I-3

2131 Words
Diese absurde Frage hat mich Neugierig gemacht: «Was meinst du damit?» « Ich wiederhole: es war unser erstes Date. Er hatte sich schon vorgestellt, dass wir zusammenziehen würden. Jeder aber er musste für seine eigenen Ausgaben aufkommen: erst mit seinem Gehalt, dann mit seiner Rente.» “Hast du deine Inps-Beiträge bezahlt?” Nein, sie war nicht die Chiara Rigoni, die ich gesucht hatte. Während ich noch über diese seltsame Bekanntschaft zurückdenke, bekomme ich eine weitere Nachricht von Obscura alba: Allora vieni? Chiedi di salire alla camera di Patrizia Salvatori. [Also kommst du? Frag nach dem Zimmer von Patrizia Salvatori.] “Diese Sektenmitglieder benutzen nie ihre richtigen Namen. Sie sind nicht zufrieden, wenn sie nicht für jede Gelegenheit ein Pseudonym haben. Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht einmal, ob Chiara ihr richtiger Name ist.” Ich habe noch nicht verstanden, was sie will. Eine “romantische” Einladung ist es jedenfalls nicht, zumal sie es deutlich gemacht hat, dass ich jemand kennen lernen soll. Die Eingangstür des Hotels ist verschlossen: ich klingele. Keiner antwortet. Ich klingele noch einmal, diesmal länger. Die Tür bleibt verschlossen. Vielleicht schickt mir Pollon, die Beschützerin der Dummköpfe, ein Zeichen vom Olymp. Ich schaue hinein: alles ist dunkel. Ich schreibe eine kurze Nachricht an Chiara: Io sono sotto all’hotel, ma è chiuso. [Ich bin unterhalb des Hotels, aber es ist verschlossen.] Ihre Antwort kommt sofort: Digita il codice d’accesso sulla tastiera a sinistra del porto- ne: 1337. Poi sali al secondo piano, camera 40 [Gib den Zugangscode auf der Tastatur links neben der Tür eint: 1337 Dann komm an zweiten Stock, Zimmer 40] .Ich öffne die Tür und gehe die Treppe hinauf. Als ich das Stockwerk erreiche, geht das Zeitlicht aus. Ich schalte es wieder ein und suche das Zimmer: Es ist am Ende des Flurs. Auf halbem Weg durch den Flur geht das Licht wieder aus. Ich gehe zurück, schalte es wieder ein und renne zur Tür, vielleicht zu stürmisch. Chiara schaut hinaus. «Komme rein und mach nicht so viel Lärm!» «Warum soll ich denn keinen Lärm machen?», sage ich absichtlich laut. Sie trägt enge Shorts und ein ebenso enges blaues Oberteil: Verzaubert schaue ich sie an und bemerke nicht sofort... Plötzlich höre ich den schrillen Schrei eines Kindes. «Deswegen. Danke.» Sie nähert sich dem Bett, in dem bis vor kurzem ein Kind selig geschlafen hat. Es ist etwa ein Jahr alt, pummelig und hat blonde Locken. Chiara nimmt es in die Arme. «Ich wollte, dass du ihn kennen lernst.» Sie beginnt auf und ab zu laufen und drückt es an ihre Brust. Ich stehe wie gelähmt am Eingang des Zimmers. «Ist er...» «Ja, er ist mein Sohn.» So habe ich Chiara noch nie erlebt. Mir gegenüber war sie immer distanziert: Die wenigen Male, die sie auf mich zugekommen ist, hat sie sich immer nach kurzer Zeit wieder zurückgezogen. Dem Kleinen gegenüber ist sie voller Aufmerksamkeit: Sie küsst ihn auf die Stirn, drückt ihn, wiegt ihn liebevoll. «Reichst du mir das?» «Das was?» « Das Fläschchen, dort auf dem Tisch!» Der Schreibtisch wurde in eine nursery umgewandelt, mit allem, was man zum Wickeln, Füttern und Spielen braucht. Ich reiche ihr das Fläschchen, als wäre es ein Gegenstand von einer anderen Welt. «Zuerst musst du es warm machen.» Ich kenne mich mit Babys genauso gut aus wie mit Formel Eins Autos. Wahrscheinlich würde ich mich sogar am Steuer eines dieser Rennwagen wohler fühlen, als ein Baby zu halten. Sie nimmt ihn in ihre Arme, als hätte sie meine Gedanken gelesen. «Halte ihn kurz, ich bereite sein Fläschchen.» «Aber was ist, wenn ich es fallen lasse?» «Lass ihn nicht fallen! Setze dich auf dem Bett.» Jede Runen-Yoga-Position würde mir leichter fallen als die, die ich erfinde, um mit dieser kostbaren Last in meinen Armen zu sitzen. Irgendwie schaffe ich es, aber das Kind fängt wieder an zu weinen. Zum Glück kommt Chiara bald mit der Flasche zurück. Es folgen die gewöhnliche Rülpser. “In welchem Alter wird das Rülpsen, von so eine schöne Sache, zu einer vulgären Praxis?” Schließlich schließt das Kind die Augen, legt den Kopf auf die Brust der Mutter und schläft ein. Chiara legt es vorsichtig in die Mitte des Bettes. Sie sitzt auf der einen Seite, ich auf der anderen. «Wie heißt er?» frage ich. «Vittorio.» «Ist das sein richtiger Name?» «Das ist der Name, den ich beim Standesamt eingetragen habe. Im Reinigungsritual, mit dem wir ihn im Golden Dawn “getauft” haben, heißt es anders. Kannst du es nicht erraten?» Ich bin so beeindruckt von der Anwesenheit eines Kindes, dass ich gar nicht daran denke, Rätsel zu lösen. «Giuliano. Giuliano ist der Name, den die oberste Gottheit für ihn gewählt hat.» «Und wer ist der Vater von Vittorio...ich meine, Giuliano?» Sie schüttelt den Kopf, ohne etwas zu sagen. «Willst du es mir nicht verraten?» dränge ich. «Ich vermute, du wirst es nicht gut verkraften» «Sicherlich ist es ein Mitglied deines Ordens. Er muss in einer Nacht der Sonnenfinsternis in einem ägyptischen Tempel gezeugt worden sein.» «Nein, es war ein Akt der Liebe.» Dieses Wort, von ihr ausgesprochen, klingt in meinen Ohren nach. Liebe: ein Wort, das ich noch nie von ihr gehört habe. «Ich möchte es lieber nicht wissen.» Jetzt ist sie es, die es mir sagen will: «Nein, du musst es wissen». «Glaub mir: ich bleibe im Zweifel.» «Es war ein Geschenk des Himmels. Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Alter in der Lage sein würde...» Chiara hält inne, schaut den Kleinen an und verrät schließlich: «Giuliano ist eine Emanation seiner Heiligkeit». Ich war verblüfft, ich hätte nicht gedacht, dass... «Du meinst doch nicht, dass du, mit diesem.... » «Bis zu seinem plötzlichen Tod war er für mich ein Führer, ein Vater und... ein Gefährte.» Ich liege auf dem Bett und schaue lange an die Decke. Dann drehe ich mich um und schaue das schlafende Baby an, als wäre ich einem Außerirdischen begegnet. Ich hoffe für ihn, dass er seiner Mutter ähnlich sieht. Sekunden vergehen, die sich wie Stunden anfühlen. Chiaras Blick wandert zwischen der Kleinen, mir und dem Smartphone auf dem Nachttisch hin und her: Ständig bekommt sie Benachrichtigungen. Ich will nichts weiteres wissen. Ich bin enttäuscht. Es ist ja bekannt, dass es in vielen Sekten einen spirituellen Anführer gibt, der sich unter anderem zur freien Liebe bekennt. Das wiederum bedeutet, dass der Guru, und nur er, sich mit allen treuen Adepten paaren darf. “Sie muss von der Sekte gezwungen worden sein” ich beschließe, dass diese die einzig mögliche Erklärung ist. «Du musst gezwungen worden sein» wiederhole ich, laut diesmal. «Was?» fragt Chiara verärgert und dann betont: «Niemand hat jemanden gezwungen». Ich merke, dass ich mich auf dünnem Eis bewege. «Ich meinte: du musst zur Flucht gezwungen worden sein, nach dem Tod...» «Ich bin aus freiem Willen hierher gekommen. Weil, weil... Weil ich dich brauche.» “Wie oft habe ich gewünscht, das zu hören. Aber zu welch schlechter Zeit” denke ich, niedergeschlagen. «Was soll ich tun? In einen Schweizer Banktresor einbrechen oder die Mona Lisa stehlen?» «Ich werde dich nicht anlügen: Ich spreche im Namen des Hermetic Order of Golden Dawn » “Was habe ich mit dieser Fanatikerin und ihrer Sekte zu tun?” Giuliano wacht auf, öffnet seine großen grünen Augen und lächelt mich an. Vielleicht bin ich den Kleinen sympathisch. Nach ein paar Sekunden fängt er wieder an zu weinen, als gäbe es kein Morgen mehr. Chara erklärt: «Wenn er so ist, ist er entweder hungrig, oder braucht er eine neue Windel, oder beides». «Vielleicht soll ich lieber gehen.» «Nein, warte! Ich wechsele seine Windel und dann können wir weiter sprechen.» «Wir können morgen darüber sprechen» Ich stehe auf. Chiara gibt mir einen Kuss auf die Wange und flüstert mir ins Ohr: «Ich verlasse mich darauf». Auf dem Weg zum Hotelausgang komme ich an einem distinguierten Herrn vorbei, der eine weiße Hose und ein ebenso weißes Leinenhemd trägt. Ich trete zur Seite, um ihn hereinzulassen, und gehe dann nach Hause. «Hast du es dir anders überlegt?», ruft Chiara und öffnet fröhlich die Schlafzimmertür. «Erwarten Sie jemand anderes?» entgegnet der vornehme Herr. Das Mädchen versucht, die Tür wieder zu schließen, aber der Fremde ist stärker und tritt ein. Sie nimmt Giuliano in die Arme und verkriecht sich in einer Ecke. «Hab keine Angst» ruft er leise. Dann streckt er seine Hand aus: «Mein Name ist Costantino». Chiara versucht nur, das Baby zu schützen, sein Gesicht an ihre Brust gedrückt. «Was wollen Sie von mir?» «Ich möchte nur, dass wir uns unterhalten» antwortet der Mann mit einstudierter Gelassenheit. «Gehen Sie, oder ich rufe die Polizei» droht sie ihn. «Damit?» fragt der Fremde und nimmt das Handy, das noch auf dem Nachttisch liegt. «Also werde ich schreien.» «Das tun Sie lieber nicht. Das Hotel sieht leer aus, und bevor jemand kommt...» er lässt den Satz absichtlich unvollendet. «Was wollen Sie?» fragt Chiara, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. Ihre Augen sind ganz auf das Baby in ihren Armen gerichtet, das erstaunlicherweise in dieser hektischen Situation eingeschlafen ist. «Setzen wir uns und beruhigen wir uns, dann kann ich alles erklären.» Der Mann dreht den Schreibtischstuhl. Chiara kauert sich auf dem Kopfkissen. Auf das andere legt sie Giuliano, dann deckt ihn mit einer Decke zu, die mit Teddybären bestickten ist. «Wissen Sie, in wessen Auftrag ich hier bin? » Der Herr holt ein Beutel aus seiner iPad-Tasche und öffnet ihn. «Darf ich rauchen?» Ohne auf eine Antwort abzuwarten, beginnt er, etwas Tabak aus dem Beutel in eine Pfeife zu stopfen. «Nein» antwortet Chiara bestimmt. «Auf dem Weg nach oben ist mir die verlassene Reception aufgefallen: Niemand wird es erfahren.» «Ja, aber das dürfen Sie trotzdem nicht.» Sie sieht ihn an und zeigt dann mit einer Handbewegung, die für Giuliano zu einer Liebkosung wird, auf ihren Sohn. Costantino, der seine Enttäuschung kaum verbergen kann, legt Pfeife und Tabak weg, steht dann keinen Meter von ihr entfernt. «Ich bin Ritter des Sacro militare Ordine Costantiniano di San Giorgio [Heiligen Kostantinischen Ritterordens des Sankt Georgs». «Was für ein Orden ist das?» Chiara kennt bereits die Antwort, tut aber so, als sei sie überrascht. «Kaiser Costantino selbst betraute dreihundert Ritter mit der Aufgabe, das Christentum zu verteidigen. Ich bin eines der ranghöchsten Mitglieder dieses im vierten Jahrhundert gegründeten Ritterordens.» «Existiert es immer noch?» «Stärker denn je. Er ist vom italienischen Staat anerkannt und wird vom Königshaus der Bourbonen, den Thronanwärter der beiden Sizilien, geführt.» «Das Königreich der beider Sizilien existiert mit Sicherheit nicht mehr» Costantino sieht das Mädchen direkt in den Augen. «Die Realität sieht ganz anders aus als in den Geschichtsbüchern.» Chiara verkriecht sich auf dem Bett und entfernt sich von dem Unbekannten «Ich bin hier im direkten Auftrag des Konstantinischen Großmeisters des Sacro Ordine [Heiligen Ordens» «Was wollen Sie von mir?» «Machen Sie sich nicht über mich lustig. Sie wissen das ganz genau.» Chiara überlegt lange, bevor sie antwortet. «Ich habe es nicht.» Der Mann geht um das Bett herum und beugt sich vor, sein Gesicht näher an dem von Giuliano. «Schläft er?» «Finger weg von meinem Sohn, ansonsten...» Costantino setzt sich wieder den beiden gegenüber. «Ich weiß, Sie haben das nicht, ansonsten wäre es schon längst in meinem Besitzt.» Chiara sieht sich nach einem Fluchtweg um, aber sie müsste über den sitzenden Mann klettern, um zur Tür zu gelangen, noch dazu mit dem Kleinen auf dem Arm. «Herr Costantino, ich wiederhole: ich habe das nicht.» «Ich verstehe, Frau Chiara, aber ich weiß dass Sie es suchen» beharrt der Mann weiter. «Woher kennen Sie meinen Namen?» «Ich weiß alles über Sie. Ich wage sogar zu sagen, dass wir uns inzwischen sehr nahe gekommen sind: Wir können uns duzen.» Er näher sich, und flüstert ihr ins Ohr. «Ich weiß wer du bist, von deinem geliebten Chef und von deinen Recherchen.» Chiara weicht zurück. «Es waren nur die Vermutung eines alten Mannes, er hatte nichts gefunden.» Costantino zeigt ihr ein Blatt Papier. «Und das?» Chiara schweigt. Konstantin steht auf und hält dem Mädchen das Blatt vor die Nase. «Weißt du, was das ist?» Sein Ton wird bedrohlich: «Ich frage dich noch einmal. Weißt du, was das ist?» Endlich nickt Chiara. «Das sind die Notizen, die der alte Mann an diesem Abend bei sich hatte. Ich nehme an, du hast sie lange nach ihnen gesucht.» «In jener Nacht, zwischen Krankenwagen, Polizei und den verängstigten Brüdern, hatte ich keine Zeit...» Er unterbricht sie: «Am Tag danach hast du bestimmt jeden Winkel des Hauses durchsucht, aber es war zu spät. Bei dem Kommen und Gehen war es für uns leicht, sich einzuschleichen: die Notizen waren im Badezimmer, wie seltsam.» «Wenn Sie seine Notizen haben, was wollen Sie dann von mir?» Der Mann verdeckt mit seiner Hand die Eintragung auf dem Papier, bis auf die Buchstaben in der rechten oberen Ecke.
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