Ein unerwarteter Gast

1073 Words
Als ich die Haustür öffnete, fiel mir sofort die fremde Stimme auf, die aus dem Wohnzimmer drang. Sie war warm, freundlich und mit einem leichten Lachen untermalt – und doch vollkommen unbekannt. Meine Stirn legte sich in Falten, und ich schloss die Tür leise hinter mir. Wer konnte das sein? Mein Vater hatte eigentlich nie Besuch. Vorsichtig hängte ich meine Jacke an die Garderobe und trat langsam näher. Je näher ich kam, desto klarer hörte ich, wie die Stimme mit der meines Vaters verschmolz. Sie klangen entspannt, ja fast heiter, als hätten sie gerade einen besonders lustigen Witz geteilt. Langsam schob ich mich an der Tür zum Wohnzimmer vorbei und spähte hinein. Mein Vater saß auf der Couch, und neben ihm eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte. Beide hielten eine Tasse Tee in den Händen und lachten, bis ich im Türrahmen stand und sie mich bemerkten. Sofort verstummten sie. Mein Vater sprang erschrocken, aber irgendwie auch erfreut auf. "Jules! Du bist ja schon zurück!" rief er und legte die Tasse ab. Er trat auf mich zu, sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Nervosität und Vorfreude. "Das ist Jenny," sagte er dann und deutete auf die Frau, die sich erhob. "Jenny, das ist mein Sohn Jules." Der Satz ''Das ist mein Sohn'' tut mir jedes mal weh. Ich hoffe, irgendwann wird er sagen, ''Das ist meine Tochter.'' Ich blieb wie angewurzelt stehen. Jenny, das Date meines Vaters. Ein Date. Mein Gehirn brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten. Währenddessen hatte Jenny sich schon höflich an mich gewandt und mir die Hand ausgestreckt. "Hallo, Jules. Ich habe schon so viel von dir gehört," sagte sie mit einem warmen Lächeln. Ihre Augen funkelten aufrichtig, als sie sprach. "Es freut mich wirklich, dich endlich kennenzulernen. Dein Vater hat nur Gutes erzählt." Ich zwang mich, ihr die Hand zu reichen und ein Lächeln aufzusetzen. "Hallo. Freut mich auch," sagte ich, obwohl meine Gedanken sich überschlugen. Was genau hatte mein Vater ihr über mich erzählt? Und seit wann führte er Dates in unser Wohnzimmer? "Setz dich doch zu uns," bot Jenny an und klopfte einladend auf die Couch. "Wir haben gerade erst Tee gemacht." Doch ich schüttelte den Kopf. "Danke, aber ich bin wirklich müde. Es war ein langer Tag. Ich wollte mich eigentlich nur noch hinlegen." Mein Vater wirkte einen Moment lang enttäuscht, aber er nickte verstehend. "Natürlich. Ruh dich aus, Schatz. Wir reden morgen, okay?" Ich wünschte den beiden noch einen schönen Abend und zog mich in mein Zimmer zurück. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, lehnte ich mich mit dem Rücken dagegen und atmete tief durch. Mein Herz klopfte schneller, als es sollte. In meinem Kopf rasten die Gedanken. Jenny. Deshalb war mein Vater in letzter Zeit so gut drauf gewesen. Deshalb hatte er mich in London so herzlich umarmt und war so liebevoll gewesen. Das erklärte die aufgeräumte Wohnung, die plötzlichen Pfannkuchen am Morgen und seine allgemein bessere Stimmung. Langsam ließ ich mich auf den Boden sinken und starrte ins Leere. Mein Vater war also verliebt. Und nicht nur das – er schien wirklich glücklich zu sein. Ich erinnerte mich daran, wie oft ich ihn in den letzten Jahren traurig und überfordert gesehen hatte, vor allem nach dem Weggang meiner Mutter. Und dann war da ich gewesen, mit all meinen Herausforderungen, meiner Suche nach mir selbst. Kein Wunder, dass er oft nicht wusste, wie er mit mir umgehen sollte. Ich speicherte das Bild seines glücklichen Lächelns in meinem Gedächtnis. Es war so ungewohnt, ihn so zu sehen, und gleichzeitig tat es irgendwie weh. Es erinnerte mich daran, wie wenig wir in den letzten Jahren zusammen gelacht hatten. Doch trotz dieses Schmerzes spürte ich auch etwas wie Hoffnung. Vielleicht könnte Jenny das sein, was mein Vater brauchte, um wieder ein wenig Freude in sein Leben zu bringen. Nachdem ich eine Weile einfach nur dagestanden hatte, entschied ich mich, Hannah anzurufen. Ich schnappte mir mein Handy, legte mich auf mein Bett und wählte ihren Namen. Schon nach wenigen Sekunden erschien ihr vertrautes Gesicht auf dem Bildschirm. "Hey Jules, was gibt’s?" fragte sie und zog die Decke bis zum Kinn. "Du wirst es nicht glauben," begann ich und erzählte ihr von Jenny und der ganzen Szene im Wohnzimmer. Hannahs Augen weiteten sich vor Überraschung. "Dein Vater hat ein Date? Ernsthaft?" fragte sie und konnte ein Kichern nicht unterdrücken. "Ja, und ich glaube, sie meint es ernst. Sie war so nett, Hannah. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte." "Und wie fühlst du dich jetzt?" fragte sie sanft. Ich zögerte. "Gemischt. Auf der einen Seite freue ich mich für ihn, wirklich. Er sah so glücklich aus, und das hat ihm so lange gefehlt. Aber auf der anderen Seite … ich weiß nicht, es fühlt sich komisch an. Als würde ich meine Mutter verraten, oder so." Hannah nickte verständnisvoll. "Das ist normal, Jules. Aber vergiss nicht, deine Mutter hat sich entschieden zu gehen. Dein Vater hat auch ein Recht darauf, wieder glücklich zu sein. Und vielleicht tut es euch beiden gut, wenn er jemanden hat, der ihn unterstützt." Ich seufzte. "Vielleicht hast du recht. Es ist nur so ungewohnt." "Gib dir Zeit, dich daran zu gewöhnen," sagte sie lächelnd. "Und gib Jenny eine Chance. Wer weiß, vielleicht ist sie genau das, was ihr beide braucht." Wir plauderten noch eine Weile, und Hannah schaffte es wie immer, mich aufzumuntern. Als wir schließlich auflegten, fühlte ich mich etwas ruhiger. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, nahm mein Notizbuch und begann zu schreiben. "Ein neues Kapitel, ein neues Gesicht. Ein Lächeln, das jahrelang fehlte, eine Hoffnung, die zaghaft aufblüht. Doch inmitten des Lichts bleibt ein Schatten, ein Teil von mir, das noch zögert. Kann ich die Vergangenheit loslassen, für die Zukunft, die ich mir wünsche? Ein Zuhause mit Wärme, ein Ort, an dem ich mich nicht verstecken muss. Ein Leben, ehrlich und frei, in dem Liebe die Lücken füllt, die der Schmerz hinterlassen hat. Vielleicht, ja vielleicht, ist dies der Anfang." Als ich den Stift absetzte, fühlte ich mich leichter. Es war, als hätte ich einen kleinen Teil meiner Gefühle losgelassen und in Worte gefasst. Ich legte das Buch zur Seite, kroch unter meine Decke und schloss die Augen. Der Tag war lang gewesen, und obwohl so vieles auf mich eingeprasselt war, spürte ich auch eine leise Zuversicht. Mein Vater war glücklich, und vielleicht, nur vielleicht, war das der Anfang von etwas Gutem. Mit diesem Gedanken schlief ich ein.
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