4.1 Lea

3620 Words
Ich lernte am Wochenende für alle Fächer und bereite mich darauf vor. Der Rest meiner Zeit war dem Wohnungsputz vorbehalten. Abends überlegte ich, ob ich in meinen Lieblingsclub gehen sollte, aber mein Geld war einfach ziemlich mau gerade. Trotzdem war ich fast bereit, meine Ersparnisse anzufassen. Ich ging auf die Website des Clubs und fluchte laut. Er war wegen Umbauarbeiten die nächsten zwei Monate geschlossen! Was sollte ich jetzt tun? Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich damit, eine Alternative aufzutun, aber in meiner Umgebung gab es keine einzige wirklich gute. Die nächsten waren über zwei Stunden entfernt und das war mir definitiv zu lang. Ich seufzte und gab vorerst auf. Der Uni-Montag kroch dahin und ich freute mich aufs Schwimmen. Das körperliche Auspowern im Wasser war einfach mein Lieblingssport und ich konnte dabei so gut abschalten. Ich hatte meine Sporttasche diesmal extra mit in die Uni mitgenommen und den ganzen Tag mitgeschleppt, damit ich es wieder pünktlich zu meiner gewohnten Uhrzeit schaffte. Danach wollte ich die Badesachen noch nach Hause bringen. Während ich meine Bahnen schwamm, bemerkte ich, dass sich die Blicke von Chris und mir ab und zu begegneten. Als ich dann am Beckenrand saß und mir wie gewohnt eine Pause gönnte und meinen Blick durch das Schwimmbad schweifen ließ, kam Chris zu mir. Das konnte ich gar nicht gebrauchen. Ich wollte im Schwimmbad meine Ruhe. Das war mein Ruhepol, und er hatte es mir, ohne es zu wissen oder zu wollen, schon fast kaputt gemacht, in dem er mein Dozent wurde. Trotzdem fand ich ihn ja an sich nett und sein Interesse an mir schmeichelte mir auch. Aber diese körperliche Anziehung musste ich ignorieren, auch wenn das gar nicht meine Art war. Er war mein Dozent und bis auf eine lockere Freundschaft oder bessere Bekanntschaft sollte das nichts werden. Ansonsten bekamen wir, oder respektive er, auch Ärger. Beziehungen – welcher Art auch immer – mit eigenen Studierenden aus dem Kurs waren sicher nicht gerne gesehen. Und ich wollte mich auch nie fragen müssen, ob meine Note jetzt gut wurde, weil ich mit ihm geschlafen hatte oder weil ich gute Leistung gebracht hatte. Oder schlechte…. je nachdem. Darüber hatte ich schon die ganze Zeit nachgedacht, als ich meine Bahnen geschwommen war, und als er jetzt zu mir rüber kam, machte ich ihm gleich klar, dass ich im Schwimmbad kein Schwätzchen halten wollte. Aber ich bot ihn versöhnlich an, dass wir nach dem Schwimmbad noch einen Kaffee trinken konnten. Bis zu meiner Abendschicht war noch etwas Zeit und ich hoffte, dass ich es trotzdem noch schaffen würde, mein Schwimmzeug nach Hause zu bringen. Da ich mir nicht sicher war, wie viel Zeit ich zu Hause noch hätte, ging ich früher aus dem Wasser, um meine Haare ausreichend zu föhnen und mich zu frisieren. Meine Haare glänzten gesund, als ich den Trocknungsbereich verließ und im Foyer auf Chris wartete. Wir gingen in ein Café drei Minuten Richtung meiner Wohnung und auch der Bar, was mir sehr gelegen kam, und setzten uns dort hinein. Mit meiner heißen Schokolade in der Hand beobachtete ich, wie er seinen Tee etwas kühler blies und überlegte, wie ich ein Gespräch eröffnen sollte. Außer der Bestellung hatten wir noch nicht viel gesprochen, sondern erstmal das Café auf uns wirken lassen. Die Bestellung war auch super schnell dagewesen. Ich wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als mein Telefon klingelte. Ich fluchte und entschuldigte mich. Den Klingelton hatte nur einer in meiner Liste, und das war Sofia. Ich nahm ab und wollte sie schon