Mayas Sicht
Der Nachtwind peitschte mir ins Gesicht, während Lukas fuhr wie jemand, der das schon viel zu oft erlebt hatte. Schnell, konzentriert und unerschrocken.
Meine Gedanken jedoch waren ein einziger Sturm des Chaos.
Die Schüsse.
Die Geheimnisse meines Vaters.
Der Umschlag klammerte sich wie ein Rettungsanker an meine Brust.
Und Lukas Mysterius, der gefährliche Lukas, der irgendwie immer dann auftauchte, wenn die Welt unter mir zusammenbrach.
„Du wusstest, dass das passieren würde, nicht wahr?“, fragte ich leise, meine Stimme brüchig und verriet die Angst, die ich zu verdrängen versuchte.
Sein Kiefer war angespannt, sein Blick starr auf die Straße gerichtet. „Ich wusste nicht wann. Aber ich wusste, dass es kommen würde. Dein Vater ist nicht der Typ, der etwas offen lässt.“
Es war etwas Offenes.
Genau das war ich jetzt. Eine unbequeme Wahrheit, begraben unter jahrelangen Lügen.
„Was wollen sie von mir?“, fragte ich, und meine Worte waren voller Frustration. „Was ist so gefährlich daran, dass ich die Wahrheit kenne?“
Lukas sah mich schließlich nur kurz an, aber es genügte.
„Weil die Wahrheit ihn zerstören könnte.“
Es folgte eine Stille, die sich wie ein Schlag in die Brust anfühlte.
Meine Gedanken wanderten zurück zu der Akte in meiner Tasche. Die, die ich vor dem Angriff aus dem Arbeitszimmer meines Vaters mitgenommen hatte.
Der Name meiner Mutter stand an der Ecke gekritzelt.
Lilith Brooks.
Die Frau, die die Welt vergessen hatte.
Die Frau, von der ich allmählich glaubte, sie sei die ganze Zeit gejagt worden.
Wir fuhren fast eine Stunde lang, immer tiefer in die Außenbezirke von Evergreen City hinein, wo die Straßenlaternen Schatten und Kiefern wichen. Lukas bog schließlich in eine abgeschiedene Einfahrt ein, die von hohen Bäumen und einem schmiedeeisernen Tor gesäumt war.
„Wo sind wir?“, fragte ich und starrte auf die Silhouette eines modernen, brutalistischen Hauses mit kalten Kanten und raumhohen Glaswänden.
„Sicheres Haus“, sagte er. „Eines von mir.“
Ich folgte ihm hinein, meine Glieder steif vom Adrenalin und der Kälte. Das Haus war minimalistisch, fast klinisch, als wäre es nicht zum Wohnen, sondern zum Verstecken konzipiert.
Er warf mir eine Decke von der Sofalehne zu, schenkte mir zwei Gläser Whiskey ein und reichte mir eines.
Ich nahm es nicht.
„Red“, sagte ich. „Ich will alles wissen. Angefangen bei dir.“
Lukas begegnete meinem Blick, sein Gesichtsausdruck war undurchschaubar. Dann lehnte er sich an die Küchentheke zurück und verschränkte die Arme.
„Mein Name ist Lukas Thorn. Mein Vater war der ursprüngliche CEO der Thorns Corporation, bis dein Vater seinen Untergang inszenierte.“
Ich riss die Augen auf. „Mein Vater? Wovon redest du?“
Er nickte langsam. „Die Familien Brooks und Thorn waren vor Jahren Partner. Aber dein Vater wollte mehr. Als meine Eltern Beweise für Unterschlagung entdeckten, inszenierte er einen gefälschten Skandal, Betrug und Unternehmenssabotage. Meine Eltern mussten untertauchen, gemäß einem Protokoll namens TRN211. Du hast diesen Code doch mal gehört, oder?“
Ich nickte benommen. „In dieser Nacht … in der Hütte. Du hast ihn im Schlaf gesagt.“
Sein Lächeln war bitter. „Da steckte ich schon zu tief drin.“
Die Worte ließen mein Herz höher schlagen.
Diese Nacht.
Er erinnerte sich auch daran.
Der gestohlene Kuss. Das Chaos. Die Wärme einer Fremden.
Aber es war kein Zufall. Es war von Anfang an ein kalkulierter Schachzug.
„Also war es Teil eines großen Plans, mit mir zu schlafen?“, fragte ich scharf, und Wut kochte hoch.
„Nein“, sagte er schnell mit fester Stimme. „Diese Nacht war ein Fehler … aber nicht wegen dem, was zwischen uns passiert ist. Es war das erste Mal, dass ich meine Mission hinterfragte.“
Ich wollte ihm nicht glauben, aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass er die Wahrheit sagte. Er hatte zu viele Gelegenheiten gehabt, mich zu verletzen, und stattdessen hatte er mich jedes Mal gerettet.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Umschlag zu und öffnete ihn langsam.
Darin lagen Dokumente. Baupläne. Ein verschlüsseltes Hauptbuch mit Transaktionsdetails.
