Ich wurde von einem Sonnenstrahl geweckt, der durch die schmalen Spalten der Jalousie fiel. Mein erster Gedanke war: Zuhause. Der zweite: London war vorbei. Es fühlte sich seltsam an, wieder in meinem eigenen Bett zu liegen, mit den vertrauten Geräuschen des Hauses im Hintergrund. Der alte Heizkörper knackte leise, und ich hörte meinen Vater in der Küche hantieren. Ein unerwartetes Gefühl von Ruhe durchflutete mich – ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr gekannt hatte.
Ich streckte mich aus, schob die Decke beiseite und setzte mich auf. Mein Zimmer wirkte aufgeräumter als sonst, und ich bemerkte, dass mein Vater tatsächlich ein paar Bücher und Zeitschriften auf meinem Schreibtisch sortiert hatte. Es war, als hätte er sich während meiner Abwesenheit wirklich Mühe gegeben, etwas zu verändern. Diese Erkenntnis löste ein sanftes Lächeln auf meinen Lippen aus.
„Jules! Frühstück ist fertig!“ rief er aus der Küche. Seine Stimme klang warm und fröhlich – ein Klang, den ich fast vergessen hatte.
Langsam zog ich meinen Morgenmantel über und schlurfte in die Küche. Dort stand mein Vater, eine Pfanne in der Hand, während der Duft von frischen Pfannkuchen durch den Raum zog. Auf dem Tisch lagen bereits Butter, Marmelade und ein Glas Orangensaft. Die Szene erinnerte mich an eine Zeit, die längst vergangen schien – an die Morgen, an denen er mir nach dem Weggang meiner Mutter Pfannkuchen machte, um mich aufzuheitern.
„Pfannkuchen?“ fragte ich ungläubig, setzte mich und betrachtete ihn. „Das hast du schon ewig nicht mehr gemacht.“
Er lachte leise und setzte sich mir gegenüber. „Ich dachte, es wäre mal wieder an der Zeit. Du hast bestimmt viel Energie auf der Klassenfahrt gelassen.“
Ich nahm einen Bissen und schloss kurz die Augen. Der Geschmack brachte Erinnerungen zurück – Erinnerungen an die Zeit, als mein Vater und ich ein Team gewesen waren, als wir gegen die Traurigkeit angekämpft hatten, die meine Mutter hinterlassen hatte. Die Wärme dieses Moments füllte den Raum, und ich fühlte mich tatsächlich heimisch. Ein Gefühl, das ich fast vergessen hatte.
„Danke, Papa,“ sagte ich leise und schaute ihn an. Er lächelte nur und nahm einen Schluck Kaffee. Es schien, als wollte er etwas sagen, doch er ließ es bleiben.
Nachdem ich aufgegessen hatte, stellte ich meinen Teller in die Spüle und verabschiedete mich. „Ich gehe in die Bibliothek,“ erklärte ich. „Ich brauche ein bisschen Zeit für mich.“
Er nickte und schien zu verstehen. „Mach, was dir guttut.“
Die Bibliothek war mein Rückzugsort. Hier konnte ich die Welt draußen lassen und mich in Geschichten verlieren, die nichts mit meinem eigenen Leben zu tun hatten. Ich nahm meinen Lieblingsplatz in einer ruhigen Ecke ein und schlug mein Notizbuch auf. Die Worte, die ich in London geschrieben hatte, waren immer noch präsent. Ich las sie und fühlte, wie sich ein kleines Lächeln auf mein Gesicht stahl. Die Klassenfahrt hatte mir so viel gegeben, dass ich mich zum ersten Mal stärker fühlte – näher an dem, wer ich sein wollte.
Doch die Ruhe wurde plötzlich von leisen Stimmen unterbrochen. Verwundert schaute ich auf. Es war ungewöhnlich, hier jemanden sprechen zu hören. Langsam stand ich auf und folgte den Geräuschen. In einer der hinteren Ecken der Bibliothek entdeckte ich eine vertraute Gestalt: David, ein Klassenkamerad, der mir in London ein Kompliment gemacht hatte und damit meinen Abend versüßt hatte. Doch er war nicht allein. Neben ihm saß ein Junge, den ich nicht kannte. Sie hielten Händchen und schienen gemeinsam in ein Buch vertieft.
Ich erstarrte. David schien mich nicht bemerkt zu haben, doch ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Es war ein unerwarteter Moment der Nähe, den ich fast als zu privat empfand, um Zeugin zu sein. Doch bevor ich mich zurückziehen konnte, sah David auf – direkt in meine Richtung. Seine Augen weiteten sich vor Schreck.
