4.2 Chris

3386 Words
Nach einer langen Familienfeier am Samstag folgte ein Sonntag, an dem ich die Zeit nutzte, um meinen Unterricht für die kommende Woche vorzubereiten. Am Montag hielt ich zunächst meine erste Vorlesung. Danach hatte ich endlich genug Zeit, um Leas Adresse nachzuschlagen. Ich suchte mir die entsprechenden Unterlagen und fand heraus, was ich wissen wollte. Lea wohnte nur circa 15 Minuten zu Fuß von mir entfernt. Wir beide wohnten auf verschiedenen Seiten vom Schwimmbad, was wohl auch der Grund war, dass wir uns bisher nicht über den Weg gelaufen waren. Nun vielleicht änderte sich das ja jetzt. Ich hielt später noch meine zweite Vorlesung und freute mich dann aufs Schwimmbad, wo ich Lea wiedersehen würde. Ich schnappte mir meine Sporttasche und machte mich auf den Weg ins Schwimmbad. Nachdem ich fertig geduscht und umgezogen war, betrat ich den Schwimmbereich. Lea war bereits im Wasser. Scheinbar hatte sie einen Weg gefunden, wieder vor mir im Schwimmbad zu sein. Ich zog meine Bahnen und schaute mich ab und zu um. Ein paar Mal trafen sich unsere Blicke, zumindest schauten wir beide in die Richtung des Anderen. Ich beschloss schließlich, zu ihr rüber zu schwimmen. Dieses Mal blieb sie auf ihrer Bahn und tauchte nicht davon. Ich setzte mich zu ihr an den Beckenrand und wollte ein Gespräch beginnen, doch sie gab mir zu verstehen, dass sie zum Schwimmen hier war und nicht zum Plaudern. Allerdings sagte sie, dass wir gerne einen Kaffee nach dem Schwimmen trinken könnten. Ich willigte ein, begab mich wieder auf meine Bahn und schwamm meine Runden zu Ende. Als ich fertig war, war Lea schon weg. Etwas verwirrt begab ich mich aus der Halle und verließ schließlich das Schwimmbad. Lea wartete im Foyer auf mich und ich freute mich, dass sie nicht abgehauen war. Das Café, in das wir gingen, war nur drei Gehminuten entfernt. Ich kannte die Gegend, aber das Café war mir bisher nicht aufgefallen. Ich mochte keinen Kaffee und bestellte mir stattdessen einen Tee. Lea nahm eine heiße Schokolade. Nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben hatten, saßen wir einen Moment und schauten uns im Café um. Es war ein sehr stilvoll eingerichteter Laden und um diese Uhrzeit waren nicht sehr viele Gäste da. Wir wechselten ein paar kurze Worte, aber dann kam auch schon unsere Bestellung. Lea nahm ihre heiße Schokolade in die Hand und ich blies ein wenig in meinen Tee, damit ich mich beim ersten Schluck nicht verbrannte. Ich wollte gerade einen Schluck nehmen, als Leas Telefon klingelte. Ich erkannte den Klingelton sofort. Es war der Refrain von “Chosen Family” von Elton John und Rina Sawayama. Lea fluchte leise und entschuldigte sich, bevor sie ans Telefon ging. Lea sagte, dass sie beschäftigt sei und fragte, ob es wichtig wäre. Die Stimme im Telefon begann zu sprechen. Ich verstand nicht, was sie sagte, und das war auch gut so, denn ich interessierte mich nicht für die Telefongespräche von anderen. Mir war es regelrecht zuwider, wenn man einer kompletten Konversation zuhören konnte. Vor allem im Bus störte mich das, weil man keine Möglichkeit hatte, wegzuhören. Das erste, was Lea danach sagte, war: “Ähm, ja, deswegen sollte ich doch heute arbeiten kommen, oder?” Sie schien den Job in der Bar also bekommen zu haben. Ich überlegte, ihr später dazu zu gratulieren. Ich nahm einen Schluck