Eine neue Routine

1162 Words
Der Morgen begann wie jeder andere: Der Wecker riss mich aus dem Schlaf, und ich lag noch eine Weile da, bevor ich mich dazu zwang, aufzustehen. Doch als ich mich zum Kleiderschrank schleppte, hörte ich eine Stimme aus der Küche. Eine Stimme, die mir inzwischen vertraut war. Jenny war da. War sie etwa über Nacht geblieben? Ich zog mir ein frisches Shirt und eine Jeans an, während ich mir überlegte, was das bedeutete. Leise ging ich in die Küche und versuchte, möglichst unauffällig zu wirken. Jenny saß am Tisch, eine Tasse Kaffee in der Hand, und begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln. „Guten Morgen, Jules! Hast du gut geschlafen?“ fragte sie. Ich nickte und murmelte: „Ja, danke. Und du?“ „Sehr gut, danke,“ sagte sie. Sie schien entspannt, fast so, als wäre sie schon seit Jahren ein Teil unseres Haushalts. „Dein Vater ist noch unter der Dusche. Er hat schon Frühstück gemacht. Es ist alles fertig.“ Ich setzte mich an den Tisch und begann, mir ein Brötchen zu schmieren. Jenny sah mich an, ihre Augen sanft, aber aufmerksam. „Du hast wirklich schöne Haare, weißt du das? Sie passen so gut zu dir.“ Die Bemerkung traf mich unerwartet, und für einen Moment spürte ich, wie sich ein kleines Lächeln auf mein Gesicht schlich. „Danke,“ sagte ich leise. „Es ist schön, dich lächeln zu sehen,“ sagte sie und nippte an ihrem Kaffee. Sie schien ehrlich daran interessiert zu sein, mich besser kennenzulernen, und obwohl ich mich innerlich dagegen wehrte, ließ ich es zu. Ich frühstückte schnell, nahm mir mein Schulbrot und verabschiedete mich. Als ich zur Tür hinausging, hörte ich, wie mein Vater aus dem Bad rief: „Schönen Tag, Jules!“ Auf dem Weg zur Schule ging mir die Unterhaltung mit Jenny immer wieder durch den Kopf. Es war seltsam, jemanden so freundlich und interessiert zu erleben, der nicht Hannah war. Vielleicht war sie ja wirklich gut für meinen Vater – und vielleicht auch ein bisschen für mich. In der Schule verlief der Vormittag wie immer: Unterricht, der sich in die Länge zog, und Lehrer, die uns mit endlosen Aufgaben bombardierten. Nichts Besonderes passierte, bis die Pause kam. Während ich mit Hannah in der Mensa saß, bemerkte ich, wie Noah an unserem Tisch vorbeiging. Unsere Blicke trafen sich, und ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. Er lächelte leicht, bevor er weiterging, und ich senkte schnell den Kopf, um meine Verlegenheit zu verbergen. „Jules, du wirst rot,“ neckte Hannah mit einem breiten Grinsen. „Hör auf,“ murmelte ich und biss in mein Brot. „Du findest ihn echt süß, oder?“ fragte sie und lehnte sich verschwörerisch näher zu mir. Ich zögerte, bevor ich nickte. „Ja, aber... was, wenn er gar nicht auf mich steht? Was, wenn er nur nett ist? Was, wenn ich ihm überhaupt nicht gefalle?“ Hannah schüttelte den Kopf. „Jules, hör auf, dir so viele Gedanken zu machen. Du bist toll, so wie du bist. Wenn er dich nicht sieht, ist das sein Problem.“ Ihre Worte waren wie immer ermutigend, aber die Zweifel in meinem Kopf wollten einfach nicht verschwinden. Ich lächelte ihr dankbar zu, und wir wechselten das Thema. Der Rest des Schultages verlief unspektakulär, und als die letzte Stunde vorbei war, verabschiedete ich mich von Hannah und ging nach Hause. Doch als ich die Tür öffnete, fand ich Jenny wieder im Wohnzimmer vor. Sie saß auf der Couch und blätterte durch eine Zeitschrift. „Hi Jules,“ sagte sie fröhlich. „Wie war die Schule?