Die Ratskammer war eine Kathedrale der Ambition — gewölbte Decken, schwer mit Stein gemeißelt, lange Tische poliert, dass sie das Licht spiegelten, und Porträts grimmig dreinblickender Patriarchen, die von den Wänden herabblickten, als gehörte der Raum noch immer ihnen. Seit Jahrhunderten herrschten hier dieselben Familien, handelten Macht wie Erbstücke.
Adrian Wahl, der Sohn eines Niemand, stand am Rand des Geschehens. Sein Mantel war immer noch abgetragen, die Schuhe abgelaufen, aber seine Worte hatten bereits weiter getragen als die meisten dieser Männer je zu träumen gewagt hatten.
Er war hier, weil jemand ihn gerufen hatte.
Dieser Jemand war Lord Oktavian Grau.
Grau betrat den Raum mit der stillen Autorität eines Mannes, der sich nichts beweisen musste. Groß, breitschultrig, dunkles Haar mit Silbersträhnen durchzogen, bewegte er sich, als würde sich der Raum um ihn biegen. Noch jung im Vergleich zu den alten Ratsmitgliedern, war sein Ruf bereits legendär: Kriegsheld, der Männer durch Feuer und Stahl geführt hatte, Reformer, der von einem neuen Albion sprach, das aus der Asche des Alten auferstand.
„Herr Wahl“, sagte Grau und reichte die Hand. Seine Stimme war tief, ruhig — und anders als bei den meisten Ratsmitgliedern — warm. „Ich habe Ihre Pamphlete gelesen. Sie schreiben wie jemand, der die Regierung niederreißen will.“
Adrian schüttelte die Hand, blickte ihm ohne Zögern in die Augen. „Ich will eine neue aufbauen. Stärker. Gerechter.“
Grau lächelte leicht. „Gut. Das Land braucht mehr Architekten als Zerstörer. Und ich glaube, Sie könnten einer werden.“
Ein Schauer lief Adrian über den Rücken. Hier war ein Mann, den er aus der Ferne bewundert hatte, und nun sah er ihn nicht als Streuner aus den Provinzen, sondern als Gleichgestellten.
„Ich werde Sie nicht schmeicheln, Wahl“, fuhr Grau fort. „Sie sind leichtsinnig. Es fehlt Ihnen an Zurückhaltung. Sie ziehen Feinde schneller an als Verbündete. Aber Vision ist selten, und Sie besitzen sie. Wenn Sie Ihr Feuer mit Disziplin temperieren, könnte es einen Platz für Sie am Tisch geben, an dem wirklich Entscheidungen fallen.“
Adrians Atem stockte. „Dann lassen Sie mich es beweisen.“
„Haben Sie bereits.“ Grau deutete auf die Kammer um sie herum. „Krone verabscheut Sie — das zeigt, dass Sie einen Nerv getroffen haben. Und ich habe gelernt, dass jeder, der ihn verunsichert, genau beobachtet werden sollte.“
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Am Abend fand sich Adrian in einem ganz anderen Saal wieder: dem Haus der Hartwells, wo Eveline und Emilie ihn zum Abendessen eingeladen hatten.
Eine Welt entfernt von rauchgeschwängerten Kneipen und Druckereien. Kristallleuchter funkelten über weißem Leinen, und die Luft roch nach Rosen, die aus dem Wintergarten hereinwehten. Emilie schwirrte wie ein Funke umher, schenkte Wein ein, lachte laut über Adrians Geschichten, neckte ihn mit schnellen Bemerkungen, auf die er improvisieren musste. Sie liebte seinen Ehrgeiz, die schiere Kühnheit, die ihn von den glatten Männern abhob, die sie mit geübten Tönen umwarben.
Eveline war anders. Sie beobachtete. Sie hörte zu. Und wenn sie sprach, schnitten ihre Worte tiefer als jeder Scherz.
„Du glaubst, du kannst den Rat verändern“, sagte sie einmal, den Blick fest auf ihn gerichtet. „Aber was, wenn der Rat zuerst dich verändert?“
Adrian zögerte. Er hatte an Feinde gedacht, an Kämpfe, an Triumphe. Aber nicht an Kompromisse — daran, wie leicht Ideale unter der Last von Macht verbiegen könnten.
„Das werde ich nicht zulassen“, sagte er schließlich.
Evelines Augen wurden für einen kurzen Moment weich, als wollte sie ihm glauben.
Emilie, die die Spannung spürte, beugte sich über den Tisch und flüsterte laut genug, dass beide es hörten: „Wenn er langweilig wird, Evie, gehört er mir. Ich wollte schon immer einen Skandal.“
Eveline rollte die Augen, Adrian errötete und wusste nicht, ob er lachen oder protestieren sollte. Er tat keins von beidem und vergrub stattdessen sein Gesicht in seinem Weinglas.
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Wochen vergingen. Unter Lord Graus Schirmherrschaft bekam Adrian Zugang zu den Randbereichen der Ratsarbeit — Berichte entwerfen, in Ausschüssen sprechen, sogar ältere Mitglieder mit Ideen herausfordern, die sie vor Empörung schnauben ließen. Seine Reden wurden schärfer, sein Publikum größer.
Doch auch die Rivalität mit Sebastian Krone wuchs.
Krone verspottete ihn in der Presse, in Salons, selbst in den Kammern, in denen Grau Adrian einen Platz gegeben hatte. Doch je mehr Krone spottete, desto mehr hörte die Stadt auf Adrian. Krone stand für das alte Albion, vergoldet und selbstzufrieden. Adrian stand für etwas Gefährliches, Lebendiges.
Eines Abends, nach einem besonders bitteren Schlagabtausch im Rat, stellte Krone ihn im Flur.
„Sie verwechseln Berühmtheit mit Einfluss“, zischte Krone. „Sie lachen, sie klatschen, aber echte Macht werden sie Ihnen niemals geben. Männer wie ich werden das nicht zulassen.“
Adrian trat näher, die Stimme leise und ruhig. „Dann nehme ich sie mir eben ohne Ihre Erlaubnis.“
Krones Augen verengten sich. „Vorsicht, Wahl. Wer zu schnell steigt, fällt oft am härtesten.“
Adrian verließ die Kammer, das Blut noch immer pochend in den Adern. Draußen dröhnte die Stadt: Kutschen, Rufe, Fabriken, die Rauch gegen die Sterne ausstießen. Markus wartete, an einer Laterne gelehnt, eine Flasche unter dem Arm.
„Wie war der große Rat?“ fragte er.
Adrians Lippen zogen sich zu einem dünnen Lächeln. „Es war die Zukunft. Und sie haben es noch nicht einmal bemerkt.“
Doch in seiner Brust hallten Evelines Worte nach wie eine Warnung: *Was, wenn der Rat zuerst dich verändert?*