von meinem Tee und ließ weiter das Café auf mich wirken, während Lea telefonierte. Dann blickte sie mich fassungslos an. Hatte ich etwas im Gesicht? Ich runzelte die Stirn. Lea nahm das Telefon vom Ohr und schaute auf das Display. Dann hielt sie das Telefon wieder ans Ohr und sprach: “Ja, die Lieder wären machbar, aber…” Ich hörte ein schrilles Quietschen aus dem Telefon und sah, wie Lea es ein Stück von ihrem Ohr entfernte, bevor sie meinte: “Halt! Wann ist denn der Auftritt genau?” Lea schaute auf die Uhr und sagte dann ins Telefon: “Und ich soll da alleine singen ohne Musik, oder was?” Die Stimme im Telefon sprach weiter. Lea seufzte und erwiderte: “Nein, ich kenne keinen Pianisten, jedenfalls keinen, der bei der Setliste in Frage käme.” Lea sollte also irgendwo etwas singen und suchte einen Pianisten. Scheinbar war das nicht so einfach in dem Moment. Ich dachte so bei mir, dass es sicher lustig wäre, ein paar Lieder zu spielen, und so räusperte ich mich und grinste Lea an. “Ihr sucht einen Pianisten? Zufällig spiele ich schon ein paar Jahre…” Bevor Lea etwas sagen konnte, sprach die Stimme im Telefon wieder. Leas Antwort war ein fast schon schockiertes: “Ich soll was?” Ich schaute Lea einfach weiter an und sagte nichts. Lea sah mich nicht an und sprach dann ins Telefon: “Was ist denn für ein Kleiderstil gefragt?” Nach einem kurzen Moment drehte sie den Kopf zu mir und fragte: “Hast du sowas wie einen Smoking oder Anzug und wärst bereit, dich umzuziehen und in 90 Minuten in der Bar von gestern zu sein?” “Ich schaff es in weniger Zeit. Steht ein Klavier schon bereit?” Lea nickte und ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Ich fand es schön, dass ich Leas Mimik nicht immer entziffern konnte. Bei vielen Leuten gelang es mir eigentlich ganz gut, aber Lea hatte manchmal Blicke drauf, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Während ich noch nachdachte, hörte ich Lea fragen: “Werden wir denn dafür auch bezahlt?” Dann hörte ich ein Kichern aus dem Telefon. Lea spielte nun mit der Zungenspitze an ihren Lippen. Den Anblick fand ich schon fast erotisch. Deswegen lächelte ich sie unweigerlich an. “Okay, ich mach es. Aber dann hab ich was gut bei dir, Sofia. Ich bring Chris mit.” Lea grinste und dann verstand ich zum ersten Mal, was die Person am anderen Ende sagte. “Was, Chris? Der Chris? Der Schwimmbad und Sushi Boy?” “Ja, genau der.", antwortete Lea. Sofia sagte noch etwas, das ich nicht verstand, und Lea stimmte dem zu. Dann war das Telefonat beendet. Lea zeigte mir die Nachricht, die Sofia ihr geschickt hatte. Es war eine Setlist des heutigen Abends. Ich schaute mir die Lieder an und wusste, dass ich 80 % davon sicher spielen konnte. Bei den anderen 20 % hätte ich improvisieren können, aber ich entschied mich dazu, die Noten auszudrucken, um es nicht so spontan wirken zu lassen. In dem Gespräch merkte ich, dass Lea ziemlich Ahnung von der Materie hatte. Sie stellte gute Fragen und nach dem Gespräch wusste ich schon, dass es keine totale Katastrophe werden würde, wenn Lea auch nur etwas singen konnte. Inspiriert von unseren Plattenkäufen, fügten wir der Setlist noch einen Abba- und Beatles Song am Ende hinzu. Ich sagte Lea, dass ich sie gerne bereits in 50 Minuten an der Bar treffen wollte, damit wir noch das Equipment ansehen konnten und eventuell Zeit zum Improvisieren