„6360! Essen ist da! Streck deinen Arm durchs Gitter!“ Die Wächterin schlug hart gegen die Stäbe seiner Zelle, wodurch der Gefangene vor Schreck fast von seiner Liege fiel. Er hatte gerade ein wenig gedöst und gehofft, dass so die Zeit schneller vorbeiging, wobei er nicht einmal wusste, worauf er überhaupt warten sollte. Sein Kamerad war nun schon seit guten zwei Monaten verschwunden und an seiner Situation hatte sich nichts verändert.
Ruhig ging er zum Gitter und streckte seinem Arm durch den geöffneten Spalt. Keine Sekunde später spürte er den leichten Stich und zwei Herzschläge lang hielt er still, bevor er seinen Arm wieder zu sich hineinzog. Vor seinen Füßen stand wie immer dieser Teller voller Haferschleim und ein Glas mit Wasser. Mehr gab es nicht zur Mittagszeit. In der Früh und Abends gab es trockenes Brot. Doch alles schmeckte nur noch fad.
Er seufzte als er nach den Löffel griff und kurz zögerte. Sollte er vielleicht in Hungerstreik gehen? Nein, das war lächerlich. Dann würden sie ihn höchstens sterben lassen oder wenn es schlimmer kam, sogar zwangsernähren. Sie waren doch nur Vieh für sie. Vieh, das sie ausbeuten konnten.
Wie gerne hätte er jetzt einen leckeren Entenbraten oder einfach nur ein Stück Hartsalami. All das wäre jetzt besser, als dieser graue Klumpen Mist. Dennoch tauchte er den Löffel ein und begann zu essen. Es schmeckte wirklich nach nichts mehr. Als würde er auf Papier herum kauen. Wobei das wenigstens nach einer Weile süß werden würde, doch dieses Gericht bekam schon lange keinen Geschmack mehr.
Er seufzte schwer und aß weiter. Wieso konnte er nicht hören? Warum war er nicht in seinem Versteck geblieben? Er hätte doch nur. Sofort schüttelte er den Kopf. Nein, er wollte nicht daran denken. Es änderte doch eh nichts mehr, aber die Bilder drängten sich ihm weiter auf.
Er sah wieder den großen Bauernhof vor sich. Das Mädchen mit den braunen Haaren hielt seine Hand und rannte vor ihm her. „Komm, Stefan! Wir müssen uns verstecken! Mutter hat gehört, dass Kontrolleure unterwegs sind!“
„Ach, Marie! Das macht doch langsam keinen Spaß mehr! Wir sind schließlich keine Kinder mehr!“ Stefan wollte sich losreißen, doch ihr Griff wurde fester. Schon fast verzweifelt. „Das ist auch kein Spiel, Stefan!“
Er seufzte genervt und folgte ihr wie immer in die große Scheune. Sofort zerrte sie ihn hinter einen der Strohhaufen, in dem sie sich immer leicht vergruben damit sie nicht gefunden wurden. Es war faszinierend, dass es immer klappte. Sie hielt weiterhin seine Hand, als sie neben ihm lag und er spürte ihren schnellen Herzschlag an seinen Händen.
Der Staub des Strohs kratzte in seinem Hals und er hasste es. Warum mussten sie das tun? Ihm wäre niemals irgendeine Art von Verbrechen aufgefallen und schließlich lebte er schon seit er denken konnte bei dieser Familie. Es waren gute Leute. Nette Leute, die versuchten über die Runden zu kommen und ihr Leben dennoch liebten. Diese Einfachheit und die Natur. Das Leben mit den Tieren und diese tägliche Routine.
Marie hielt immer noch seine Hand, während er spürte, dass ihm plötzlich anders wurde. Er konnte ihren Atem auf seiner Wange spüren. Unter dem Strohgeruch war dort ihr leicht süßliches Parfüm, das ihn schon so lange begleitete. Sie war so nah und er spürte, wie sein Griff fester wurde, bevor er sich dann langsam zu ihr herüber lehnte und sie küsste. Er spürte, dass sie kurz zusammen zuckte, doch sie blieb. Ließ sich in den Kuss fallen und erwiderte ihn nach dem kurzen Schockmoment sogar, was Stefan trunken machte.
