Prolog
„Keine Sorge, Süsse. Das ist dein erstes Jahr. Die Chance, dass du gezogen wirst, ist so klein, das glaubst du gar nicht", erklärte mir meine grosse Schwester Ashley. Heute war der Tag der Ernte und ich gehörte zum ersten Mal zu den Kindern, die gezogen werden konnten, um Tribute für unseren Distrikt zu werden. Und ich hatte furchtbare Angst davor.
Und bevor ich es vergesse: Mein Name ist Lucy Ozean. Ich war 12 Jahre alt und anders als der Rest der Familie hatte ich wilde rote Haare mit blauen Augen. Deswegen war ich in meiner Familie vom Aussehen her eine kleine Aussenseiterin. Denn die anderen hatten alle blonde Haare und grüne Augen. Meine Mutter sagte immer, ich hatte mein Aussehen von meinem Vater geerbt, der leider vor drei Jahren bei einem Testflug eines neuen Howercrafts ums Leben gekommen war. Distrikt 6 war nämlich zuständig für die Transportmittel. Aber die Leute die hier wohnten mochten das Reisen seltsamerweise überhaupt nicht. Ich lebte mit meiner Grossmutter Tilde, meiner Mutter Annabell, meiner grossen Schwester Ashley und meiner kleinen Schwester Megan in Distrikt 6. Wir waren, wie viele Familien in diesem Distrikt, sehr arm.
Nach meiner Grossmutter war unsere Familie zu grösserem bestimmt, als das, was wir wirklich waren. Wir sollten über ganz Panem herrschen, sagte sie. Jeden Tag erzählte sie uns, dass unsere Familie von Snows Familie über den Tisch gezogen wurde. Unsere Vorfahren sollten nämlich die Königsfamilie gewesen sein, die über ganz Panem herrschte.
Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass meine Grossmutter seit dem Tod meines Grossvaters einen totalen Dachschaden hatte? Jetzt wisst ihr es jedenfalls. Meine arme Grossmutter war verrückt und der Rest meiner Familie konnte über ihr Geschwafel, das sie jeden Tag von sich gab, lediglich den Kopf schütteln.
Obwohl wir arm waren, waren wir hier im Distrikt nicht unbekannt. Ganz im Gegenteil. Jede andere Familie kannte uns und das nur meinetwegen. Ich war sozusagen der Sonnenschein von Distrikt 6 oder wie es meine Grossmutter zu sagen pflegte: ein Zeichen der Hoffnung und der Liebe. Alle liebten mich und meine für gewöhnlich fröhliche Art. Ich sang den ganzen Tag freudige Lieder und tanzte jede freie Minute dazu mit. Meine gute Laune steckte ganz klar die Anderen an. Meine Mutter meinte sogar, dass unsere Familie nur wegen mir noch nicht untergegangen ist, denn wirklich viele Familien halfen uns finanziell. Ich liebte es einfach zu leben, obwohl es so schrecklich sein konnte. Und das hatte nur einen einzigen Grund: Die Hungerspiele.
Heute war es wieder soweit. In wenigen Stunden werden wieder ein weiblicher und ein männlicher Tribut aus dieser verdammten Glaskugel gezogen, die sich dann wieder bis zum Tode bekämpfen mussten und wenn einer von ihnen Glück hatte, überlebte sogar einer von Distrikt 6. Es war nicht so, dass wir immer schlechte Tribute hatten, ganz im Gegenteil. Die Kämpfer aus Distrikt 6 schafften es eigentlich immer ziemlich weit, aber eben nicht immer bis zum Schluss...
„Du siehst in dem Kleid wunderschön aus, Liebes", sagte meine Mutter zu mir, während sie mir meine Haare kunstvoll hochsteckte. „Mir wäre es lieber, wenn ich es zu einem anderen Anlass tragen würde", gab ich traurig zurück.