Und ganz unten …
Eine Geburtsurkunde.
Der Name meiner Mutter.
Aber das Namensfeld des Vaters war geschwärzt.
Und darunter eine zweite Geburtsurkunde. Meine.
Ich überflog sie verzweifelt und erstarrte.
„Was zum Teufel?“
Lukas trat näher. „Was ist das?“
Ich hielt ihn mit zitternden Händen hoch. „Hier steht, ich bin in Berlin geboren. Das ist unmöglich. Ich war noch nie in Deutschland.“
Lukas nahm ihn und betrachtete die geprägten Siegel und Stempel. „Das ist echt“, sagte er leise. „Ich habe schon mal eine gesehen.“
„Schon mal?“
„Meine Geburtsurkunde. Meine echte.“
Er sah mir in die Augen. „Ich bin auch in Berlin geboren. Im selben Krankenhaus.“
Die Welt geriet unter meinen Füßen ins Wanken.
„Was willst du damit sagen?“
Er sah noch einmal auf die Urkunde, dann wieder zu mir.
„Ich meine, wir waren vielleicht schon lange miteinander verbunden, bevor wir es wussten.“
Meine Beine gaben nach, und ich sank auf den nächsten Stuhl, den Kopf mit beiden Händen umklammernd.
Alles, was ich über mein Leben wusste, löste sich auf.
Die Geheimnisse meiner Mutter.
Die Verbrechen meines Vaters.
Und jetzt Lukas, dieser rätselhafte Fremde, der vielleicht eine gemeinsame Vergangenheit mit mir hatte, die keiner von uns ganz verstand.
Die Stille wurde vom schrillen Klingeln seines verschlüsselten Wegwerfhandys durchbrochen.
Er antwortete und lauschte aufmerksam. Dann versteifte sich sein Körper.
„Wir müssen gehen“, sagte er mit angespannter Stimme. „Sofort.“
„Was ist los?“
„Das Safehouse wurde kompromittiert. Jemand hat dein Telefon geortet.“
„Aber ich habe es ausgeschaltet!“
„Zu spät. Sie haben ein Signal. Maximal dreißig Minuten.“
Er bewegte sich schnell, stopfte Papiere zurück in den Umschlag und holte ein kleines Metalletui aus einer versteckten Schublade unter dem Boden.
Ich folgte ihm mit Herzklopfen.
„Wie viele Leute sind hinter uns her?“, fragte ich atemlos.
„Mindestens sechs Vollstrecker. Bewaffnet. Ausgebildet. Und mit Tötungsbefehl.“
Draußen heulte der Wind stärker, ein Sturm zog auf. Lukas öffnete die Garage und enthüllte ein mattschwarzes Motorrad.
„Du machst Witze“, sagte ich.
Er warf mir einen Helm zu. „Wir haben keine Zeit mehr. Vertraust du mir?“
Ich zögerte nicht. „Ja.“
Ich stieg hinter ihm auf und schlang instinktiv die Arme um seine Taille.
Das Motorrad erwachte zum Leben, und wir rasten die leere Straße entlang, Blitze zuckten über den Himmel. Meine Gedanken rasten so schnell wie die Bäume, die an uns vorbeizogen.
Wir waren jetzt Gesetzlose.
Wahrheitsjäger.
Und je weiter wir fuhren, desto mehr fühlte es sich an, als wäre dies erst der Anfang.
Doch als wir um eine scharfe Kurve bogen, blitzten hinter uns Scheinwerfer auf.
„Halt!“, schrie Lukas.
Ein schwarzer SUV schoss heran und stieß gegen unseren Hinterreifen.
Auf der anderen Straßenseite tauchte ein anderes Fahrzeug auf und schnitt uns den Weg ab.
Wir waren eingeklemmt.
Ich schrie, als Lukas scharf auf den Waldweg abbog und die Räder über Schlamm und Wurzeln rutschten.
Hinter uns brachen Schüsse aus, Bäume zersplitterten, als Kugeln durch die Nacht pfiffen.
Dann öffnete sich der Weg zu einer schmalen Brücke, die über eine Schlucht führte.
„Seid ihr verrückt?“, schrie ich.
„Wahrscheinlich“, rief er zurück, „aber ich halte nicht an!“
Die Brücke ächzte unter uns, als wir hinüberrasten, Kugeln prallten von den Stahlseilen ab.
Auf halbem Weg krachte der SUV mit zu hoher Geschwindigkeit auf die Brücke hinter uns.
Lukas riss die Bremse, das Motorrad rutschte zur Seite, als der SUV die Kontrolle verlor und über die Kante in den Fluss stürzte.
Ich klammerte mich atemlos an ihn.
Doch gerade als ich dachte, wir hätten es geschafft,
trat eine Gestalt auf das andere Ende der Brücke und richtete eine Waffe direkt auf uns.
Und ich erkannte sie sofort.
„Silver?“, keuchte ich, und mein Herz rutschte mir in die Hose.
Aber sie war es nicht.
Es war jemand, der ihr Gesicht trug.
Und darauf aus war, zu töten.