I-2

1981 Words
Lieber Julian! Seit Jahren bin ich regelrecht auf den letzten heidnischen Kaiser der römischen Ära fixiert: Als ich an der Universität arbeitete, schrieb ich mehrere Artikel und einige Bücher über ihn. Er trug den Spitznamen Abtrünniger, weil er als Christ zum Heidentum konvertiert war, und versuchte dann während seines kurzen Lebens, neue Gläubige zu gewinnen, indem er die traditionelle Religion reformierte: Die Utopie war, das gesamte Reich, das nun zwangsläufig christianisiert war, wieder heidnisch zu machen. Der Grund für seine Faszination liegt für mich hier: Der Kaiser Julian wollte die Welt verändern, ohne zu merken, dass die Welt sich bereits verändert hatte, aber in eine ganz andere Richtung, und es gab kein Zurück mehr. Noch im Flugzeug hatte ich mir geschworen, dass die Säule des Philosophenkaisers das erste sein würde, was ich in Ankara sehen würde, aber dann dieses bürokratische Chaos... In der Tat ist Julian der eigentliche Grund, der mich veranlasst hat, in die Türkei zu kommen: der offizielle Auftrag lautet, die Überreste des armen Barbarino zu bergen, aber ich bin vor allem hier, um das Grab des lieben Kaisers zu sehen, das bisher nicht gefunden wurde und von dem mir der Professor kurz vor seinem Tod geschrieben hatte, er habe es endlich gefunden! Der Bus rast über eine endlose, menschenleere Ebene. Ich schlafe ein und stelle mir vor, ich wäre in einem dieser Filme, in denen die Hauptfigur die amerikanischen Staaten mit dem Bus von Küste zu Küste durchquert. In Ankara kehrt Leutnant Karim, der den endlosen Nachmittag im Zoll verbracht hat, nach Hause zurück, wo seine beiden Söhne auf ihn warten, deren Mutter ihn vor Jahren verlassen hat. Aturk, der Major, steht schon seit einigen Minuten hinter der Tür und öffnet sie, sobald er das Geräusch der alten Klappe hört. «Also, bekomme ich es?» «Du sagst nicht einmal hallo?», konterte sein Vater unwirsch. «Willkommen zurück, Herr Leutnant», sagt Aturk in einem scheinbar ernsten Ton, dann wiederholt er: «Werde ich es bekommen?» Karim antwortet nicht, betritt das Haus, hängt seine Dienstjacke an die Garderobe und setzt sich in einen braunen Sessel im Wohnzimmer; sein Sohn folgt ihm. «Sie haben mir nichts gesagt.» «Aber kannst du sie nicht anrufen? Ist Ihnen klar, wie wichtig das ist?» «Ich weiß», erwidert er trocken. «Hol mir etwas zu trinken» Der Leutnant steht auf, um seine Jacke zu holen, zieht ein kleines schwarzes Ledertagebuch aus seiner Innentasche, kehrt zu dem ramponierten Sessel zurück und wählt: «Guten Abend, hier ist...» «Sagen Sie nicht Ihren Namen! » Er wird sofort von der Stimme am anderen Ende der Leitung unterbrochen. «Ich habe dir gesagt, du sollst nicht anrufen» «Ja... das ist wahr, aber, na ja... » Die geheimnisvolle Stimme schaltet sich ein: «Haben Sie getan, worum ich Sie gebeten habe?» «Ja, Herr...» «Ich habe ihr gesagt, dass sie keine Namen nennen soll!» «Das war der Italiener: Wir haben ihn aufgehalten und so lange wie möglich festgehalten. Jetzt hat er einen Pass von der Botschaft bekommen, seinen Pass bekommt er erst am Montag zurück» «Gut! Denken Sie daran: Wenn er mit dem Sarg nach Ankara zurückkehrt, tun Sie, was wir geschrieben haben» «Ja, versiegeln Sie es gut und gravieren Sie die Buchstaben ein...» «Befolgen