1. Kapitel
„Habe ich dir schon gesagt, dass du heute wunderschön aussiehst?", fragte Ethan mich mit einem neckenden Grinsen, worauf ich bloss lächelnd die Augen verdrehte.
„Ja. Ja, das hast du. Ungefähr schon zwanzigmal, seit wir mein Haus verlassen haben." Ethan sah mich mit grossen Augen an und ich lachte, was die Aufmerksamkeit der Leute erlangte, die sich an den benachbarten Tischen niedergelassen hatten.
„Erst zwanzigmal? Das reicht aber noch nicht einmal für den halben Abend!" Mein Freund zog eine nachdenkliche Schnute, als würde er ernsthaft darüber nachdenken, was er besser machen könnte.
Ja genau. Mein Freund. Mein fester Freund. Mein Badboy. Wir waren jetzt seit genau sechs Wochen offiziell zusammen und um ganz ehrlich zu sein: Das waren die allerbesten sechs Wochen in meinem gesamten Leben.
In meiner Vergangenheit hatte ich einigen schrecklichen Schicksalschlägen ins Auge blicken müssen. Daran Schuld war einzig und allein meine Gen-Krankheit, die ich leider bereits seit meiner Geburt mit mir trug.
Zum Glück wurde vor genau eineinhalb Jahren das Wunder gefunden, ein Medikament, das tatsächlich anschlug und meine Krankheit in Schach hielt. Dies ermöglichte mir nicht nur zu leben, sondern auch ein normales Leben führen zu können. Naja... So normal, wie es für eine totkranke Teenagerin eben möglich war.
„Aber Ethan! Wir sind erst vor einer halben Stunde losgefahren!", lachte ich und schüttelte dabei den Kopf.
Im letzten Schuljahr mussten Ethan und ich zusammen ein Sozialkundeprojekt machen, das uns ziemlich misslungen ist. Jedenfalls endete es damit, dass wir uns gegenseitig heruntergemacht hatten. Folglich wollte unsere Sozialkundelehrerin Mrs. Collins, dass wir das Projekt noch ein zweites Mal machen. Dieser Versuch endete jedoch damit, dass ich zusammen gebrochen war und ins Krankenhaus gebracht wurde...
Jedenfalls hatten wir uns in diesem Jahr aufgrund dieser Aufgabe oft getroffen. Ich hatte gedacht, ihn so bereits ziemlich gut kennengelernt zu haben, doch in den letzten sechs Wochen habe ich mehr von Ethan erfahren, als in dem gesamten Jahr.
Er war ein Badboy, das schon.
Er konnte aber auch ganz anders.
Wir alberten oft herum, führten ernste Gespräche und kuschelten.
Sein Badboy-Getue war bloss eine Maske, dabei war ich mir sicher, denn wenn wir bloss zu zweit waren, liess er diese Seite nie raushängen. Das tat er nur, wenn meine Brüder und seine Kumpels dabei waren.
Das könnte jedoch auch daran liegen, dass meine Brüder und seine Freunde zu den Badboys unserer Schule gehörten...
Ich würde wohl nie richtig verstehen, wie die Typen tickten.
„Nati? Bist du noch bei mir?"
Ich blinzelte und blickte in Ethans amüsiertes Gesicht. „Ähm... Ja! Tut mir leid. Ich war gerade in Gedanken", stammelte ich und spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss.
Ethans Augen funkelten. „Ja, das habe ich gemerkt", neckte er mich. „Woran hast du denn gerade gedacht?"
Ein kleines, schüchternes Lächeln schlich sich auf meine Lippen. „Ich habe daran gedacht, wie glücklich ich bin. Deinetwegen."
Nun blitzten seine Augen förmlich und ich konnte sehen, was er für mich empfand. Zu sehen, dass er mich liebte, machte mich nur noch glücklicher.
Hätte mir jemand vor einem Jahr gesagt, dass ich mich verlieben würde und mein Leben auf die gute Schiene rücken würde, so hätte ich diese Person ausgelacht und danach wahrscheinlich noch wüst beschimpft. Aber was erwartet man auch anderes von einem Mädchen, das eine Krankheit besaß, die weltweit bloß sieben Fälle aufwies. Erst vor zwei Wochen ist ein Junge in Brasilien an der Krankheit gestorben, wie ich von John per E-Mail erfahren hatte.
Er war der zweitälteste von uns und jetzt war ich es. Das Mädchen aus Norwegen wurde noch in diesem Jahr achtzehn Jahre alt, doch auch um ihre Gesundheit machten sich die Ärzte Sorgen. Leider war es so, dass wir nicht alle den gleichen Typ der Krankheit besaßen, so wirkte das Wunder bloß bei Miriam, einem australischen Mädchen, das bloß ein halbes Jahr jünger war als ich, und bei mir.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Ethan seine Hand auf meine legte und mich warm anlächelte. „Ich bin auch glücklich", meinte er und sah mir in die Augen, was mich ein weiteres Mal zum Schmelzen brachte.
Wenn ich an den Anfang des letzten Jahres zurückdachte, als Ethan und ich uns kaum ausstehen konnten, musste ich unwillkürlich kichern. Natürlich wollte der gut aussehende Badboy vor mir sofort wissen, weshalb ich lachte, doch bevor ich hätte antworten können, wurde ich von genau einer dieser Personen unterbrochen, die ich hier nicht hätte sehen wollen.
