Verzweifelte Lüge 2

772 Words
Das Geräusch von reißendem Papier durchbrach die Stille in meinem Zimmer und ich zerknüllte das Papier, bevor ich es hinter mich warf. Mit einem dumpfen Laut landete es auf dem Boden und rollte ein Stück, bevor es dann neben seinen Kameraden zum Stehen kam. Vor mir lag ein leerer Block auf dem Tisch und ich wippte nervös den Stift in meiner Hand hin und her. Ohne mein Zutun wanderte er zu meinen Lippen und ich knabberte darauf. Das leere Blatt Papier verhöhnte mich und Zorn rollte kurz durch meine Gedanken, doch dann atmete ich tief durch und setzte die Spitze des Stiftes noch einmal an und begann zu schreiben: Tsuki, ich kann es nicht glauben und es fühlt sich auch so an, als wäre es nur eine Lüge. Zwillinge spüren so etwas doch, oder? Doch dort ist nichts. Kein Loch oder Ähnliches, darum bin ich überzeugt, dass du noch am Leben bist. Warum solltest du dich auch umbringen? Das ist doch totaler Blödsinn, oder? Da stehst du doch drüber. Wir sind doch Brüder und wollen uns wiedersehen. So vieles müssen wir noch bereden und ich weiß doch gar nichts über dich und du auch nicht über mich. Diese Chance wirfst du doch nicht weg, oder? Ich stockte und atmete tief durch, bevor sich meine Hand wieder zusammenballte und das Blatt noch während dem Zerknüllen vom Block riss. Es passte nicht. Diese Worte klangen falsch, so wie sich dein Selbstmord seit einiger Zeit anfühlte. Du warst nicht gestorben. Nein, du nicht. Nicht mein Bruder. Nicht du. Schließlich hatten wir uns geschworen, dass wir uns wiedersahen und noch so viele Sachen unternahmen. All das war nicht mehr möglich, wenn du gestorben warst, und ich konnte das nicht akzeptieren, weil mich dieses Loch in meinem Inneren sonst verschlang. Ich atmete tief durch und sah noch einmal auf das leere Blatt Papier. Ein kurzer Blick auf mein Handy neben dem Block zeigte mir, dass du immer noch nicht geantwortet hast. Ich hatte Angst nachzusehen, ob du es wenigstens gelesen hattest. Nur um mich nicht der Wahrheit zu stellen. Ich schüttelte die negativen Gedanken ab und atmete noch einmal tief durch, bevor ich dann den Stift ein weiteres Mal auf das Papier setzte und einen neuen Brief für dich verfasste, der dich hoffentlich erreichen würde: Mein Bruderherz, Ich muss immer wieder an dich denken. Daran, wie wir uns unterhielten und an unseren Abschied. Ich hätte damals nicht mit unserem Vater mitgehen dürfen, sondern darauf bestehen, dass ich bei dir und Mutter blieb. Schließlich haben wir uns doch gerade erst getroffen und noch so viel zu erzählen. Ich will dich noch viel besser kennenlernen und die Jahre, die uns fehlen, nachholen. Darum habe ich mich entschlossen zu euch zu ziehen. Warte auf mich, Tsuki. Ich werde bald bei dir sein. In ewiger Verbundenheit, Dein Bruder Taiyo Immer wieder flogen meine Augen über den Text und mit jedem Mal breitete sich das Glück in meiner Brust weiter aus. Dieser Text gefiel mir. Dort stand nichts mehr von deinem Selbstmord oder dieser Endgültigkeit, sondern nur von den Plänen unserer Zukunft. Wir werden uns niemals wieder verlieren. Da war ich mir sicher. Wenn wir uns das nächste Mal sahen, dann blieben wir auch zusammen. Das schwor ich mir, als ich den Brief in den schon adressierten Umschlag steckte und ihn zuklebte. Dort standen groß dein Name und deine Adresse, genauso wie meine Daten in der linken oberen Ecke. Noch ein Blick auf mein Handy, das jetzt leicht leuchtete. Tsuki! Hastig griff ich danach, doch als ich den Sperrbildschirm öffnete, war es nur eine Nachricht von Laura, die ich ungelesen wegwischte. Du bliebst immer noch stumm und ich konnte nur tief ein- und ausatmen, um dieser erdrückenden Angst zu entkommen. Mein Brief trat zurück in mein Sichtfeld und vertrieb die negativen Gefühle. Ich nahm ihn zurück in die Hand und lächelte leicht. Der Stuhl rollte geschmeidig nach hinten, als ich mich erhob und den fragenden Blick von Kirika begegnete, die zusammengerollt auf meinem Bett lag. ‚Ich schicke ihm einen Brief, Kirika. Dann kann er mich nicht ignorieren und er wird mir bestimmt antworten.‘ Sie gähnte desinteressiert auf meine Worte und rollte sich dann wieder enger zusammen, um weiter zu schlafen. Doch meine gute Laune verdarb sie mir damit nicht und so verbreiterte sich mein Lächeln und ich klebte eine Briefmarke auf den Umschlag. Noch ein letzter Blick zu Kirika, die seelenruhig weiterschlief, sodass ich sie nicht auf einen Spaziergang einlud, sondern alleine aus meinem Zimmer und der Wohnung schritt. Den Brief an dich fest umschlossen und mit der einzig wichtigen Forderung an dich im Herzen: Bitte antworte mir schnell, Tsuki.
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