Wo musste er hin? Wie oft musste er noch abbiegen? Gab es diesen sicheren Ort überhaupt?
Seine Beine schmerzten, als der Schnee weiter unter seinen Schritten knirschte. Er wusste nicht mehr, wo er schon war oder gar woher er kam. Immer wieder bog er ab, sobald er eine Wächterin sah oder hörte. Aber die Häuser nahmen kein Ende und auch nicht die Frauen, die er sah. Egal, wo er hinlief. Es war falsch.
Schwer atmend lehnte er sich in eine kleine Seitengasse an die Mauer. Die Kälte kroch ihm immer weiter unter die Kleidung und in die Knochen, während er das Gefühl bekam, dass sein Schweiß zu gefrieren begann. Er musste irgendwo unterkommen. Hätte er vielleicht doch?
„Da bist du!“ Eine Frau rief ihm zu und als er sich panisch zu ihr umdrehte, reagierte er eher reflexartig. Verdammt! Sie haben mich gefunden! Er stieß sich sofort von der Wand ab und rannte erneut los. Sah nicht zurück.
„Warte! Ich will dir helfen!“ Er hörte diese Worte nicht. Konnte sie nicht verstehen. Wollte es nicht verstehen. Er musste endlich von hier weg. Nur weiter. Weg. Plötzlich rannte er in eine andere Frau. Er sah die schwarze Kleidung und erkannte das Pistolenhalfter an ihrer Seite. Sofort wusste er, wer da vor ihm stand.
Trotzdem konnte er den kurzen Sturz nicht bremsen. Der kalte Schnee fraß sich in seine Haut und er sah, wie man die Hand nach ihm ausstreckte. Er wich aus. Rappelte sich auf und stürzte weiter. Nicht stehen bleiben. Nicht zurück sehen.
„Ich habe 6357 gefunden! Setze zur Verfolgung an! Bitte um Erlaubnis schießen zu dürfen!“ Bei diesen Sätzen überrannte die Panik seine Gedanken. Er musste weg! Sich irgendwo verstecken! Nur noch weg! Geradeaus! Wenn er immer geradeaus lief, dann musste doch irgendwann das Ende kommen! Er musste hier raus! Weg von den Frauen! Nur weg!
Es war ihm egal, ob er anderen Wächterinnen begegnete. Er rannte weiter. Einfach immer nur weiter. So schnell er konnte und es das Kleid, das er trug, zuließ. „Das Zielobjekt ist schnell! Es entkommt! Ich bitte erneut um Erlaubnis schießen zu dürfen!“ Die Wächterin verschwand nicht. Er konnte sie nicht abschütteln, aber sie schien auch nicht näher zu kommen.
„Erlaubnis erteilt! Aber fangen sie ihn dennoch lebend!“ Die Stimme rauschte und krallte sich eiskalt in seinen Nacken. Nein! Das durfte nicht sein! Er musste weiter! Sie durften ihn nicht erwischen! Sofort rannte er schneller. Versuchte noch die letzten Reserven aus seinen Gliedern zu holen! Kam ins Straucheln, aber fing sich ab. Stürzte weiter. Er musste auf den Beinen bleiben und laufen. Nur laufen.
Langsam tauchte eine Wiese auf. Er sah große, braune Pflanzen mit grünen Kronen. Umzingelt von kleineren grünen Pflanzen. Weiter laufen. Da konnte er sich verstecken. Schüsse schlugen um ihn herum ein. Er musste weiterlaufen. Nicht zurück sehen. Sein Blick war starr auf die Pflanzenansammlung vor ihm gerichtet. Sie waren sein Ziel. Seine Möglichkeit dem Zuchthaus zu entkommen. Darin konnte er sich verstecken und niemand würde ihn finden.
Endlich erreichte er die ersten Blätter. Er griff nach ihnen. Spürte die unebene Beschaffenheit und es fühlte sich nach Freiheit an. Er stürzte weiter. Plötzlich erwachte ein gleißender Schmerz in seinem Bein. Fraß sich höher. Bis in seine Gedanken hinein. Ließ ihn nicht los. Machte jede Bewegung unmöglich.
