Leahs Sicht
Ich weiß nicht, ob ich lebend aus dem Ort herauskomme, zu dem ich gehe, aber ich bin bereit, es zu versuchen. Wenn diese Mission die einzige Möglichkeit ist, mich selbst zu retten, dann habe ich keine Wahl – ich muss es tun. Der Schlaf wollte die ganze Nacht nicht zu mir kommen. Immer wieder blickte ich auf die Uhr, zählte die Stunden herunter, während die Angst mir die Brust zuschnürte. Irgendwann muss mich die Erschöpfung übermannt haben, obwohl ich mich nicht erinnern kann, wann.
Als ich aufwachte, verriet mir das Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel, dass ich verschlafen hatte. Mein Blick schoss zur Uhr – 7:00 Uhr morgens. Panik durchströmte mich. Ich sprang aus dem Bett und hastete ins Bad, die kalten Fliesen bissen in meine Füße. Ich drehte den Hahn auf, das Geräusch des Wassers, das in die Wanne prasselte, laut gegen die morgendliche Stille. Meine Hände zitterten leicht, als ich mir Wasser ins Gesicht spritzte, um den Rest des Schlafnebels zu vertreiben. Heute war der Tag – die Mission wartete.
Ich schlüpfte in die Kleidung, die Finn für mich gekauft hatte. Als ich vor dem Spiegel stand, starrte mich ein Fremder an. Das elegante Outfit schmiegte sich perfekt an meine Figur und verwandelte mich in jemanden, den ich kaum wiedererkannte. Für einen Moment stieß ich ein trockenes Lachen aus. Vielleicht bin ich wirklich für diesen Job gemacht. Natürlich machte ich nur Spaß – oder versuchte, mich selbst zu überzeugen.
Die Mappe, die Finn mir gegeben hatte, unter den Arm geklemmt, richtete ich meine Haltung auf und trat mit bedachter Grazie hinaus. Die Morgenluft war kühl auf meiner Haut, als ich nach draußen ging. Ein schwarzes Auto wartete am Bordstein, der Motor summte leise, als hätte es die ganze Zeit auf mich gewartet. Ohne zu zögern glitt ich hinein, die Tür klickte hinter mir zu.
Als das Auto losfuhr, konzentrierte ich mich darauf, meinen Atem zu beruhigen. Der Fahrer sprach nicht, und ich stellte keine Fragen. Wir glitten durch die Straßen, bis wir vor einem gemütlichen Café anhielten.
Ich war nicht die Person, die er erwartete, aber wir hatten die Identitäten so überzeugend getauscht, dass ich für ihn diejenige war, auf die er wartete. Ich musste schnell handeln, die Informationen bekommen, für die ich gekommen war, bevor er die Wahrheit erkannte und alles auseinanderfiel.
Mit einem gezwungenen, selbstsicheren Lächeln auf den Lippen ging ich direkt zu dem Tisch, an dem er saß, seine Augen huschten nervös durch das Café.
„Hi, du bist Alex, richtig?“ fragte ich, meine Stimme leicht und freundlich.
Sein Kopf schnellte hoch, und er nickte hastig. „Ja, das bin ich. Bist du… Hannah?“
Ich streckte meine Hand aus und hielt mein Lächeln aufrecht, auch wenn mein Herz wie wild in meiner Brust hämmerte.
„Freut mich, dich kennenzulernen“, erwiderte ich glatt.
Alex’ Händedruck war fest, aber leicht feucht – ein verräterisches Zeichen, dass er genauso angespannt war wie ich. Gut. Nervöse Menschen ließen sich leichter manipulieren.
„Ich war mir nicht sicher, ob du es schaffen würdest“, sagte er und blickte im Café umher wie jemand, der Angst hatte, beobachtet zu werden.