abwürgen, dass ich zu tun hatte und sie nur sprechen sollte, wenn es wirklich wichtig war, aber bei ihren ersten gehetzten Worten merkte ich schon, dass die Kacke am Dampfen war. “Lea, unsere Sängerin ist abgesprungen, samt Pianist. Wir brauchen einen Ersatz! Wir haben massiv viele Reservierungen, wie du ja weißt, und die Chefin ist gerade am Durchdrehen!" “Ähm, ja, deswegen sollte ich doch heute arbeiten kommen, oder?” “Ja! Aber jetzt brauchen wir dich als Sängerin. Ich habe dir die Setliste schon rübergeschickt. Kannst du mal gucken, ob du das singen kannst? Biiiitteee.” Ein paar Sekunden sah ich schockiert Chris ins Gesicht, der die Stirn runzelte. Völlig mechanisch nahm ich mein Handy vom Ohr und klickte auf Sofias E-Mail. Die meisten Lieder davon kannte ich sehr gut und viele hatte ich sogar schon gesungen, wenn auch nicht vor Publikum. Dann setzte ich das Handy wieder ans Ohr. “Ja, die Lieder wären machbar, aber…” “Was? Du würdest es machen? Du singst spontan für uns in der Bar?” Sie quietschte vor Freude ins Telefon, so laut, dass ich das Handy ein wenig vom Ohr nehmen musste. “Halt! Wann ist denn der Auftritt genau?” “Zum Beginn deiner Schicht? Wäre das okay?” Ich sah auf die Uhr, das wäre in eineinhalb Stunden. “Und ich soll da solo singen ohne Musik, oder was?” “Ich versuche schon einen Ersatzpianisten zu bekommen, aber die einzigen zwei, die ich kenne, haben heute schon etwas vor. Ich hatte gehofft, dass du vielleicht noch jemanden kennst?” Ich seufzte. “Nein, ich kenne keinen Pianisten, jedenfalls keinen, der bei der Setliste in Frage käme.” Ich hörte ein Räuspern vor mir. Chris grinste mich schelmisch an. “Ihr sucht einen Pianisten? Zufällig spiele ich schon ein paar Jahre…” Sofia unterbrach meine rasenden Gedanken und meine ablehnende Antwort, die ich schon geben wollte. “Wer war das eben? Hat er gesagt, dass er schon ein paar Jahre spielt? Bitte, bitte Lea, bring ihn mit!” “Ich soll was?” Chris' erwartungsvolle braune Augen ruhten auf mir, und mich überforderte die Situation in Gänze. So stellte ich die nächste Frage, die mein Kopf dominierte, um sie noch abzuhandeln: “Was ist denn für ein Kleiderstil gefragt?” “Na, ein wenig eleganter sollte es schon sein. Das rote lange Kleid, das du neulich mir geborgt hast. Bitte zieh das an, das passt perfekt!” Ich sah zu Chris und räusperte mich. Ich merkte, dass meine Wangen leicht rot wurden bei der Frage, aber auch bei dem Kopfkino, das mich dabei durchzuckte: “Hast du sowas wie einen Smoking oder Anzug und wärst bereit, dich umzuziehen und in 90 Minuten in der Bar von gestern zu sein?” “Ich schaff es in weniger Zeit. Steht ein Klavier schon bereit?” Ich nickte, völlig verwirrt von seiner Antwort. Wollte er das jetzt wirklich so spontan mit mir durchziehen? Jeder andere Kerl hätte sich das nicht getraut oder wäre niemals so spontan gewesen. Immerhin bestand die nicht unwahrscheinliche Chance, dass wir uns in einer völlig überfüllten Bar total lächerlich machten. Trotzdem stellte ich meine finale Frage, die meine Bestätigung besiegeln sollte: “Werden wir denn dafür auch bezahlt?” Sofia kicherte ins Telefon. Sie wusste, dass sie mich an der Angel hatte. “Wenn nicht alle Gäste die Bar verlassen, wenn ihr performt, bekommt ihr die gesamte Gage der Band, die ihr ersetzt. Und das ist nicht wenig.” Ich leckte mir über die Lippen und wog die Situation ab. Aber das Adrenalin rauschte durch meine Adern und das Lächeln von Chris bestätigte mich nur dabei. Ich hatte echt Bock zu singen. “Okay, ich mach es. Aber dann hab ich was gut bei dir, Sofia. Ich bring Chris mit.” Jetzt hatte ich sie