Er stürzte. Erneut war dort der eiskalte Schnee. Er hängte sich schwer an seine Kleidung. Durchnässte sie. Ließ sie schwerer werden. Kühler. Sein Körper begann zu zittern. Unter der Kälte und den Schmerzen. Alles in ihm schrie liegen zu bleiben, doch eine winzig kleine Stimme flüsterte ihn die Freiheit ins Ohr. Sie verhalf ihm seine letzten Reserven zu sammeln. Er musste aufstehen. Es musste weitergehen. Wenn er hier liegen blieb, dann würde alles zu spät sein.
Er biss die Zähne zusammen. Rappelte sich auf und humpelte so schnell es ging weiter. Tiefer in die Pflanzenwelt. An den großen, braunen Dingern vorbei. Er spürte das warme Blut an seinem Bein. Es vertrieb für einen winzigen Moment die Kälte, bevor es ekelhaft gefror.
„Das Objekt wurde getroffen. Es dürfte nicht mehr weit kommen.“ Die Stimme der Wächterin war immer noch da. Sie verfolgte ihn. Er musste weiter, doch sein Bein zitterte immer stärker. Immer mehr verlor er die Kraft darin und er knickte immer wieder weg. Der Schmerz zerfraß alle Gedanken und kurzzeitig nahm er ihm sogar die Angst zurück zu müssen. Hatte er jetzt wirklich verloren?
Er sank an einem Baumstamm nieder und sah auf sein blutendes Bein. Was sollte er jetzt tun? Der Schnee war rot gefärbt. Die Frau musste schon blind sein, wenn sie ihn nicht fand. Es war vorbei. Noch einmal tauchte kurz die kleine Stimme auf, die ihn zum Weiterlaufen überreden wollte, doch er hatte keine Kraft mehr.
Tränen brannten in seinen Augen, als er sie öffnete und nach oben sah. Der Himmel – wie ihn sein Zellengenosse nannte – war bedeckt von den Blättern der großen Pflanzen, doch er konnte das sanfte Blau durchschimmern sehen. Die Luft war so rein und sie roch nach unendlicher Freiheit, doch er konnte nicht mehr. Auch wenn er wusste, dass er nie wieder dorthin zurück wollte. Zurück in diese winzige Zelle. Nur für einen Zweck am Leben.
Plötzlich brach jemand neben ihm durch die kleineren Pflanzen und er schloss die Augen. Jetzt hatten sie ihn. Es war vorbei. Seine Flucht war gescheitert. Doch anstatt ihn hoch zu reißen, hörte er, wie man den Schnee verwischte und sich im nächsten Moment zu ihm runter kniete. Er erwartete, dass man ihn grob berührte, doch die Hand war trotz ihrer Größe ungewohnt sanft.
„Kannst du noch laufen?“ Eine dunkle Stimme drang in seine Gedanken ein und nur langsam machte er die Augen auf, um in ein kantiges Gesicht, das von Narben durchzogen war, zu blicken. Er trug einen dichten Bart und die braunen Augen sahen ihn besorgt an. Die schwarze Lockenpracht lag wirr auf dem Kopf und im nächsten Moment kam ein zweiter Mann zu ihm. Er wirkte jünger und sein blondes Haar fiel ihm neckisch ins jugendliche Gesicht.
„Ich habe die Spuren so gut es ging verwischt, aber wir müssen dennoch schnell weg. Sie werden sich nicht lange davon ablenken lassen.“ Man hörte die Hektik und Angst in seiner Stimme, während er immer wieder unruhig über die Schulter sah. Der Ältere nickte nur und griff dann unter den Arm des Flüchtlings.
„Ich werde dich stützen. Ted, verwisch unsere Spuren so gut es geht. Wir nehmen ihn mit und kümmern uns um seine Wunde.“ Er begriff nicht, was gerade passierte, doch er ließ sich stützen und humpelte mit den Unbekannten mit. Alles war besser, als zurück zu müssen. Zurück in dieses widerliche Zuchthaus und die Tatsache, dass es Männer gab, die hier frei herum liefen, ließ die Hoffnung in seinem Herzen aufkeimen. Ein Leben in Freiheit war möglich...