Sein Blut begann durch seine Adern zu rauschen und eine Hitze erwachte in seinem Körper. Er wollte ihr näher sein. Sie spüren und so begriff er nicht, was er tat. Seine Hände wanderten. Gefolgt von seinen Lippen. Ihr Atem wurde schneller. Immer wieder flüsterte sie seinen Namen und fuhr auch fahrig über seine Haut. Das Stroh raschelte um sie herum, während ein Kleidungsstück nach dem anderen fiel.
Er folgte nur seinem Gefühl. Ließ sich treiben. Ließ alles geschehen. Es fühlte sich so gut an. „Stefan. Nicht. Wir müssen aufhören. Die Wächterinnen.“ Er hörte ihren Einwand, doch er küsste ihn weg. Sie stöhnte. Ihre Laute vermischten sich und er riss sie mit sich. Es war ein Gefühl, das er nie wieder empfinden würde. Ein letztes Hochgefühl. Die Welle aus Glück riss ihn mit sich, als sie hörten, wie das Scheunentor aufgerissen wurde.
„Vergewaltiger!“ Man riss ihn von Marie weg. Er begriff nicht, was geschah, als man ihn unbarmherzig zu Boden drückte und blitzschnelln Handschellen anlegte. Der lehmige Boden drückte sich unnachgiebig in seine Haut. Riss mit seiner Kälte die Hitze aus dem Körper, während der Schmerz das Glück erstickte.
„Ist das ihre Tochter?!“ Die Stimme war herrisch. Er konnte nur im Augenwinkel ihre schwarze Kleidung und die rote Mütze erkennen. Vor seiner Nase stand ein Lederstiefel und erlaubte ihm nicht etwas anders zu sehen.
„Ja, das ist unsere Tochter Marie.“ Er hörte die Stimme einer seiner Ziehmütter. Eilige Schritte gingen an ihm vorbei und dann war dort das Rascheln von Stroh. Er fing zu zittern an, während man ihn weiter nach unten gedrückt hielt. Was wurde hier gespielt? Was geschah jetzt?
„Woher kommst du, Vergewaltiger?“ Stefan brauchte erst eine Weile bis er verstand, was man von ihm wollte und ohne groß nachzudenken antwortete er falsch: „Ich wohne hier.“
Plötzlich war dort diese unheilvolle Stille vor dem Sturm. Der Stiefel blieb vor seiner Nase und dann hörte er Marie schreien: „NEIN! Mama!“ Schritte eilten an ihm vorbei. Jemand schien zu fallen, doch er sah immer noch nur diese Frau, die ihn festhielt, während um ihn herum seine Welt zerbrach.
„Keine Angst, mein Kind. Du wirst eine neue Familie bekommen. Mütter, die dich vor solchen Monstern beschützen.“ Dort war ihr Parfüm. Sie lief an ihm vorbei. Er konnte es spüren, doch er konnte sie nicht sehen. Sie war so weit weg. Was geschah hier? Warum? Was hatte er nur getan?
„So, und du Hübscher wirst jetzt schlafen geschickt.“ Der erste Stich von vielen in seinem zukünftigen Leben. Er schlief ein und als er wieder aufwachte, war er in der Zelle mit seinem Kameraden: Ein Jugendlicher in ungefähr dem gleichen Alter, doch dieser hatte die Welt noch nie gesehen. War sein gesamtes Leben über hier gewesen und Stefan wollte am Anfang nicht mit ihm reden. Er konnte nicht glauben, was er getan hatte. Verstand nicht, was sein Fehler gewesen war. Die Einsicht hatte lange gedauert. Zu lange für seinen Geschmack.
Ruhig aß er seinen Haferschleim auf und ging dann zurück zu seiner Liege. Er legte sich darauf und starrte an die Wand. Vielleicht hätte er sich damals mehr wehren sollen. Mehr dagegen tun sollen, dann hätten sie ihn getötet und er wäre jetzt nicht hier.
Ein trauriges Lächeln legte sich auf seine Lippen. Es musste doch mehr geben. Mehrere Wege hier raus außer zu sterben. Sein Zellengenosse hatte es ihm doch gezeigt. Dieses Leben war nicht endgültig. Es konnte sich noch etwas ändern. Er musste nur am Leben bleiben und ihm vertrauen. Ja, er würde ihn holen. Ganz bestimmt. Schließlich hatten sie es sich doch versprochen. Entweder beide oder keiner. Er wird zurückkommen. Ganz gewiss. Ganz gewiss. Schließlich waren sie doch Freunde, oder nicht?