“ „Ganz okay,“ antwortete ich und warf meine Tasche in die Ecke. „Sag mal,“ begann ich zögernd, „bist du jetzt öfter hier?“ Jenny lachte. „Das hoffe ich,“ sagte sie und zwinkerte mir zu. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Es war schwer, sie nicht zu mögen. Sie brachte eine Leichtigkeit ins Haus, die uns lange gefehlt hatte. Mein Vater kam mit einer Schüssel Chips ins Wohnzimmer. „Hier, mein Sohn, für einen gemütlichen Abend,“ sagte er und stellte die Schüssel auf den Tisch. Seine Worte trafen mich wie ein Schlag. „Mein Sohn.“ Warum konnte er nicht sagen: „Meine Tochter“? Warum konnte er nicht sehen, wer ich wirklich war? Ich senkte den Blick, um meinen Schmerz zu verbergen, aber Jenny schien es bemerkt zu haben. Ihr Lächeln verschwand für einen Moment, und sie sah mich nachdenklich an. Wir sahen zusammen einen Film, aber ich konnte mich kaum darauf konzentrieren. Meine Gedanken kreisten um die Worte meines Vaters, um Jenny, um Noah. Nach dem Film verabschiedete ich mich und ging in mein Zimmer. Doch statt mich hinzulegen, blieb ich an der Tür stehen und lauschte. „Was ist mit Jules los?“ hörte ich Jenny fragen. Mein Vater seufzte. „Ich weiß es nicht. Jules hat... na ja, eine schwierige Phase. Eine kleine Krise, würde ich sagen. Ich weiß einfach nicht, wie ich damit umgehen soll.“ „Was für eine Krise?“ fragte Jenny vorsichtig. Nach einem Moment des Zögerns erzählte mein Vater ihr von meinen Gefühlen, von meinem Wunsch, anders zu sein, und davon, dass er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Jenny schwieg einen Moment, bevor sie sagte: „Es ist kein Wunder, dass Jules so verschlossen ist, wenn du immer ‚mein Sohn‘ sagst, obwohl das nicht das ist, was sie fühlt.“ Ihre Worte trafen mich tief. Sie verstand es – zumindest ein bisschen. Doch gleichzeitig fühlte ich mich entblößt, als hätte mein Vater ein Geheimnis preisgegeben, das ich noch nicht bereit war, mit der Welt zu teilen. Ich zog mich ins Bett zurück, aber die Worte von Jenny und meinem Vater ließen mich nicht los. Ich griff nach meinem Notizbuch und begann zu schreiben: Ein Zuhause, das keins ist, ein Name, der nicht passt, Ein Spiegelbild, das mich jeden Tag hasst. Eine Wahrheit, die leise in mir ruht, Doch niemand sieht, wie sehr es mir wehtut. Du siehst mich, doch erkennst mich nicht, Dein Blick blendet die Wahrheit, dein Herz sieht kein Licht. Ich wünsche mir Worte, die ehrlich und rein, Ein „meine Tochter“ statt „mein Sohn“ zu sein. Doch Hoffnung lebt, wie ein flackerndes Licht, Vielleicht kommt der Tag, an dem der Schleier bricht. Und dann bin ich frei, endlich ich, Ein Leben in Wahrheit – für uns, für dich. Ich las die Zeilen noch einmal durch, bevor ich das Notizbuch zuklappte und es unter mein Kissen schob. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen und einem Kopf voller Gedanken zog ich die Decke über mich und schloss die Augen. Der Tag war anstrengend gewesen, voller kleiner Momente, die mich aus der Bahn geworfen hatten. Doch irgendwie fühlte ich auch eine seltsame Art von Hoffnung – als würde ein kleiner Teil von mir glauben, dass es eines Tages besser werden könnte. Mit diesem Gedanken schlief ich schließlich ein.
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