„Der Verkehr war wahnsinnig“, entgegnete ich beiläufig und ließ mich auf den Stuhl ihm gegenüber sinken. „Aber das hier hätte ich auf keinen Fall verpasst.“ Ich beugte mich leicht vor, senkte meine Stimme. „Du hast keine Ahnung, wie viel ich riskiert habe, um hierherzukommen.“
Das schien zu wirken. Seine Schultern entspannten sich ein Stück, und er stieß ein humorloses Lachen aus. „Ja, ich verstehe. Ich war den ganzen Morgen paranoid. Es fühlt sich an, als wären heutzutage überall Augen.“
„Deshalb müssen wir klug sein“, sagte ich leise und hielt den Blickkontakt. „Also… sag mir, wie weit sind wir mit dem Plan? Sie haben mir nicht alle Details gegeben, bevor sie mich hergeschickt haben.“
Alex zögerte und rieb sich den Nacken. „Du wurdest nicht gebrieft?“
„Nicht vollständig. Er sagte, du würdest mich einweihen.“ Ich fügte meiner Stimme einen leichten scharfen Unterton hinzu, als wäre ich beleidigt, außen vor gelassen zu werden. „Ich dachte, wir stünden hier auf derselben Seite.“
Das wirkte. Alex’ Gesicht verhärtete sich entschlossen. „Du hast recht. Tut mir leid. Es ist nur… die ganze Sache ist heikel. Wenn das rauskommt—“
„Das wird es nicht“, unterbrach ich ihn glatt. „Also, wie lautet der Plan?“
Er beugte sich näher heran und senkte die Stimme, bis sie fast ein Flüstern war.
„Wir nehmen das Logistikunternehmen der Gang ins Visier. In zwei Tagen bewegen sie eine Lieferung, und wir werden hart zuschlagen. Ihre Lastwagen außer Gefecht setzen, die Ladung abfangen und ihre Lieferkette lahmlegen.“ Er sah sich erneut um und fügte dann hinzu: „Wenn das funktioniert, wird es sie endgültig ruinieren, obwohl wir sie bereits ruiniert haben, aber das hier wird der letzte Schlag sein.“
Ich zwang mich, meinen Ausdruck neutral zu halten, auch wenn meine Gedanken rasten. Das war es – die Gelegenheit, die ich brauchte.
„Das ist… ehrgeizig“, sagte ich mit einem kleinen Lächeln. „Aber brillant. Haben wir Insider im Logistikteam?“
Alex nickte. „Zwei Fahrer und ein Lagerangestellter. Sie werden uns hineinlassen. Aber wir brauchen noch jemanden, der das Gerät am Hauptlastwagen anbringt.“
Ich legte den Kopf nachdenklich schief. „Vielleicht bin ich dafür zuständig.“
Er musterte mich einen langen Moment, dann nickte er langsam. „Ja. Vielleicht schon.“
„Das ist eine brillante Idee“, sagte ich mit ruhiger Stimme, obwohl meine Handflächen anfingen zu schwitzen. „Ich hoffe nur, dass es funktioniert… damit wir Finn endlich endgültig ausschalten können.“
Alex grinste daraufhin, ein dunkles Leuchten flackerte in seinen Augen.
„Jonas wird sehr erfreut sein, vom Ergebnis zu hören“, sagte er mit einem tiefen Kichern. Er griff in seine Tasche und zog einen schlanken schwarzen Laptop heraus, den er mit einem leisen Schlag auf den Tisch stellte.
„Ich möchte dir unsere nächste Mission nach dieser zeigen“, fuhr er fort und klappte den Bildschirm auf. „Sobald wir dieses Unternehmen zerstört haben, gehen wir direkt zu seiner anderen Operation über. Jedes Detail ist ausgearbeitet. Alles, was bleibt, ist, dass wir es ausführen.“
Ich zwang mir ein Lächeln auf und nickte leicht, auch wenn mein Herz in meiner Brust hämmerte. Bleib ruhig, Leah. Du darfst dir jetzt nichts anmerken lassen.
Alex schwieg einen Moment, seine Finger schwebten über der Tastatur, als wäre er in Gedanken versunken. Dann sah er langsam zu mir auf.
„Warte…“ Seine Stimme war jetzt schärfer, jedes Wort von Misstrauen durchzogen. „Wer hast du nochmal gesagt, dass du bist?“
Sein durchdringender Blick bohrte sich in meinen, kalt und tödlich.
Panik durchströmte mich wie Eiswasser in meinen Adern. Bin ich aufgeflogen? Meine Kehle schnürte sich zu, während mir der Schweiß ausbrach. Ist es das? Ist das der Moment, in dem ich sterbe?
Vater… Herr, hilf mir.