Sie die Anweisungen», unterbrach ihn die strenge Stimme. Der Leutnant fährt ängstlich fort: «Natürlich. Ich wollte wissen, ob mein Sohn, wie vereinbart...» «Er kann sich bewerben» «Sie versichern mir also, dass er...» Wieder die Stimme, unmissverständlich: «Ich sage Ihnen, Sie sollen sich bewerben, das bedeutet, dass Sie angenommen werden!» «Ich... ich danke Ihnen» «Ich grüße Sie. Und rufen Sie diese Nummer nicht mehr an!» «Nochmals vielen Dank, guten Abend» Aturk kommt mit langsamen, unbeholfenen Schritten aus der Küche zurück, darauf bedacht, keinen einzigen Tropfen aus einem mit billigem Weißwein gefüllten Glas zu verschütten: «Und?» «Du kannst dich bewerben» Selbst der Sohn versteht den Ausdruck nicht: «Ich habe meine Bewerbung schon seit Monaten fertig...» «Ich habe dir gesagt, du sollst dich bewerben: Die Stelle gehört dir.» «Danke, danke», sagt Aturk zu seinem Vater, als wolle er ihn küssen. Er beschränkt sich auf eine Umarmung, die kühl erwidert wird. «Komm, mach jetzt Abendessen für dich und deinen Bruder.» Der Leutnant nippt langsam an seinem Wein, bevor er zu Bett geht, zufrieden mit dem, was er an diesem Tag getan hat. Samstag, 17. Juli Ich war eingeschlafen und träumte von Kalifornien, und ich wache auf, während der Bus im Schritttempo zum Bahnhof fährt: Tarsus sieht aus wie Palermo, das nach dem Film Johnny Stecchino für seinen chaotischen Verkehr berühmt ist. Ich komme zu Fuß im Zentrum an, oder zumindest stelle ich es mir so vor: Ich komme an einem monumentalen Tor aus der Römerzeit vorbei (könnte es das berühmte Tor sein, an dem Antonius Kleopatra vor der Niederlage bei Actium traf?) Niemand hier kann Deutsch, also zeige ich mindestens zehn Leuten das Blatt mit der Adresse des Ingenieurs: Zwischen Gesten und Halbwörtern auf Englisch zeigen sie auf eine Straße entlang des Flusses Tarsus Çayi. Klassische Erinnerungen erinnern mich daran, dass es sich um den Cidno handelt, der in der Antike für sein klares, aber eisiges Wasser berühmt war, in dem Alexander der Große beinahe ertrunken wäre. Jetzt ist er zu einem ekelerregenden schwärzlichen Fluss verkommen, was vermutlich auf die Abwässer der zahlreichen Ölindustrien in der Gegend zurückzuführen ist. Ich klingle an der Nummer 60, einer Art Stelzenhaus: eine alte, gebeugte Frau antwortet. «Ich suche Fatih Persin...», frage ich etwas unbedacht in meiner Muttersprache. «Italiener, komm schon, Italiener», lächelt die alte Frau, zeigt ihre wenigen verbliebenen Zähne und bittet mich, hereinzukommen. Dann rennt sie eine Treppe hinauf. Dieses Haus ist seltsam: Es liegt zur Hälfte am Fluss, es hat keine besonderen Gegenstände oder Möbel, aber es ist originell, von seiner Art. Ich sitze auf einem roten Holzstuhl mit einer Sitzfläche aus geflochtenem Stroh. Der Geruch von langsam gekochter Fleischsauce hat das ganze Haus durchdrungen. Ein Mann in den Vierzigern, groß und dünn, sehr groß und zu dünn, kommt die wackelige Treppe hinunter und lehnt sich an eine Öffnung in der Decke: «Guten Morgen, ich bin Fatih», er schüttelt mir die Hand und sagt währenddessen etwas auf Türkisch zu der Frau. «Ich bin Francesco Speri, Chiara hat mir Ihre Adresse gegeben... Chiara...» Ich habe ihren Nachnamen vergessen. «Rigoni» vervollständigt ein wenig erstaunt