„Einen wunderschönen Abend, die Herrschaften! Was geht ab?", rief Dylan, einer meiner fünf Brüder, euphorisch. Dabei zog er den benachbarten, leeren Tisch an unseren heran. Und pflanzte sich auf den Stuhl neben Ethan. Zu allem weiteren Überfluss musste ich feststellen, dass der ganze Rest meiner Geschwister ebenfalls hier antanzte und noch einen weiteren Tisch zu uns zogen, sodass nun alle Oceans (mit Ausnahme unserer Eltern) versammelt waren, und Ethan und ich wie in einem Schraubstock mittendrin festsassen.
„Was soll das hier werden?", fauchte ich, als ich mich aus meiner Schockstarre befreit hatte.
„Wir dachten, ein letztes gemeinsames Abendessen bevor das neue Schuljahr beginnt, wäre doch eine schöne Sache", grinste Dylan böse und rief einem Kellner zu, dass er die Karte möchte.
„'Wir'? Mit anderen Worten wohl eher du! Du warst doch sowieso am wenigsten davon begeistert, dass Ethan und ich zusammen gekommen sind!", fuhr ich ihn anklagend an.
„Ach, Quatsch! Wir sind doch Kumpels!", antwortete der Angeklagte und schlug Ethan eine Spur zu heftig auf den Rücken. Mit einem kritischen Blick auf mich fügte er noch fragend hinzu:„Findest du nicht, dass du dich etwas zu sehr aufgebrezelt hast?"
Frustriert vergrub ich mein Gesicht in den Händen. Ja, ich hatte mir heute Abend mehr Mühe mit meinem Aussehen gegeben als sonst.
Ethan und ich waren nun seit sechs Wochen zusammen! Das war mehr als ein ganzer Monat! Ich dachte heute würden wir etwas weitergehen, als bloss zu kuscheln und zu knutschen. Mit meinem engen, roten Kleid und etwas mehr Make-up, wollte ich Ethan halt um den kleinen Finger wickeln.
Das konnte ich ja jetzt vergessen...
„Ich finde, Nati sieht heute wahnsinnig hübsch aus." Ich sah zu meiner Rechten und blickte in das freundliche Gesicht meiner grorssen Schwester Atlanta.
Ich lächelte sie dankbar und gerührt von ihrem Kompliment an.
Ich war wirklich froh, dass ich meine Schwester wieder bei mir hatte. Das letzte Jahr hatte sie nämlich in Russland verbracht, als sie sich für ein Auslandsjahr beworben hatte.
Es war mehr als nur schwierig einem Haushalt zu überleben, wenn noch vier testosterongesteuerte Wesen unter dem selben Dach lebten, die zu allem Überfluss noch allesamt Badboys waren. Mein einziger Bruder, der einigermassen normal war, war Kyle, doch ausgerechnet er wohnt nicht mehr bei uns sondern in einer WG.
Das Leben konnte so unfair sein!
„Nati, du wolltest es heute doch nicht etwa mit ihm treiben!", stachelte Dylan weiter und bemerkte wohl gar nicht, dass er ziemlich genau ins Schwarze getroffen hatte.
Ich liess meinen Geschwistern gar nicht die Zeit zu merken, dass er recht hatte, und eins und eins zusammenzählen würden.
„Freundchen... Du rüttelst ganz schön doll am Ohrenfeigbaum!", mahnte ich und sah ihn mit meinem besten Killerblick an.
„Von deinen Drohungen lasse ich mich nicht beeindrucken, Schwesterherz. Wenn ich mir eine von dir fange, dann musste das passieren."
Ich sah Dylan irritiert an und schaute die anderen fragend an, die bloss mit den Schultern zuckten.
„Sag mal: Wovon sprichst du denn genau?!"
Mit dieser Frage schien ich ebenfalls die Gedanken der anderen auszusprechen.
Mit einem Gesichtsausdruck, der einem Klugscheisser nahe kam, lehnte Dylan sich zurück und meinte:„Eine Leiche rannte um die Ecke und verreckte.
„Schicksal", sprach die Leiche und starb weiter."
Nun starrten wir ihn alle an, als wäre er verrückt. Naja, bei dem Zeug, das der da gerade von sich gab, war das wohl kein Wunder.
„Was faselst du denn nun schon wieder für einen Mist?! Hast du etwas genommen?", fragte ich ihn - nun aber etwas besorgt.
„Das sagt die mit den w******p-Status - ich zitiere: Lasst uns mal alle einen Moment dankbar sein, dass Spinnen nicht fliegen können", gab mein Bruder lachend zurück.
„Hey! Lass meinen Status da raus! Diese Aussage ist nämlich total berechtig. Stell dir das mal vor!" Mich schauderte es am ganzen Körper schon nur bei dieser grauenhaften Vorstellung.
Alle am Tisch lachten und so schien zumindest bei ihnen die etwas unangenehme Situation aufgelockert worden zu sein. Ich jedoch war immernoch sauer auf meine lieben Geschwister - vor allem aber auf Dylan -, da sie mir den Abend mit Ethan zu Nichte gemacht hatten.
Eigentlich, gestand ich mir selber ein, war es gar kein Wunder. Schließlich waren wir nicht umsonst die Oceans. Normal sein stand bei uns einfach nicht auf dem Programmzettel des Alltags.
Aber eines schwor ich mir: Wenn Dylan irgendeinmal so richtig verliebt war und sogar eine Freundin hatte (was ich bei ihm irgendwie bezweifelte), würde ich ihm die Sache genau so schwer machen, wie er es bei mir tat.