hatten. Danach verließen wir das Café und eilten in verschiedene Richtungen fort. Ich ließ Lea wissen, dass ich genug Zeit hätte, da meine Wohnung nur zehn Gehminuten entfernt war. Wo Lea wohnte, wusste ich ja dank meiner Recherchen bereits. Ich lief nach Hause und dachte noch über die Lieder nach. Zum Glück konnte ich mir Lieder gut merken und wusste, für welche ich Noten brauchte. Ich schaltete meinen Computer an, suchte mir die Noten zusammen und druckte sie aus. Ich war voller Vorfreude auf diese Gelegenheit. Ich liebte das Klavier und spielte es ein- bis zweimal pro Woche, um nicht aus der Übung zu kommen. Ich packte die Blätter zusammen und holte meinen Smoking aus dem Schrank. Nach etwa 20 Minuten war ich fertig und hatte somit weitere 20 Minuten, um zur Bar zu kommen. Ich lag also gut in der Zeit und hoffte, Lea würde es ebenfalls schaffen. Ich machte mich auf den Weg und erreichte 15 Minuten später die Bar. Lea war noch nicht zu sehen, dafür konnte ich aber beobachten, wer sich so in die Bar begab. Die Leute machten einen durchaus gesitteten Eindruck und waren in meinem Alter oder etwas älter. Ich wusste, dass es nicht schwerfallen würde, sie mit den Liedern in den Bann zu ziehen. Nach ein paar Minuten sah ich Lea, die direkt auf mich zuging. In dem roten Kleid wirkte sie sehr erotisch. Ich musste mich beherrschen, nicht sofort einen Ständer zu bekommen, und zum Glück gelang es mir. Als sie noch näher kam, sah ich, dass sie sich geschminkt hatte. Es war ein ungewohnter Anblick, denn bisher hatte ich sie nie geschminkt gesehen. Sie lief zu mir und ich war der Erste, der etwas sagte. “Na, hast du dich ein wenig einsingen können?” Lea nickte knapp und erwiderte: “Hast du deine Noten alle gefunden?” Ich nickte ebenfalls und musterte Lea von oben bis unten. Sie war wirklich eine sehr attraktive Frau und in dieser Kleidung kam das noch viel besser zur Geltung. Dieses Mal konnte ich den Ständer nicht verhindern und hoffte, dass Lea ihn nicht bemerken würde. Lea machte den Mund auf, kam aber nicht zum Sprechen. Die Tür der Bar ging auf und Leas Freundin aus der Sushibar trat heraus. Das war also Sofia. Sie begann sofort zu reden. “Hab ich das rote Kleid doch richtig erkannt! Kommt rein, ich sehe, ihr seid schon fertig angezogen. Ihr solltet das Klavier und das Mikrofon testen, bevor es losgeht. Der Laden ist schon rappelvoll.” Sofia bedeutete uns, ihr zu folgen und ging dann in eine Gasse neben der Bar. Wir taten es und standen dann vor einem weiteren Eingang. Sofia war zwar auch attraktiv, aber nicht unbedingt mein Geschmack. Sie hatte lange schwarze Haare und blaue Augen, außerdem geschminkte Lippen und weiteres Make-up im Gesicht. Dieses Aussehen fanden viele Männer sehr ansprechend, aber ich mochte es ungeschminkt lieber. Wir gingen durch die Tür und kamen in eine kleine Vorratskammer. Von dort gingen wir weiter durch eine Umkleide, bis wir im Barbereich landeten. Die Bar war wirklich gut gefüllt und es gab kaum noch Sitzplätze. Gute Livemusik konnte wirklich viele Leute anlocken und schlechte Livemusik konnte die Leute vergraulen. Ich war gespannt, was wir heute darbieten würden. Wir traten auf die kleine Bühne. Lea ging zum Mikrofon und ich blieb vor dem Klavier stehen, um es zu betrachten. Es war ein solides Klavier und ich war mir sicher, dass ich darauf eine gute Performance