Ein fahles Mondlicht schaffte es, durch die schweren Wolken zu dringen, doch seine Strahlen blieben am Waldrand hängen, als fürchteten sie sich davor, weiterzugehen.
Am Rand der Finsternis stand eine junge Frau. Ihre Stiefel waren mit Schlamm bedeckt, und ihr Atem ging in unregelmäßigen Stößen, während sie die Umgebung musterte. In der Ferne hörte man das schrille Schreien eines Vogels – oder war es ein Schrei aus etwas Tieferem, Unnatürlichem? Niemand betrat den Düsterwald, ohne einen Grund zu haben. Manche suchten Antworten. Andere suchten Vergessen. Aber alle fanden das Gleiche: den Verlust ihrer Seele. Die Frau drückte die Ledertasche an ihre Brust. Es war kein gewöhnliches Gepäck – es war eine Bürde, schwerer als jede Last, die sie je getragen hatte. Ihre Augen, so dunkel wie die Schatten vor ihr, flackerten mit einem Ausdruck, der zwischen Entschlossenheit und Angst schwankte. „Wenn es wirklich dort ist …“, flüsterte sie. Die Worte verhallten sofort, verschluckt von der schier undurchdringlichen Stille des Waldes.
Ein leichter Windstoß ließ die Blätter an den Rändern rascheln, und es klang fast, als würde der Wald sie auslachen. Es gab Geschichten über diesen Ort. Geschichten von Wanderern, die nie zurückkehrten. Von Dingen, die in der Dunkelheit lauerten, und von einer uralten Macht, die tief in seinem Herzen schlummerte. Sie zögerte. Noch konnte sie umkehren. Noch konnte sie den sicheren Weg zurückgehen, zurück zu einer Welt, in der die Dunkelheit nur die Nacht bedeutete. Aber das war eine Lüge. Für sie gab es keine Sicherheit mehr. Mit einem letzten tiefen Atemzug machte sie den ersten Schritt. Die Schatten griffen nach ihr, umschlangen ihre Beine wie eine kalte Hand, die nicht mehr losließ. Hinter ihr verblasste die Welt, die sie gekannt hatte. Vor ihr öffnete sich der Weg in den Düsterwald.
Die Welt hinterließ keine Spuren in diesem Wald. Die Geräusche der Nacht – das Zirpen der Grillen, das Knistern der fernen Feuer – endeten abrupt an der Grenze, wo die ersten Bäume wie uralte Wächter in die Höhe ragten. Selbst der Wind, der bis dahin die Wangen der Reisenden kühlte, wurde hier erstickt, als ob der Wald nicht bereit war, den Atem der Außenwelt in seine Tiefen zu lassen. Die junge Frau schritt weiter, jeder Schritt ein mühsames Unterfangen, als würde der Boden sie mit unsichtbaren Händen zurückhalten. Der Weg, der sie bisher geführt hatte, löste sich vor ihren Augen in knorrige Wurzeln und matschigen Untergrund auf. Ihre Laterne, das einzige Licht, das sie bei sich trug, flackerte und erhellte nur wenige Schritte vor ihr. Die Schatten schienen zu atmen. Sie bewegten sich, auch wenn sie sich selbst nicht bewegte, schienen sich zu verdichten, je tiefer sie ging.
Sie hatte nicht erwartet, dass der Wald sie willkommen heißen würde. Doch das Gefühl, dass sie nicht allein war, ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen. Ein leises Rascheln ertönte zu ihrer Linken. Dann zu ihrer Rechten. Ihr Herz raste, aber sie hielt die Laterne fester. „Es ist nur der Wind“, sagte sie, obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte. Ihre Schritte wurden schneller, ihre Atmung flacher. Der Wald schien sich zu verschieben, als ob die Bäume ihre Positionen änderten, um ihr den Weg zu versperren. Und dann, ganz plötzlich, war da Stille. Sie blieb stehen, ihr Blick zuckte nervös zwischen den Bäumen hin und her. Nichts bewegte sich mehr. Kein Rascheln, kein Wind, kein Atem außer ihrem eigenen.
Dann, ein Laut. Ein leises, schleifendes Geräusch, wie das Kratzen von Nägeln auf Holz. Es kam aus der Dunkelheit, weiter vorne. Sie wusste, dass sie weitergehen musste. Dass sie kommen musste, um das zu finden, wonach sie suchte. Aber ihre Füße weigerten sich, auch nur einen weiteren Schritt zu machen. „Es ist nichts“, flüsterte sie und biss die Zähne zusammen. „Es kann nichts sein.“ Und doch – da war es wieder. Näher. Tiefer. Ein unheimlicher Laut, der wie ein Atemzug klang, aber zu groß war, zu schwer, um von einem Menschen zu stammen. Die Schatten vor ihr bewegten sich, langsam, bedrohlich. Und sie wusste: Der Weg in den Düsterwald hatte sie schon längst verschluckt.