Die Nacht ist still, doch mein Kopf ist alles andere als ruhig. Simons Lächeln und die leichten, ungesagten Dinge, die zwischen uns schwebten, lassen mich wachliegen. Ich drehe mich von einer Seite auf die andere, bis ich schließlich aufstehe, mir einen dicken Pullover überziehe und nach unten gehe. Vielleicht hilft eine Tasse Tee, meine Gedanken zu ordnen.
Als ich in die Küche komme, überrascht mich das Licht, das aus dem Wohnzimmer fällt. Ich gehe vorsichtig um die Ecke und sehe Simon auf der Couch sitzen. Vor ihm steht ein halb geleerter Becher Kaffee, und in seinen Händen hält er ein Fotoalbum.
„Kannst du auch nicht schlafen?“ frage ich leise.
Simon schaut hoch, seine Augen wirken warm und nachdenklich. „Ich wollte dich nicht wecken.“
„Das hast du nicht.“ Ich setze mich neben ihn und sehe auf das geöffnete Album. Es sind Bilder aus unserer Jugend. Mein Bruder, Simon und ich, lachend am See. „Das sind Erinnerungen.“
„Ja.“ Er dreht eine Seite um und bleibt bei einem Bild stehen, auf dem wir gemeinsam ein Iglu bauen. „Ich habe das Gefühl, als wäre das ein anderes Leben gewesen.“
„Es war einfacher damals.“ Ich streiche über die Ecke des Fotos, meine Finger berühren zufällig seine Hand, und ich ziehe sie hastig zurück.
Simon lacht leise. „Und jetzt ist alles so kompliziert.“
„Das ist es.“ Ich lehne mich zurück und blicke in die Flammen des Kamins. „Aber manchmal frage ich mich, ob wir die Dinge nicht komplizierter machen, als sie sein müssen.“
Er sieht mich an, sein Blick schwerer als sonst. „Das könnte stimmen. Aber manche Wunden brauchen Zeit, um zu heilen.“
Ich nicke, unfähig, etwas darauf zu sagen. Die Stille dehnt sich aus, doch sie fühlt sich nicht unangenehm an. Schließlich spricht Simon wieder. „Peggy, wenn du alles hinter dir lassen könntest – die Vergangenheit, die Enttäuschungen – würdest du es tun?“
Die Frage trifft mich. Ich denke darüber nach und antworte schließlich ehrlich. „Ich weiß es nicht. Ich glaube, die Vergangenheit macht uns zu dem, was wir sind. Aber manchmal… ja, manchmal wünschte ich, ich könnte einfach neu anfangen.“
„Vielleicht kannst du das.“ Seine Stimme ist leise, fast ein Flüstern. Doch bevor ich darauf antworten kann, steht er auf. „Ich glaube, ich gehe schlafen. Gute Nacht, Peggy.“
„Gute Nacht.“ Ich sehe ihm nach, spüre das Gewicht seiner Worte. Kann ich wirklich neu anfangen? Und wenn ja, mit ihm?
Am nächsten Morgen scheint die Sonne hell durch die Fenster, und die Wärme vertreibt die Kälte des vergangenen Abends. Lily stürmt ins Zimmer, noch immer voller Energie. „Mama, Simon hat gesagt, er zeigt mir heute, wie man Schlittschuh läuft! Kann ich, bitte?“
„Wenn du warm angezogen bist, ja.“ Ich kann ihr nicht widerstehen, besonders nicht, wenn ihre Augen so leuchten. Und vielleicht wird ein Tag draußen uns allen gut tun.
Simon kommt kurz darauf herein, eine Tasche mit Schlittschuhen über der Schulter. „Bereit?“
„Bereit!“ Lily zieht schon ihre Mütze über und rennt zur Tür. Ich werfe Simon einen dankbaren Blick zu. „Das bedeutet ihr so viel. Danke.“
„Es macht mir auch Spaß.“ Er zuckt mit den Schultern und schenkt mir ein Lächeln, das mein Herz schneller schlagen lässt.
Am gefrorenen See angekommen, ist Lily sofort Feuer und Flamme. Simon hilft ihr, die Schlittschuhe anzuziehen, und zeigt ihr geduldig, wie sie das Gleichgewicht halten kann. Ich bleibe am Rand stehen und sehe ihnen zu. Es ist rührend, wie viel Geduld er mit ihr hat. Lily fällt ein paar Mal hin, doch Simon hilft ihr immer wieder auf.
„Mama, kommst du auch?“ Lily winkt mir begeistert zu. „Es macht so viel Spaß!“
„Ich weiß nicht…“ Ich zögere, doch Simon greift nach einer zweiten Tasche.
„Ich habe dir welche mitgebracht. Komm schon, es wird dir gefallen.“
Ich rolle mit den Augen, ziehe aber die Schlittschuhe an. Simon kommt zu mir, bietet mir seine Hand an, um mich auf die Eisfläche zu führen. „Ganz langsam. Ich lass dich nicht fallen.“
Seine Hand ist warm und fest, und ich halte sie ein bisschen länger als nötig. „Ich vertraue dir.“
„Das solltest du.“ Er grinst, doch sein Tonfall hat etwas Ernsthaftes, das mich innehalten lässt. Wir gleiten vorsichtig über das Eis, während Lily vor uns herumläuft. Simon führt mich geduldig, bis ich mich sicherer fühle.
Später, zurück im Haus, wärmen wir uns mit heißer Schokolade auf. Lily erzählt meiner Mutter aufgeregt von ihrem Tag, während Simon und ich am Esstisch sitzen.
„Danke für heute“, sage ich schließlich. „Lily hat so viel Spaß gehabt.“
„Und du?“ fragt er leise.
„Ich auch“, gebe ich zu. „Es war schön, mal wieder zu lachen.“
„Das solltest du öfter tun.“ Sein Blick hält meinen fest, und für einen Moment fühle ich mich, als wären wir die einzigen Menschen im Raum.
Am Abend, nachdem Lily eingeschlafen ist, beschließe ich, frische Luft zu schnappen. Ich gehe nach draußen und setze mich auf die Veranda, die in das Mondlicht getaucht ist. Zu meiner Überraschung folgt mir Simon kurz darauf.
„Schöner Abend, oder?“ fragt er und setzt sich neben mich.
„Ja.“
„Peggy…“ Er zögert, dann spricht er weiter. „Ich weiß, dass du durch viel gegangen bist. Aber ich will, dass du weißt, dass ich hier bin. Egal, was passiert.“
Seine Worte berühren etwas Tiefes in mir, doch ich weiß nicht, wie ich antworten soll. Schließlich sage ich nur: „Danke, Simon.“
Wir sitzen noch lange dort, schweigend, aber nicht unangenehm. Der Schnee glitzert im Mondlicht, und ich fühle zum ersten Mal seit langer Zeit, dass etwas in mir heilen könnte. Vielleicht ist ein Neuanfang wirklich möglich.