Fatih. « Was kann ich für dich tun?» Der Ingenieur spricht etwas mühsam Italienisch, aber wir verstehen uns; als er sich setzt, kommt seine Mutter, zumindest glaube ich das, mit einem Tablett und zwei großen Tassen Kaffee. Das Aussehen ist wenig einladend: etwas schwimmt darin und der Geruch ist sauer, ja sauer, nicht bitter. Ich bedanke mich mit einer Geste und nehme die große Tasse in meine Hand. «Chiara sagte, ich könne sie um Hilfe bitten: Ich müsse der Straße entlang des Flusses in Richtung des Monte Tauro folgen. Irgendwo dort hat mein Archäologieprofessor gegraben, als…» «Nicht wie italienischer Kaffee, oder? Da ist Zitrone drin», erklärt Fatih, der meinen misstrauischen Blick bemerkt hat. Er lächelt: «Kein Problem, heute ist Samstag und ich kann mit dir auf meinem Fahrrad hinfahren». Ich nehme die Hilfe an, aber erst, nachdem ich diese heiße, mit Kaffee aromatisierte Limonade geschluckt habe. Wir sind sofort losgefahren, ohne Helm. Das Motorrad ist eigentlich ein Moped: Es fährt nicht schneller als 30 km/h, aber da ich nicht fahre, ist es wie ein Flugzeug! Die Straße ist lang und kurvenreich: Bei jeder Kurve drücke ich den armen Fahrer fester an mich; es ist mir etwas peinlich, aber die Angst, abgeworfen zu werden, ist größer. Diese Art von Fahrbahn scheint ewig zu dauern, bis Fatih plötzlich auf die Bremse tritt: Er hat einige Schilder bemerkt, die auf laufende Arbeiten hinweisen. Wir lassen den Roller stehen und gehen zu Fuß weiter zu einer schrägen Anhöhe: Das ist die Stelle, die der Professor ausgegraben hat. Armer Julian: begraben in einer abgelegenen Bergheide, weit weg von der fabelhaften Welt, die er beherrscht hatte. In Wirklichkeit hatte er es sich nicht ausgesucht: Aus Hass auf die Einwohner von Antiochia, von wo aus er zu seiner Expedition nach Persien aufgebrochen war, hatte er sich vorgenommen, nach seiner Rückkehr lieber in Tarsus zu lagern, als die Antiochener wiederzusehen. Er kehrte nicht lebend aus diesem Krieg zurück. Als äußerste Form des Respekts beschlossen seine Offiziere, ihn dort zu begraben, wo er in diesem Winter zu bleiben beabsichtigt hatte: ein langer, endloser Winter. Der Zugang zur Ausgrabung ist nicht möglich, da sie mit rudimentärem Stacheldraht umzäunt ist. Ein Mann nähert sich, der mit einer Hand einen riesigen Strohhut auf dem Kopf hält. Er wirkt zurückhaltend, aber sobald ich Luigi Barbarino erwähne, öffnet er sich uns und stellt sich als Assistent des Professors vor. Die Sonne brennt unbarmherzig auf uns herab. Er gibt uns ein Zeichen, ihm in eine Art Lagerhaus zu folgen: Ich sehe aufgetürmte Fragmente von antiken Vasen, Tierknochen, sogar Töpfe und schmutzige Kleidung. In diesem Lagerhaus, das mit Aluminiumplatten bedeckt und voller Staub ist, arbeitet dieser seltsame Kerl nicht nur, sondern ich glaube, er schläft und isst dort. Ich hätte gerne Informationen über den unglaublichen Fund des Apostaten. Gelassen frage ich ihn zunächst anhand von Fatihs Übersetzung nach dem Professor. Der Gesichtsausdruck meines Dolmetschers wird stirnrunzelnd und dann düster, schließlich hatte ich noch keine Zeit gehabt, ihm von der Abreise des very clear zu erzählen: «Er sagt, er habe den Professor letzten Samstag tot aufgefunden, am Fuße eines... wie sagt man, eines großen