Abschied von London

1034 Words
Der letzte Morgen in London war gekommen, und mit ihm eine bittersüße Stimmung, die sich wie ein Schleier über uns alle legte. Ich stand am Fenster unseres Hotelzimmers und blickte hinaus auf die pulsierende Stadt, die ich in den letzten Tagen so ins Herz geschlossen hatte. Hannah saß hinter mir auf ihrem Bett, vertieft in ihr Tagebuch. Der Gedanke, diesen Ort zu verlassen, machte mich traurig, aber gleichzeitig hatte ich eine seltsame Unruhe in mir. Die Aussicht auf die Heimreise mischte sich mit der Angst, wieder in den Alltag zurückkehren zu müssen – in ein Leben, das oft wie ein Kampf gegen mich selbst war. Unsere Klasse sammelte sich vor dem Bus. Bevor wir einstiegen, machten wir gemeinsam ein letztes Gruppenfoto mit der Skyline von London im Hintergrund. Ich schloss die Augen und sog die kalte Morgenluft ein. Dieses Bild wollte ich in meinem Herzen bewahren, als einen kleinen Schatz, den mir niemand nehmen konnte. Hannah und ich suchten uns wie gewohnt unseren Platz nebeneinander. Der Bus setzte sich in Bewegung, und ich schaute noch ein letztes Mal auf die Stadt zurück. Die Häuser, die Straßen, die Menschen – alles wurde kleiner, bis es schließlich verschwand. „Was denkst du gerade?“ fragte Hannah, während sie ihre Kopfhörer aus ihrer Tasche zog. Ich brauchte einen Moment, um meine Gedanken zu sortieren. „Ich weiß nicht. Irgendwie fühlt es sich so an, als würde ich etwas zurücklassen, das ich gerade erst gefunden habe.“ „Das Gefühl kenne ich,“ sagte sie leise. „Aber es ist nicht weg. Alles, was du hier erlebt hast, trägst du jetzt in dir. Es gehört zu dir.“ Ich lächelte schwach und nickte. Hannah und ich ließen die letzten Tage noch einmal Revue passieren. Wir sprachen über den Moment, als wir die Tower Bridge zum ersten Mal sahen, und darüber, wie wir uns im British Museum hoffnungslos verlaufen hatten. Natürlich durfte auch die Travestie-Show nicht fehlen. Ich versuchte, in Worte zu fassen, was diese Nacht für mich bedeutet hatte, doch alles, was ich hervorbrachte, war ein leises: „Es war einfach unglaublich.“ Hannah verstand mich auch so. Sie griff nach meiner Hand und drückte sie sanft. Dann setzten wir unsere Kopfhörer auf, ließen die Welt um uns herum verschwimmen und schliefen schließlich ein. Doch mein Schlaf war nicht ruhig. In meinem Traum war ich zu Hause, in unserem kleinen Wohnzimmer. Ich saß meinem Vater gegenüber und versuchte, ihm alles zu erklären. Mein Herz schlug wie verrückt, während ich Worte fand, die ich im echten Leben nie laut auszusprechen wagte. „Papa, ich bin nicht der, für den du mich hältst. Ich war es nie. Ich bin Jules, aber nicht so, wie du denkst. Ich will mich endlich selbst leben.“ Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Erst sah er mich fragend an, dann wurde seine Miene hart. Ohne ein Wort stand er auf, zog sich seine Jacke an und ging zur Tür hinaus. Ich schrie ihm hinterher, aber er blieb nicht stehen. Er war einfach weg. Ein erdrückendes Gefühl der Einsamkeit machte sich in mir breit. Ich wollte aufwachen, doch der Traum hielt mich gefangen. Plötzlich spürte ich, wie mich jemand schüttelte. „Jules! Jules, wach auf!“ Ich riss die Augen auf und sah Hannahs besorgtes Gesicht vor mir. Meine Atmung ging schnell, und mein Herz schlug wie wild. „Alles okay?“ fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe geträumt … von meinem Vater. Es war schrecklich, Hannah. Ich habe ihm alles erzählt, und er … er ist einfach gegangen. Er hat mich verlassen.“ Hannah legte einen Arm um meine Schultern. „Das war nur ein Traum. Dein Vater mag vielleicht nicht alles verstehen, aber er wird dich nicht verlassen. Du bist seine Tochter, Jules. Gib ihm Zeit. Es wird besser, ich verspreche es dir.“ Ich wollte ihr glauben. Wirklich. Aber die Angst saß tief. Nach vielen Stunden Fahrt erreichten wir endlich unser kleines Dorf. Es war spät am Abend, und die Straßen waren still. Ich sah meinen Vater, wie er an seinem alten Wagen lehnte und auf mich wartete. Mein Herz zog sich zusammen. Er sah müde aus, aber als er mich entdeckte, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Zu meiner Überraschung nahm er mich in den Arm, sobald ich aus dem Bus stieg. Es war keine flüchtige Umarmung, wie ich sie manchmal von ihm bekam. Es war eine echte, warme Umarmung. Für einen Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Hannah, die gerade ihr Gepäck auslud, sah uns an und zwinkerte mir zu. „Ich melde mich morgen bei dir,“ sagte sie, bevor sie ins Auto ihres Vaters stieg. Auf der Heimfahrt war ich still. Mein Vater fragte mich, wie die Reise war, und ich erzählte ihm von den Sehenswürdigkeiten, den Museen und den Abendessen mit der Klasse. Doch ich verschwieg die Dinge, die mir wirklich wichtig waren. Zu Hause angekommen, bemerkte ich sofort, dass etwas anders war. Das Wohnzimmer war aufgeräumt, die Küche blitzte, und selbst mein Zimmer wirkte, als hätte jemand aufgeräumt. Ich legte meinen Rucksack ab und sah meinen Vater fragend an. Er wich meinem Blick aus. „Es war Zeit für ein bisschen Ordnung,“ sagte er nur. Ich wusste, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Da war etwas, das er mir nicht erzählte. Und die Frage, warum er mich so herzlich umarmt hatte, nagte an mir. Es war eine Geste, die so ungewohnt war, dass sie mich mehr verunsicherte als alles andere. Ich setzte mich auf mein Bett und starrte auf den Zettel, den ich aus London mitgebracht hatte: „Vergiss nie, wie stark du bist. Die Welt braucht dein Licht.“ Ich wollte stark sein. Aber in diesem Moment wusste ich nicht, was als Nächstes auf mich zukam. All diese ungewohnten Gefühle in mir ließen mich nicht nur an mir zweifeln, sondern auch an der Situation mit meinem Vater. Was hatte er vor? Wieso kommt er mir so verändert vor und warum sieht es hier plötzlich so aus, wie es aussieht? Nach all diesen Fragen und Erlebnissen war ich wahnsinnig müde und legte mich hin. Ich habe gehofft, dass mir die nächte Zeit Klarheit gibt und mich verstehen lässt.
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