Ich wandte mich hastig ab und eilte zurück zu meinem Platz, mein Herz klopfte wie wild. Kaum hatte ich mich gesetzt, hörte ich Schritte hinter mir. Es war David.
„Jules!“ begann er leise und setzte sich zu mir. „Hör zu, das ist nicht, was du denkst … ich meine …“
„David,“ unterbrach ich ihn und legte eine Hand auf seinen Arm. „Du musst dich nicht erklären.“
Er sah mich verwirrt an, seine Wangen leicht gerötet. „Aber …“
„Ich freue mich für dich,“ sagte ich ehrlich. „Ich weiß, wie schwer es ist, sich immer verstecken zu müssen. Du kannst mir vertrauen. Ich werde nichts sagen.“
Er starrte mich für einen Moment an, dann schien er langsam zu verstehen. „Danke,“ sagte er schließlich, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Das bedeutet mir viel.“
In diesem Moment kam der Junge, der bei ihm gesessen hatte, zu uns. Er wirkte zunächst zögerlich, doch David nahm ihn an der Hand und stellte ihn vor. „Das ist Max,“ sagte er und blickte mich an, als wolle er sicherstellen, dass ich keine Vorurteile hatte.
„Hi Max,“ begrüßte ich ihn freundlich. „Schön, dich kennenzulernen.“
Wir setzten uns zu dritt an meinen Tisch, und die anfängliche Spannung löste sich schnell. Wir redeten über die Bibliothek, Bücher und natürlich über London. Max war witzig und charmant, und ich merkte, wie ich mich allmählich entspannte. Es war ein unerwarteter Moment des Zusammenhalts, den ich nicht hatte kommen sehen.
„Weißt du,“ sagte David irgendwann, „ich hätte nie gedacht, dass ich jemandem aus der Klasse so etwas anvertrauen könnte. Aber mit dir fühlt es sich … sicher an.“
Ich lächelte und nickte. „Ich weiß, wie es ist, sich alleine zu fühlen. Aber vielleicht müssen wir das nicht mehr sein.“
Wir unterhielten uns noch eine Weile, bis ich schließlich meine Sachen zusammenpackte. „Ich sollte los,“ sagte ich. „Aber es war schön, euch hier zu treffen.“
„Bis bald, Jules,“ sagte David, und ich wusste, dass er es ernst meinte.
Auf dem Heimweg spürte ich, wie meine Gedanken um David kreisten. Sollte ich Hannah davon erzählen? Sie war meine beste Freundin, und ich teilte alles mit ihr – aber das war nicht meine Geschichte, um sie weiterzuerzählen. Ohne Davids Erlaubnis konnte und wollte ich nichts sagen. Meine Gedanken wurden jedoch unterbrochen, als mein Handy vibrierte. Eine Nachricht von David: „Danke, Jules. Du bist echt toll. Ich hab überlegt … willst du dich nicht mal mit Max und mir treffen? Vielleicht könnten wir zusammen was unternehmen.“
Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Das war der perfekte Moment, um Hannah mit einzubeziehen. Ich schrieb zurück: „Das klingt super! Kann ich meine beste Freundin mitbringen? Sie ist absolut vertrauenswürdig, ich verspreche es.“
Davids Antwort ließ ein paar Minuten auf sich warten. „Hm, ich bin mir nicht sicher. Aber wenn du sagst, dass sie cool ist … Okay. Aber bitte wirklich diskret.“
Ich tippte schnell: „Versprochen. Wir sind ein sicherer Ort.“
Als ich nach Hause kam, fühlte ich mich irgendwie erleichtert. Es war, als würde mein Kreis von Menschen, bei denen ich ich selbst sein konnte, langsam größer werden. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, zog mein Notizbuch hervor und begann zu schreiben. Die Worte flossen einfach aus mir heraus:
„Ein Körper, der Heimat sein soll, doch Fremde bleibt,
Ein Streben nach Wahrhaftigkeit, das mich treibt.
Mit Menschen, die sehen, was wirklich zählt,
Ein Leben, das endlich mich selbst enthält.“
Ich las die Zeilen erneut und lächelte. Vielleicht war ich noch nicht ganz dort, wo ich sein wollte – aber ich war auf dem Weg. Und das war ein Anfang. Den restlichen Abend schaute ich noch Serien und zeichnete ein wenig. Ich hatte das Gefühl, langsam aber sicher geborgen und sicher zu sein. Was sollte mir passieren? Mehr wie Ablehnung kann ich doch nicht bekommen, oder?
Doch darum wollte ich mich heute nicht mehr kümmern, ich legte mich hin und genoss die Ruhe, bis ich einschlief.