abliefern könnte. Ich packte die Noten aus und legte sie auf den Notenständer, der am Klavier befestigt war. Dort fand ich auch eine Kopie der heutigen Setliste, was die Arbeit deutlich erleichterte. Ich sortierte die Noten entsprechend und legte die Setlist bereit. Lea führte einen Soundcheck durch. Die Gäste schienen zu merken, dass wir nicht die Musiker waren, die hier heute spielen sollten, denn die Stimmung änderte sich. Als Lea mit dem Soundcheck fertig war, sprach eine Frau in das Mikrofon. Sie erklärte, dass die für heute angekündigten Musiker nicht kamen, sie aber einen Ersatz organisiert hatten. Ich vermutete, dass die Frau die Besitzerin der Bar war. Während sie redete, setzte ich mich an das Klavier und klimperte etwas herum, um den Klang auf mich wirken zu lassen. Das Klavier war gut gestimmt und ich wusste nun, dass ich wirklich keine Probleme haben würde. Lea kam etwas näher zum Klavier, blieb aber im Hintergrund stehen. Die Frau, die uns ankündigte, erzählte ein paar lustige Anekdoten und zog die Meute in ihren Bann. Zusätzlich garnierte sie ihr Gespräch noch mit ein paar Witzen. Ich fand es gut, dass sie versuchte die Atmosphäre aufzulockern und ließ mich hinreißen, ihre Worte mit ein paar kleinen Musikeinlagen zu unterstützen. Das kam erstaunlich gut an und das Publikum ließ die anfänglichen Zweifel langsam fallen. Dann hörte sie auf und übergab das Mikrofon an Lea. Das Publikum heftete seine Blicke auf uns. Ein paar Sekunden ließ ich die Atmosphäre auf mich wirken. Sie war nun eine deutlich andere als am Anfang. Es war sehr ruhig, da die Gespräche größtenteils verstummt waren. Ich ließ meine Fingerknöchel knacken und stimmte das erste Lied an. Gleichzeitig wandte ich meinen Blick vom Publikum ab und schaute zu Lea. Glücklicherweise kannte ich die Noten dieses Liedes und konnte somit spielen, ohne auf das Klavier gucken zu müssen. Lea stand mit der rechten Seite zu mir gewandt. Ich konnte erkennen, dass sie die Augen geschlossen hatte und ruhig atmete. Sie korrigierte ebenfalls etwas ihre Haltung. Dies ließ mich vermuten, dass sie definitiv schon eine Menge Erfahrung hatte. Ich war gespannt, wie Leas Gesang klingen würde und ob sie so spontan eine gute Leistung ablegen konnte. Als sie den ersten Ton anstimmte, öffnete sie die Augen. Und als die nächsten Töne folgten, wusste ich, dass wir den Laden in der Tasche hatten. Wir spielten das erste Stück zu Ende. Ihre Stimme und die Töne des Klaviers harmonierten wunderbar zusammen. Das Lied verklang und das Publikum gab uns einen riesigen Applaus. Dabei war es doch gerade einmal das erste Lied gewesen und sie hatten noch gar nichts gesehen beziehungsweise gehört. Das nächste Lied auf der Setliste war ein Duett. Natürlich war mir aufgefallen, dass auf der Setliste insgesamt zwei Duette standen, aber wir hatten uns nicht darüber unterhalten, ob ich auch singen würde. Für mich war es an der Stelle selbstverständlich, und deshalb ging ich davon aus, dass es das auch für Lea war. Allerdings hatte ich ihr gegenüber nicht erwähnt, dass ich schon seit Jahren sang und auch einige Stimmencoachings in der Vergangenheit gehabt hatte. Ich stimmte das zweite Lied an und Lea setze mit dem Gesang ein. Sie sang die erste Strophe. Ich würde erst die zweite Strophe singen. Die dritte Strophe sowie der Refrain würden dann von uns gemeinsam gesungen werden, teils abwechselnd, teils gleichzeitig. Kurz bevor die zweite Strophe anfing, warf mir Lea einen Blick zu. Ich wusste genau, was er bedeutete und grinste. Die Strophe begann und damit auch mein Gesang. Ich sang die Strophe alleine und als der Refrain begann, überlagerten sich unsere Stimmen. Ich fand, dass sie sehr gut zueinander passten. Unser Lied neigte sich dem Ende zu und unsere Stimmen verschmolzen zu einer. Lea setzte nach wenigen Sekunden schon zum nächsten Lied an. Dieses Lied hatte in den ersten zehn Sekunden keine Begleitung, sodass ich einen Moment nur der Stimme lauschen konnte. Ich merkte, dass sie mit sehr viel Gefühl sang, auch wenn dieses Lied ein Stimmungsmacher war. Trotzdem gefielen mir die Klangfarbe und der Ausdruck sehr. Ich setzte mit dem Piano ein und variierte ein wenig mit den Tönen, um dem Lied noch mehr Schwung zu geben. Dies schien dem Publikum und Lea zu gefallen. Lea begann sogar ein wenig zu tanzen. Bewegen konnte sie sich also auch noch sehr rhythmisch. Doch dann kam ihre tollpatschige Ader durch und sie stieß den Mikrofonständer um. Das Publikum quittierte die Aktion mit einem Lachen und auch ich musste lachen, doch Lea ließ sich nichts anmerken, hob den Ständer auf und machte einfach quirlig weiter. Nach diesem Lied musste ich dann ein Lied vom Blatt spielen und verspielte mich einmal. Das klang in meinen Ohren grässlich, aber das Publikum ließ sich nicht viel anmerken. Zwischendurch diskutierten wir auch mal über Lieder. Lea und ich kannten unterschiedliche Versionen und mussten uns einigen, welche wir nun spielen sollten. Nachdem das zum dritten Mal vorgekommen war, lachte das Publikum und applaudierte. Am Ende spielten wir dann noch “Yellow Submarine” von den Beatles und “Take a chance on me” von Abba. Das Publikum war begeistert und applaudierte. Die Stimmung war sehr ausgelassen und das letzte Lied wurde fast vollständig mitgegrölt. Als das Lied vorbei war, grölte die Menge noch immer. Sofia rannte auf die Bühne und umarmte Lea. Die Besitzerin klopfte Lea auf die Schulter und bedankte sich danach bei mir, dass wir so spontan waren und eine gute Show abgeliefert hatten. Danach schritt sie zum Mikrofon und bedankte sich noch einmal vor dem Publikum bei uns. Sie fragte, ob es den Leuten gefallen hatte. Ein tosender Applaus brach los und dann kam etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Ein Wahnsinniger rief doch tatsächlich nach einer Zugabe, und angespornt von dieser einen Person wurden die Rufe immer mehr, bis schließlich der ganze Saal brüllte. Ich war mir zwar bewusst, dass wir eine gute Leistung abgeliefert hatten, aber das war Neuland für mich. Ich schaute zu Lea, aber sie stand einfach nur da und wirkte gerührt. Sie war in dem Moment jedenfalls nicht in der Lage zu singen. Also ergriff ich das Mikrofon und sagte, dass ich es dann einmal mit einem Solo probieren würde, wenn die Leute es denn hören wollten. Die Menge lachte und ich sah in ihren Gesichtern, dass es ihnen recht war. Ich setzte mich ans Klavier und begann, "Piano Man” von Billy Joel anzustimmen. Das war eines meiner liebsten Lieder und ich hatte das Lied schon oft gespielt und gesungen. Dem Publikum gefiel das Lied ebenfalls und die Leute zückten ihre Feuerzeuge und Smartphones, um ein Lichtermeer entstehen zu lassen. Ich war genau in meinem Element und spielte das Lied mit einer Freude, die ich schon lange nicht mehr empfunden hatte. Als ich mit dem Lied fertig war, flippte der Saal fast aus. Lea kam zu mir und drückte mir einen Zettel in die Hand. Sie ging wieder zum Mikrofon und bedankte sich für mein Solo, während das Publikum weiter applaudierte. Ich schaute mir den Zettel an. Dort waren Noten aufgeschrieben. Ich studierte den Zettel, während Lea ebenfalls ein Solo ankündigte. Die Noten waren einfach zu spielen, hatten aber einen komischen Tempowechsel im Refrain. Ich überlegte, ob ich diesen nicht etwas abwandeln sollte. Lea begann das Lied und ich setzte mit dem Piano ein. Es handelte sich um eine Ballade. Der Text beschrieb den Verlust der Mutter in jungen Jahren und war sehr gefühlvoll gehalten. Da die Noten recht einfach waren, schaute ich mich um. Das Publikum war ruhig und starrte gebannt auf Lea. Sofia stand nah an der Bühne und ihr rannen Tränen über die Wangen. Entweder berührte Leas Stimme sie sehr oder das Lied handelte von ihr. Ich tippte auf Letzteres. Ich schaute wieder zu den Noten, denn das Lied war kurz vor dem Refrain. Statt den Tempowechsel durchzuführen, blieb ich im Tempo und variierte die Tasten ein wenig, was meiner Meinung nach sehr gut zu der Stimmung des Liedes passte. Lea hatte keine Schwierigkeiten, sich anzupassen und der Refrain war wirklich rührend. Nach der zweiten Strophe kam der Refrain erneut und es überkam mich, so dass ich an einer passenden Stelle einsetzte. Wir spielten das Lied zu Ende und der ganze Laden applaudierte eine ganze Weile. Sofia begab sich neben Lea ans Mikrofon und kündigte einen Auftritt Leas an, der in zwei Wochen stattfinden sollte. Den Ort kannte ich nicht, aber es ließ sich sicher herausfinden, wo er war. Zur Not fragte ich Lea oder Sofia. Lea ging von der Bühne. Ich schnappte mir die Setliste und die Noten und machte ebenfalls einen Abgang. Die Gäste, an denen wir vorbeikamen, sprachen uns eine Menge Lob aus und ich freute mich, dass es allen gefallen hatte. Die Barbesitzerin machte eine Ansage an das Barpersonal und dieses flitzte durch den Raum, um Bestellungen aufzunehmen. Wir bekamen unsere Gage und sollten darüber bald noch einen Beleg erhalten. Es war eine nette Summe. Ich brauchte das Geld eigentlich nicht und so wusste ich auch schon, was ich gleich damit machen wollte. Bevor ich jedoch dazu kam, stellte sie uns eine Frage. “Hättet ihr eventuell Lust, regelmäßig bei uns aufzutreten? Wir haben mehrere Musikabende im Monat. Einmal im Monat oder alle zwei Monate? Die Gäste hatten sehr viel Spaß an eurer Musik und ich wäre dumm, wenn ich euch die Frage nicht stellen würde.” Ich schaute überrascht zu Lea und sie sah ebenfalls zu mir. Wir waren gut und ich konnte mir das durchaus vorstellen. Leas Gesichtsausdruck war mal wieder nicht zu deuten. Es wirkte, als würden in ihr 50 Leute gleichzeitig eine Emotion verarbeiten und diese auf dem Gesicht abbilden. Lea öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. Sie war sich wohl noch nicht sicher. Ich jedoch hatte meine Meinung schon gebildet. Ich hatte richtig Bock darauf, denn wir harmonierten super auf der Bühne. Außerdem machte es wahnsinnigen Spaß, vor einem Publikum Klavier zu spielen. Ich gab der Dame die einzige Antwort, die ich in diesem Moment geben konnte.
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