verwirrt. Ich grinste, als sie nun stammelte, anstatt sich zu freuen. “Was, Chris? Der Chris? Der Schwimmbad und Sushi Boy?” Ich rollte die Augen. Natürlich brüllte sie das wieder so ins Telefon, dass Chris es hörte. “Ja, genau der.” “Du musst mir ALLES erzählen, aber jetzt husch nach Hause und umziehen!” Ich bestätigte und legte dann auf. Danach zeigte ich Chris die Setliste und wir diskutierten zehn Minuten, was wir davon zusammen spielen und singen konnten, und in welcher Version. Es wäre definitiv besser, wenn wir noch einmal irgendwo proben könnten. Aber meine Gesangsschule war zu weit entfernt, wir mussten wohl ins kalte Wasser springen. Chris wollte zu den Liedern noch die Noten ausdrucken. Die meisten Lieder konnte er ohne Noten spielen, aber nicht alle. Wir einigten uns noch auf einen Abba- und Beatles-Song am Ende und liefen dann in verschiedene Richtungen nach Hause. Er meinte, er wäre in zehn Minuten daheim und ich fragte mich das erste Mal, wo er eigentlich wohnte. Da es anscheinend nicht in meiner Richtung lag, ließ ich den Gedanken fallen. Mich beschäftigten die Anfänge der Lieder. Wenn ich in ein Lied gut hineinkam, gelang mir das komplette Lied in 90 % der Fälle ganz gut. Nach näherem Überlegen fiel mir auf, dass zwei der Lieder eigentlich ein Duett waren. Würde Chris da mit mir zusammen singen? Das konnte doch nur schief gehen. Da ich aber seine Handynummer nicht hatte, konnte ich ihn nicht fragen, wie er es sich vorgestellt hatte, und musste darauf warten, mit ihm zu reden, wenn wir uns an der Bar trafen. Ich rannte die Treppen zu meiner Haustür hoch und wusch mir schnell den Schweiß ab. Die Haare hatte ich ja glücklicherweise schon gut gewaschen und geföhnt. Mit ein paar Handgriffen hatte ich eine ganz passable Hochsteckfrisur hinbekommen. Auch beim Make Up verschwendete ich nicht zu viel Zeit. Meine grünen Augen verstärkte ich mit schwarzem Kayal und grünen Lidschatten. Ansonsten betonte ich nur noch meine Lippen mit einem tiefen Rotton und verstärkte meine Wimpern. Ich sang schon die Lieder ein, während ich mich auszog, mir passende Unterwäsche suchte und das gewünschte rote Kleid anzog. Dazu wählte ich noch schwarze Strapse, die durch den langen Schlitz durchlugten, ohne dass es aufdringlich war. Ich schaute auf die Uhr. Da Chris die Frist um 30 Minuten verkürzt hatte, blieb mir nicht mehr viel Zeit. Ich raffte mein Kleid hoch und stieg meine Treppe hinab. Der Weg zur Bar war glücklicherweise nicht sehr weit, nur in eine Richtung, die ich sonst sehr selten ging. Als ich an der Bar ankam, wartete neben dem Plattenladen schon Chris. Also ging ich an der Bar vorbei und zuerst zu ihm. Er hatte eine Mappe unter dem Arm und einen wirklich edlen Smoking an. Total unpassender Weise schoss ein Blitz in meinen Schoß und ich spürte, dass mich dieser Aufzug erregte. Das konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen! Der Adrenalin-Kick gab sein Übriges dazu, aber ich versuchte mich auf unsere Aufgabe zu konzentrieren. “Na, hast du dich ein wenig einsingen können?” Ich nickte. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich hatte ja schon einige Auftritte, aber so spontan und mit einem Musiker zusammen, mit dem ich noch nie geprobt hatte, das war auch für mich neu. “Hast du deine Noten alle gefunden?” Er nickte und sah mich erneut von oben bis unten an. Ich hatte mir zu dem Kleid noch passende Sandalen angezogen, die meine Strümpfe schön zur Geltung brachten. Unter seinem Blick pochte schon wieder mein Schritt. Es war deutlich zu sehen, dass ihm gefiel, was er sah. Das Verlangen in seinem Blick bildete ich