„Glaub mir, Lucy", mischte sich jetzt auch Ashley mit einem Lächeln ein,„wir sind schneller wieder zu Hause, als du schauen kannst. Und dann machen wir uns einen gemütlichen Abend und feiern, dass ich nicht mehr Tribut werden kann, da das ja mein letztes Jahr ist."
„Sag mal, bist du total bescheuert?!", fuhr ich sie an,„wie kannst du das jetzt erwähnen? Du reibst mir unter die Nase, dass es dein letztes Jahr ist, obwohl du genau weisst, dass das mein ERSTES verdammtes Jahr ist! Und es kommt noch schlimmer: Megan muss erst nächstes Jahr an der Ernte teilnehmen."
„Aber das weiss ich doch! Es tut mir Leid, okay? Ich wollte dich doch nur irgendwie ein bisschen aufmuntern. Ich dachte du freust dich dann für mich. Schliesslich musste ich das alles genau so lange durch machen wie du es noch vor dir hast", erklärte sie mir und nahm mich zaghaft in den Arm.
„Natürlich freue ich mich für dich! Es ist nur so, dass ich so furchtbare Angst habe, verstehst du?"
„Wie könnte ich dich nicht verstehen, Süsse."
„Ihr müsst jetzt los meine Hübschen", meine Mutter wollte es zwar aufmunternd sagen, aber man sah deutlich, wie sie mit sich kämpfen musste um die Tränen zurückzuhalten.
Ashley nahm mich an der Hand, nachdem wir uns noch verabschiedet hatten und zog mich sanft in Richtung Sammelplatz.
Ich liess mir Blut abnehmen und begab mich zu den Mädchen meiner Altersklasse, die schon total verängstig da standen. Ashley musste etwas weiter hinten stehen, bei den ältesten.
Kurze Zeit später begann auch schon der Film, den sie jedes Jahr zeigten. Ich passte gar nicht richtig auf und schaute nur auf den Boden, erst als Sephies nervige Piepsstimme zuhören war, sah ich wieder auf.
„Herzlich willkommen zu den 72. Hungerspielen!" Stille
„Ähm... Nun gut. Wie immer: Ladies first!", sagte sie mit übertrieben guter Laune und stöckelte mit ihren viel zu hohen Absätzen zu der Glaskugel mit den Namen der Mädchen.
Sie machte es genau wie jedes Jahr: Sie steckte ihre Hand in die Kugel, kreiste mit ihr langsam und qualvoll über die Zettel und dann schnappte sie sich einen. Sie nahm ihn in beide Hände und stöckelte wieder zurück zum Mikrofon, um uns die tolle (man bemerke die Ironie) Nachricht mitzuteilen.
„Der weibliche Tribut aus Distrikt 6 ist dieses Jahr...", sie machte eine Pause, damit es auch ja spannend ist für die Leute im Kapitol,„Lucy Ocean!"
Mein Herz blieb stehen.
Ich hörte wie fast der gesamte Distrikt erschrocken aufschrie. Ich war schliesslich eine Art Zeichen der Hoffnung hier und jetzt muss ich in die Spiele.
Ein paar Mädchen fielen mir weinend um den Hals, doch ich nahm sie nur gedämpft war und schob sie von mir weg. Langsam setzte ich mich in Bewegung um zu der provisorischen Bühne zu gelangen, wo mich Sephie schon erwartete.
Ich wollte gerade die Bühne betreten, als ich hinter mir eine Stimme riefen hörte: „Ich melde mich freiwillig als Tribut!"
Sofort drehte ich mich um und ungefähr 10 Meter entfernt sah ich meine Schwester mit erhobenem Haupt in Mitten einer Schar von Friedenswächtern.
Sie stürmte auf mich zu und nahm mich in den Arm.
„Geh sofort zu Mum!" Ich schrie und wollte sie nicht loslassen doch ich wurde von einem Friedenswächter von ihr weggezerrt.
Blind schlug ich um mich bis ich die Stimme meiner Mutter wahrnahm.
„Alles wird gut, Liebes. Sie wird es schaffen! Da bin ich mir sicher!"