Hangs?» Der Assistent behauptet, dass er am vergangenen Freitag vor seiner Abreise den bedeutenden Archäologen gesehen habe, wie er das Gebiet, in dem er Ausgrabungen durchführte, untersuchte, und dass er ihn am nächsten Morgen etwas weiter unten im Tal auf dem Boden liegend fand. Er hatte einen Herzinfarkt erlitten und war dann leblos den Abhang hinuntergerollt. Der Türke schien nicht sonderlich traurig zu sein, vielleicht hatte die Arbeit unter dem Professor bei ihm den gleichen Effekt des Ekels hinterlassen wie bei mir. Der Assistent, klein von Statur, aber mit schnellem Schritt, geht uns zum Unglücksort voraus: Er möchte uns die genaue Stelle zeigen, an der es gefunden wurde. «Was ist das da oben? Ein Grabmal?», frage ich. «Ja, er hat dort Fotos gemacht. Ganz wichtig: Er hatte einen Stein mit einer Schrift darauf gefunden, als es passierte», übersetzt Fatih. Keuchend erklimme ich den Hügel, gefolgt von den beiden. Auf dem Boden liegend sehe ich die Überreste eines Gebäudes, das ein Begräbnis sein könnte. Aber ich sehe die Inschrift nicht, die am Eingang angebracht worden sein muss. Nur der beschriftete Stein, den der Professor letzte Woche gefunden hat (und von dem er mir per E-Mail erzählt hatte), kann bestätigen, dass Julian hier begraben ist. «Und das hier gefundene Material? », frage ich mit gespielter Nonchalance. Es ist in dem Lagerhaus, in dem wir für kurze Zeit waren, und dann warten wir darauf, dass ein Regierungsbeamter kommt und alles abholt», erklärt mir Fatih in seinem unsicheren Italienisch. Ich muss die Dinge beschleunigen. «Ich sollte auf die Toilette gehen», sage ich und berühre meinen Bauch. «Die gibt es nur im Lagerhaus.» «Ich erinnere mich an den Weg, Sie können gerne hier bleiben, danke.» Ich stürme in den Schuppen und beginne verzweifelt, einen Stapel Kisten zu durchsuchen: Ich versuche, ein paar zu bewegen, sie sind schwer. Auf jedem steht mit einem verblichenen blauen Filzstift etwas geschrieben: das Datum und der Ausgrabungsbereich, aus dem die Funde stammen, sollten angegeben werden. An welchem Tag hat mir der Professor über die Entdeckung des Grabes geschrieben? Ich überprüfe die Kiste vom 9. Juli: nur Gipsfragmente und gewöhnliche Töpferwaren. Offensichtlich muss die Entdeckung am Vortag gemacht worden sein, denn er hat mir die E-Mail am Morgen des 9. Juli geschickt und ist noch am selben Abend gestorben. Ich ziehe die Schachtel vom 8. Juli heraus und, ich kann es nicht glauben, ich finde die Inschrift! Ein knapp ein Meter langes Marmorfragment mit griechischen Gravuren: Ich habe es eilig, kann aber die schlecht erhaltenen Buchstaben nicht entziffern und mache schnell ein paar Fotos mit meiner unzertrennlichen Nikon. Dann versuche ich mit einem Blatt Seidenpapier, das auf dem Tisch liegt, und einem Bleistift einen improvisierten Abdruck: eine rudimentäre, aber effektive Technik, die ich während meiner Spezialisierung in Deutschland gelernt habe. Reibt man mit dem Bleistift über das Blatt Papier, das auf der Inschrift liegt, hinterlassen die Rillen der ausgehöhlten Buchstaben eine Lücke: Das Blatt Papier erscheint ganz grau, mit Ausnahme der weiß belassenen Zwischenräume, die die Umrisse der eingravierten Buchstaben darstellen.
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD