Santiago
Normalerweise bin ich ein pünktlicher und zuverlässiger Mensch. Ich komme auf die Minute genau zu meinen Meetings, verpasse keines der Familientreffen und gehe sogar jeden Tag um die gleiche Uhrzeit ins Bett. Mein Tagesablauf ist unter der Woche genaustens durchgeplant und das weiß jeder. Selbst mein geliebter Bruder, der das gerne mal verdrängt. Wie zum Bespiel gestern, als er ohne jegliche Voranmeldung vor meiner Tür aufkreuzte, im Schlepptau seine zuckersüße Tochter. Ihre geflochtenen Zöpfe, gepaart mit diesen niedlichen Grübchen erwärmten mein Herz schlagartig.
Gleichzeitig bereiteten sie mir ein ungutes Gefühl, denn sie kommen nie bloß für einen kurzen Besuch. Ryan lud sie bei mir ab, mit der Ausrede, die Nanny sei im Urlaub. Angeblich wäre sonst niemand von seinen oder Rose' Freunden erreichbar gewesen und ich sei ihre letzte Hoffnung. So wie immer.
Selbstverständlich habe ich ihm diese Lüge nicht abgekauft und hatte eine verdammt große Lust ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Doch ich habe mir streng vorgenommen – genau wie er – mich in Laylas Nähe zu beherrschen. Ich verwende keine Schimpfwörter oder vulgäre Ausdrücke und benehme mich wie ein anständiger und vorbildlicher Bürger. Normal eben und nicht so wie sonst immer.
Dieser kleine Engel soll sich ja kein Beispiel an mir nehmen. In meinem relativ kurzen Leben habe ich schon so einige Dinge vermasselt, sodass ich irgendwann mit dem Zählen aufgehört habe. Es wäre bloß deprimierend sich tagtäglich vor Augen zu führen, wieso ich nicht der perfekte Sohn bin. Wieso ich nicht der perfekte Bruder bin. Oder wieso ich nicht der perfekte Freund bin.
Letztendlich habe ich Layla hereingelassen und ihm dann die Wohnungstür vor der Nase zugeschlagen. Er soll ruhig wissen wie sehr ich diese unangekündigten Besuche verabscheue. Schließlich will ich nicht, dass meine Nichte die Bierflaschen auf dem Wohnzimmertisch oder das unaufgeräumte Geschirr sieht. Sie soll kein schlechtes Bild von mir haben, obwohl sie mit ihren vier Jahren vermutlich noch nicht einmal begreift, was das zu bedeuten hat.
Der Saustall und das Playboy-Magazin, welches ich seit einer geschlagenen Woche nicht angefasst habe, schienen sie sowieso nicht zu interessieren, da sie schnurstracks auf die riesige Couch zulief und es sich dort bequem machte. Ihre kleinen Beinchen baumelten über den Rand und dieser niedliche Anblick machte es wieder wett, dass sie immer noch ihre pinken Straßenschuhe anhatte.
Sie holte ihre Lieblingspuppen aus dem pinken Rucksack heraus und gab mir ein zerknittertes Blatt. „Das habe ich heute für dich gemalt."
Anders als sonst – jedes Mal, wenn sie zu mir kommt, schenkt sie mir ein neues Kunstwerk – waren darauf keine fliegenden Einhörner oder zaubernden Feen abgebildet, sondern Strichmännchen und quadratische Herzen.
Mir entfuhr glatt ein Fluch, als ich ein ganz bestimmtes durchtriebenes Grinsen vor meinem geistigen Auge aufblitzen sah. Es erinnerte mich an eine Person, an die ich in diesem Augenblick ganz und gar nicht erinnert werden wollte.
Nachdem ich am Mittwoch ihr Büro verlassen hatte, war ich rasend vor Wut. Ich wollte die zerbrochene Tasse nach ihr werfen, sie feuern und sie anbrüllen –vielleicht nicht unbedingt in dieser Reinfolge. Ich wollte es ihr heimzahlen, dass sie sich so respektlos verhalten hat. Dass sie sich mir widersetzt und den Spieß letztlich sogar umgedreht hat. All das ging mir gewaltig gegen den Strich.
„Das sind du, Mama und Papa", erzählte Layla und strahlte mich mit ihren winzigen Milchzähnen an. „Ihr schaut euch den Sonnenuntergang an."
Das erklärte auch warum sie die Sonne unten im linken Eck gezeichnet hatte. Was ich aber immer noch nicht begriff, war, wieso sie weiterhin gelb und nicht rötlich war. Oder wie sie auf die Idee kam, ich würde jemals so etwas Kitschiges tun, wie einen Sonnenuntergang anzugucken.
Okay, vielleicht würde ich das wirklich irgendwann tun, aber sicherlich nicht mit meinem Bruder und seiner – ziemlich heißen – Frau. Eher mit seiner Tochter. Sie ist der einzige Mensch, der mich zu solch peinlichen Aktionen bringen könnte. Sie war auch diejenige, die mich vor gut einem Jahr dazu gebracht hat ins Disneyland zu gehen. Mit diesen riesigen Mickey Maus Ohren und der Zuckerwatte, die größer als mein verdammtes Gesicht war, habe ich mich wie der größte Idiot weit und breit gefühlt. Es kam mir so vor, als hätten mich alle angestarrt. Wahrscheinlich hat das sogar gestimmt, nur galt das dann eher für die weiblichen Gäste, denn am Ende des Tages habe ich die Nummern von fünf Frauen ergattert. Natürlich landeten sie alle im Mülleimer. In Seattle gibt es genug Ladys, die sich an mich schmeißen und mir jeden Wunsch von den Lippen ablesen wollen, dafür brauche ich nicht nochmal nach Florida kommen.
„Gefällt es dir?", fragte mich meine Nichte und sah mich mit ihren braunen Augen an. Die schönsten und reinsten Augen auf dem ganzen Planeten.
„Natürlich gefällt es mir!" Ich drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die butterweiche Stirn und machte mich auf den Weg zu meinem Kühlschrank. Nachdem ich ihr Bild aufgehängt habe, machte ich mich an die Arbeit Popcorn und andere ungesunde Sachen für uns zu machen. Jedoch habe ich es die ganze Zeit über vermieden über die zerbrochene Tasse zu sprechen, ich wollte nicht, dass sie sich schlecht fühlte. Denn das würde sie, schließlich hat sie eine ganze Woche daran gesessen und sie mir voller Stolz zu meinem sechsundzwanzigsten Geburtstag geschenkt. Es war mit Abstand mein Lieblingsgeschenk, da konnten auch keine Stripclubbesuche oder Vegas-Ausflüge mithalten.
Trotz des abwechslungsreichen Abends war ich schon um elf Uhr erledigt und froh, als sie Ryan abholte. Auf der anderen Seite wollte ich sie ihm nicht aushändigen. Ich wollte unter keinen Umständen wieder in die Realität gelangen.
Ihren kleinen zerbrechlichen Körper in den Armen zu halten und auf ihre schlafende, in ihrer Lieblingsdecke gehüllten, Gestalt zu blicken, hatte etwas derart entspannendes und friedliches an sich, dass ich mich regelrecht darin verlor. Es fühlte sich so an, als könnte ich meine Rüstung ablegen, das Arschloch in eine Kiste stecken und meinen Gefühlen freien Lauf lassen.
Blöderweise endet alles schöne einmal und die undankbare Realität schlägt ein. Als ich schließlich am nächsten Morgen aufwachte und mich dranmachte, das Chaos zu beseitigen, das wir verursacht hatten, entdeckte ich einen verdächtigen Strich.
Fluchend stellte ich fest, dass Layla am Abend zuvor auf meinen edlen Wohnzimmertisch gemalt und einige Tropfen der Cola auf dem beigen Teppich ausgeschüttet hatte. Auch wenn es keine Absicht war – hätte sie das mitbekommen, hätte sie mich mit einem herzzerreißenden Blick angesehen und sich unzählige Male entschuldigt –, gingen glatte zwanzig Minuten mit Schrubben drauf. Es ist nun einmal nicht so leicht knallrote und pechschwarze Farbe aus einem tausend Dollar Tisch und einem zweitausend Dollar teuren Teppich zu bekommen. Als wäre das nicht genug, geriet ich daraufhin direkt in den katastrophalen Berufsverkehr und fuhr letztlich erst um acht Uhr in die Tiefgarage.
Eine verfickte Stunde zu spät. Das ist mir noch nie passiert und diese Tatsache macht es nur noch schlimmer. Der Laut, der an den kalten Wänden abprallt, als ich die Tür meines Wagens zuknalle, befriedigt mich keineswegs. Genauso wenig wie die weibliche Stimme, die plötzlich hinter mir ertönt.
„Will ich überhaupt wissen, was Ihnen die arme Tür angetan hat?"
„Bitte?", platzt es aus mir heraus, bevor ich mich ruckartig umdrehe. Hätte ich vorher gewusst, wer das fragt, hätte ich es mit mehr Schärfe ausgesprochen. Wobei ich bezweifle, dass sie das auch nur im geringsten interessieren würde.
Mit vor der Brust verschränkten Armen steht sie in einer dunklen Ecke, einige Meter von mir entfernt und sieht gelangweilt zu mir rüber. Jedenfalls glaube ich das, da ihre Stimme keinerlei Emotionen preisgibt.
„Man müsste meinen, dass man mit derart großen Ohren besser hören könnte, aber anscheinend ist das nur ein weiterer enttäuschender Mythos."
Hat sie gerade gesagt, dass ich große Ohren habe? Wie kommt sie denn auf diesen Bullshit? An meinen Ohren ist rein gar nichts auszusetzen!
Ich bin wirklich kurz davor sie lauthals anzubrüllen und auf irgendwas einzuschlagen. Der Morgen ist so schlimm, wie seit langem nicht mehr und da kann ich ihre besserwisserischen Kommentare echt nicht gebrauchen. Eigentlich kann ich sie gar nicht gebrauchen, sie bereitet mir sowieso nur Kopfschmerzen.
„Sind Sie sich sicher, dass Sie das Problem bei mir suchen wollen? Man sollte doch zuerst vor seiner eigenen Haustür kehren, bevor man zu anderen geht", entgegne ich monoton und nehme ihr Outfit in Augenschein. Ich wünschte, ich könnte etwas daran aussetzen, nur sieht sie viel zu gut aus. Die schwarze Hose, mit den weiten Beinen, schmiegt sich auf eine verführerische Art an ihre runden Hüften und die High-Heels, die ihren Fuß bloß mit einem schwarzen breiten Balken festhalten, betonen ihre dunkel lackierten Zehen.
Alles an ihr sieht perfekt aus, jedoch nicht so, als hätte sie Stunden damit verbracht sich in Schale zu werfen. Sie sieht auf eine natürliche Weise zurechtgemacht aus. Ob das auch an einem ruhigen Sonntagabend noch der Fall ist?
Mein Blick wandert zu ihrem Gesicht, das durch das dumpfe Licht der Lampen in einem leichten Schatten liegt. Zeitnah verselbstständigen sich meine Beine und führen mich dummerweise direkt zu ihr. Dabei verfolgt sie jeden meiner Schritte mit wachsamen Augen, rührt sich aber keinen einzigen Zentimeter von ihrem weißen Range Rover.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich bereits geahnt, dass sie mit ihrem eigenen Auto zur Arbeit kommt. Warum sollte man auch den zur Verfügung gestellten Firmenwagen – der normalerweise schwarz ist – in Anspruch nehmen, wenn Daddy einem bereits zehn davon besorgt hat?
Eine Armbreite von ihr entfernt halte ich an und gucke zu ihr hinab. Dabei versuche ich mindestens genauso desinteressiert wie sie zu wirken und meinen Blick nicht weiter nach unten wandern zu lassen. Der V-Ausschnitt ihrer braunen Bluse ist zwar nicht sonderlich tief, trotzdem zeigt er den Ansatz ihrer Brüste. Brüste, die von ihren Unterarmen nach oben gedrückt werden und förmlich nach meiner Aufmerksamkeit kreischen.
Mit sehr viel Mühe schaffe ich es ihre verlockenden Rufe zu ignorieren und Sage ins Gesicht zu schauen. „Außerdem sollten Sie sich nicht in fremde Angelegenheiten mischen."
„Wenn Sie einen derart schlimmen Lärm verursachen, geht es auch mich etwas an. Sie behindern meine Konzentration", erwidert sie und reckt ihr Kinn in die Höhe. Sie fordert mich heraus. Schon wieder. Das macht sie seit ihrem ersten Tag und es nervt mich abnormal. Ihre grauen Augen nehmen dann immer einen ganz bestimmten Ausdruck an, ihre vollen Lippen öffnen sich und Gedanken entstehen in meinem Hirn, die absolut nicht entstehen dürfen. Nicht von unserer neuen Praktikantin. Nicht von William Harringtons verwöhnter Tochter.
„Dann sollte ich mich besser entschuldigen, Miss Harrington. Ich wollte Sie nicht beim Stalken stören."
„Stalken?" Sie runzelt ihre Stirn, zieht den Kopf zurück und sieht selbst mit dem leichten Doppelkinn noch umwerfend aus. „Wie kommen Sie denn auf diesen Blödsinn?"
„Sie stehen in einer dunklen Ecke einer leeren Tiefgarage und warten darauf, dass ich aus meinem Wagen steige. Wahrscheinlich haben Sie noch im letzten Moment Ihre Kamera weggesteckt. Das scheint doch ziemlich verdächtig zu sein, nicht wahr?"
Obwohl ich mir sicher bin, dass sie etwas im Schilde führt, das dem Unternehmen oder gar Peter schaden könnte, glaube ich nicht, dass ich in ihrem Plan auftauche. Sie kennt ja noch nicht einmal meinen Namen, geschweige denn welche Position ich in Wood Cooperation habe – oder ist sie nur eine verflucht gute Schauspielerin?
Zunächst scheint Sage entsetzt über meine Anspielung zu sein, doch sie beruhigt sich schnell wieder. Zu schnell, meiner Meinung nach, da sie sich wenige Augenblicke später aufrichtet, den Abstand zwischen uns verringert.
Das sollte sie eindeutig unterlassen, wenn sie nicht will, dass ich sie gegen ihren dämlichen Range Rover presse. Dass ich mich gegen sie dränge, bis sie sich keuchend unter mir windet. Dass ich ihre schmalen Handgelenke packe und sie an die kühlen Fensterscheiben pinne. Dass ich ihr verflucht nah komme und dabei einen riesigen Fehler begehe.
„Bilden Sie sich nicht ein wichtig oder gar interessant zu sein. Bis vor wenigen Tagen wusste ich schließlich noch nicht einmal von Ihrer Existenz."
Damit habe ich definitiv nicht gerechnet, was die Sache nicht sehr viel besser macht. Jetzt will ich sie nämlich nicht nur gegen ihren Wagen drücken, sondern sie auf die Rückbank werfen und ihr gründlich zeigen, wie wichtig und interessant ich bin. Manche Körperteile würden dabei eine ganz bedeutende Rolle spielen.
Allerdings wäre das keine gute Idee. Nicht dass sie mir noch eine Klage wegen sexueller Belästigung andreht und mich mit absurd teuren Anwälten aus der Firma schmeißt. Das Risiko darf ich unter keinen Umständen eingehen, auch wenn es ziemlich verlockend ist.
„Sind Sie sich sicher?", hacke ich nach und komme einen kleinen Schritt auf sie zu. Wir sind uns nun so nah, dass ich ihren Duft einatmen kann. Es ist eine Mischung aus Vanille, Blütenblättern und etwas ganz eigenem. Etwas verführerischem.
Statt zurückzuweichen – das wäre sowieso nutzlos, da sie bloß gegen ihr Auto krachen würde –, lässt sie ihre Arme sinken und strafft ihre Schultern.