mir nicht ein, oder? Eigentlich erkannte ich dieses Bedürfnis in den Augen der Männer immer recht schnell. Ich versuchte mich wieder zu fokussieren und wollte Chris gerade nach den Duetts fragen, als Sofia aus der Bar trat. “Hab ich das rote Kleid doch richtig erkannt! Kommt rein, ich sehe, ihr seid schon fertig angezogen. Ihr solltet das Klavier und das Mikrofon testen, bevor es losgeht. Der Laden ist schon rappelvoll.” Mit diesen Worten kamen ein paar Raucher aus dem Laden und sie winkte uns zu sich. Sie ging neben der Bar in eine kleine Gasse und führte uns zum Liefereingang. Wir betraten einen kleinen Vorratsraum und gingen dann durch die Umkleide in die Bar. Es war wirklich schon rappelvoll. Noch voller als gestern, als ich ging. Ich war gespannt, wie ruhig es werden würde, wenn ich singe, oder ob die Gespräche eh meinen Gesang übertönen würden. Wir gingen auf das Podest links im Raum, auf dem auch schon das Klavier stand und das Mikrofon angeschlossen war. Ein Gemurmel ging durch den Saal, als die Besucher registrierten, dass wir nicht das gewünschte und angekündigte Duo waren. Die Inhaberin kam hinter mir her und als ich das Mikrofon getestet hatte, gab ich es ihr. Sie erläuterte den Anwesenden, dass die Musiker leider abgesprungen waren, sie sich aber bemüht habe, einen adäquaten Ersatz heranzuschaffen. Sie machte das mit so einer guten Laune, gewürzt mit Scherzen, dass aus dem grummelnden Gemurmel schnell wieder ein heiteres Lachen wurde. Derweil setzte sich Chris an das Klavier und klimperte ein wenig herum, um zu testen, wie gut es gestimmt war. Ich stellte mich während der Einlage der Inhaberin mehr zu ihm ans Klavier. Nach zwei Minuten des Testens stieg Chris in die Rede der Inhaber mit ein und setzte lustige Mini-Jingles an die richtige Position, um sie zu unterstützen, das Publikum bei Laune zu halten. Das musste man ihm lassen: Spontanität schien seine große Stärke zu sein. Die Inhaberin überließ mir das Mikro und alle starrten neugierig auf uns. Tatsächlich war es relativ leise und als Chris die ersten Töne des ersten Liedes unserer Setliste anspielte, schloss ich die Augen. Ich tauchte in das Lied ein, so wie ich es immer tat und erinnerte mich an meine Gesangstechniken. Ich passte meine Atmung und meine Haltung ein wenig an, damit ich das beste Stimmvolumen herausholen konnte. Am wichtigsten war mir aber nach wie vor das Gefühl in der Stimme, und dass man genau wusste, über was man sang. Und wenn man zu dem Thema eigene Gefühle oder Erfahrungen gesammelt hatte, dass man dies in der Stimme hörte. Beim Singen legte ich mein Herz offen und jeder, der mich kannte, wusste, dass ich sehr ehrlich mit mir sang. Es war wie eine Gruppensitzung bei den anonymen Alkoholikern, denen man in der Gruppe eröffnete, wieso man zum Alkohol gegriffen hatte. Eine Offenbarung über sich selbst, die aber glücklicherweise nur Leute verstanden, die mich wirklich kannten. Genau deswegen bewegten Sofia meine Lieder immer so, weil sie genau wusste, wie viel Ehrlichkeit in meinem Gesang war. Dass alles echt war. Bei meinem Gig sang ich eigene Lieder. Hier musste ich auf eine bestehende Liste zurückgreifen, und trotzdem versuchte ich, jedem Lied meinen Stempel aufzudrücken und eigene Erfahrungen mit einzuflechten, auch wenn nicht immer jedes Wort zu mir passte. Bei dem ersten Wort öffnete ich wieder meine Augen, weil mir das so beigebracht wurde, auch wenn ich lieber mit geschlossenen Augen sang. Aber auch das gehörte zum Profisingen dazu. Die Leute wollen die Leidenschaft und das Funkeln in deinen Augen sehen und somit Teil des Liedes werden. Die ersten Töne erfüllten den Raum und ich genoss ein wenig, wie die Skepsis aus den Gesichtern verschwand und die meisten erstaunt den Mund aufmachten. Ja, wenn man meine Stimme nicht kannte, vermutete man nicht, dass ich so singen konnte. Mein Aussehen ließ die meisten immer etwas anderes vermuten. Bei meinen Gigs sah ich das meistens nicht mehr, weil da fast nur noch Leute hinkamen, die mich schon kannten oder zumindest meine Stimme schon mal gehört hatten. Somit hatte ich diesen Effekt, den ich jetzt auf den meisten Gesichtern las, schon lange nicht mehr gesehen, und eine Art Genugtuung breitete sich in mir aus, die ich schon lange nicht mehr gespürt hatte. Meine Laune stieg nach oben und es machte mir noch mehr Spaß, zu singen und das Gefühl zu vermitteln, dass ich selbst so liebte. Das Lied endete schon und ein tosender Applaus brandete durch die Bar. Die Inhaberin stupste gerade Sofia an und bedeutete ihr, weiter zu arbeiten. Sie wischte sich eine Träne aus den Augen und nickte. Ich liebte sie wirklich. Bei meinem Gesang verstand sie mich blind. Dann fiel mir auf, dass das nächste Lied schon ein Duett war. Als ich begann, wurde der Geräuschpegel der Gespräche schon wieder ein wenig größer. Ich wagte einen Blick zu Chris, als der andere Part des Duetts einsetzen würde. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich jetzt beide Parts singen sollte, was im Verlauf des Liedes schwierig werden würde, oder er nun einsetzte. Sein Grinsen sagte alles aus. Er wollte einsetzen und freute sich wohl schon diebisch darauf. Meine Neugier wuchs, wie er sich wohl anhören würde. Als er einsetzte, staunte ich nicht schlecht. Seine Stimme war viel dunkler und rauchiger als erwartet. Sie passte sehr gut zu meiner, denn als ich wieder einstieg in den Refrain und wir beide diesen zusammen sangen, harmonierten unsere Stimmen erstaunlich gut. Als ich meinen Blick wieder Richtung Publikum lenkte und auch wieder auf den Sinn des Liedes, funktionierte es noch besser. Wieder sahen uns alle erstaunt an und konnten wohl nicht glauben, dass wir – wie die Inhaberin gerade angekündigt hatte – spontan eingesprungen waren und noch nie zusammen gesungen hatten. Ich vermutete, das hatte sie gesagt, um die Erwartungen etwas zu senken. Das hatte gut geklappt, denn ich hörte um mich herum Gespräche, ob die Inhaberin sie wohl gefoppt hatte. Wir endeten im Gleichklang, den ich mit nur wenigen Menschen bisher geschafft hatte, und ich begann das nächste Lied, das eher ein Gute-Laune-Lied war. Das spielte Chris so gut, dass meine Glieder zuckten, und ich sogar ein wenig tanzte dazu. Das machte sich mit meinem Outfit nicht ganz so gut, aber die Leute lachten, als ich einmal überschwänglich den Mikrofonständer umriss und ihn schnell wieder aufhob. Auch Chris lachte dazu und es war mir nicht mal peinlich. Ich genoss den Auftritt sehr, mehr als ich je vermutet hätte, und auch wenn nicht alles perfekt lief, verzieh man uns kleine Patzer vor allem, wenn wir über das nächste Lied diskutierten. Das war dann am Ende schon fast der Running Gag, und als wir die Setliste am Ende noch mit dem Abba- und Beatles-Lied abschlossen, grölten die Gäste mit und feierten uns danach. Sofia stürmte die Bühne und umarmte mich überschwänglich und auch die Inhaberin klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Auch zu Chris ging sie, um dankende Worte auszurichten, und danach wieder zum Mikrofon. Sie bedankte sich bei uns für den spontanen Auftritt und fragte die Anwesenden, ob es ihnen gefallen hätte. Ein brandender Applaus ertönte und plötzlich rief jemand Zugabe. Sofort fielen mehr Stimmen mit ein, und nach zehn Sekunden kam es einstimmig aus allen Kehlen. Ich war etwas bewegt von diesem Szenario, also ging Chris ans Mikrofon und kündigte ein Solo an. Ich war ihm dankbar, dass er in seiner Spontanität etwas aus dem Hut zaubern konnte. Ich flüsterte mit Sofia und sie rannte los. Währenddessen genoss ich den Anfang von “Piano Man”. Seine Stimme passte perfekt zu dem Song und gab dem Lied einen wehmütigen Charakter, der mir sehr gefiel. Sofia kam wieder und steckte mir ein Blatt zu. Ich faltete es und gab es Chris, als er geendet hatte. Unter tosendem Applaus ging ich zum Mikrofon und bedankte mich für den tollen Song und kündigte auch ein Solo an. Chris las währenddessen den Zettel durch, der eine einfache Notenfolge beinhaltete. Es war Sofias Lieblingslied. Sie hatte es immer dabei, weil es das erste Lied war, das ich für sie geschrieben hatte. Der Song begann mit meiner Stimme und das Klavier brauchte ich nur für den Refrain. Ich hoffte, dass Chris das in den wenigen Sekunden überflogen hatte und verstand, wie man das Lied spielen musste. Ich begann und alle sahen mich an. Es war eine traurige Ballade darüber, wie es sich anfühlt, seine Mutter in jungen Jahren zu verlieren. Sofia stand da und weinte. Selbst die Inhaberin sah bewegt zu uns und niemand bediente die Kunden. Als der Refrain einsetzte, spielte Chris die Noten perfekt. Sein Tempo war ein bisschen anders, als ich es gewohnt war. Dafür spielte er die Tasten mit mehr Gefühl, als es meine Musiker bisher gemacht hatten. Ich stellte mich schnell auf ihn ein und als er beim zweiten Wiederholen des Refrains mit einsetzte, passte es perfekt und ich war ihm nicht böse, dass er in mein Solo reinpfuschte. Auch Sofia sah ihn überrascht an und die Tränen schossen nur so aus ihren Augen. Nachdem wir geendet hatten, bedankte ich mich bei allen, und der Applaus hielt eine Minute an. Ich wusste, dass es Sofia nicht recht wäre, wenn ich hier vor allen sagte, dass ich ihr den Song gewidmet hatte. Jeder, der ihr Geheule gesehen hatte, konnte sicher eins und eins zusammenzählen, aber ich machte es nicht offiziell. Als ich den Blickkontakt mit ihr suchte, nickte sie. Dann wischte sie sich die Tränen ab und trat zu mir ans Mikrofon. Als nächstes kündigte sie meinen Gig an, den ich in zwei Wochen hatte, mit Standort und Uhrzeit. Die Inhaberin runzelte die Stirn und dann wechselte ihr Gesichtsausdruck zu einem nachdenklichen Lächeln. Ich errötete und verließ die Bühne. Chris folgte mir. Wir bekamen viel Lob von allen Seiten, während wir wieder nach hinten zur Bar gingen. Die Inhaberin folgte mir und scheuchte die Kellner wieder zu den Gästen. Nun gab es viele Bestellungen gleichzeitig, die schnell abgearbeitet werden mussten. Die Inhaberin gab uns unsere Gage und versprach, die Rechnung nachzureichen, und dann grinste sie spitzbübisch, was sie ein paar Jahre jünger wirken ließ. “Hättet ihr eventuell Lust, regelmäßig bei uns aufzutreten? Wir haben mehrere Musikabende im Monat. Einmal im Monat oder alle zwei Monate? Die Gäste hatten sehr viel Spaß an eurer Musik und ich wäre dumm, wenn ich euch die Frage nicht stellen würde.” Überrascht sahen Chris und ich uns an. Mein Mund klappte auf und schloss sich dann wieder, ohne dass ein Wort herausgekommen war. Mein Gehirn überflutete mich gerade mit Sätzen wie: Das ist keine gute Idee! Das ist eine großartige Idee! Ich war völlig überfordert, aber Chris öffnete den Mund und ich gefror innerlich, weil egal, welche Antwort er jetzt geben würde, ich war nicht darauf vorbereitet!
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