Kapitel 1 - Der Gesang der Sirene
Vor dreizehn Jahren …
„Sie kann sich an nichts erinnern?“
„Ich fürchte nicht.“
„Was können wir tun?“
Er schaute sich im Krankenzimmer um, wo das achtjährige Mädchen auf dem Bett lag, und schüttelte den Kopf. „Vielleicht ist es am besten, wenn sie sich nicht erinnert. Sie kann diesem Leben jetzt entkommen. Sie kann die Schrecken hinter sich lassen.“
Ein kleiner Junge zupfte an seinem Ärmel. „Aber Papa, wenn sie es vergisst, bedeutet das, dass sie uns alle vergisst. Ich will sie nicht verlieren. Bitte sorge dafür, dass sie sich erinnert!“
Der Mann kniete sich hin, sodass er auf Augenhöhe mit seinem Sohn war. „Was habe ich dir darüber gesagt, dass du mich ‚Papa‘ nennen sollst? Du bist zu alt, um diesen Begriff zu verwenden. Wenn du musst, nenne mich ‚Vater‘. Und was Juniper betrifft, so bist du jetzt zu jung, um das zu verstehen, aber eines Tages wirst du verstehen, warum es am besten ist, wenn sie dich und deine Brüder vergisst.“
JUNIPER
„Hast du gehört, dass sie ihre Noten nie verdient hat?“
„Oh, sie hat sie sich verdient-nur auf Knien.“
„Kein Wunder, dass sie einen perfekten Notendurchschnitt hat. Niemand kann in Professor Harrisons Klasse eine 1 bekommen, aber sie hat es geschafft.“
„Ich wusste, dass sie irgendetwas im Schilde führt! Ich hätte nur nie gedacht, dass sie mit dem Lehrer schlafen würde, um ihr perfektes Image zu wahren.“
Die Cafeteria war voller nutzloser Gerüchte. Jede einzelne Person, an der ich vorbeikam, flüsterte die Lügen, die sich wie ein Lauffeuer verbreiteten. Es passierte über Nacht. In einem Moment war alles normal, und im nächsten konnten alle nicht aufhören, über das Mädchen mit den perfekten Noten zu tratschen, das sich ihre Noten anscheinend nie wirklich verdient hatte.
Kein einziges Gerücht stimmte.
Ich wusste das, weil die Gerüchte über mich waren.
„Ich frage mich, ob Juniper immer noch Jahrgangsbeste sein wird, wenn die Schule herausfindet, dass sie so eine Schlampe ist.“
Ich verbrachte unzählige Nächte in der Bibliothek, nachdem alle anderen gegangen waren, um mich auf das letzte Semester bei Professor Harrison vorzubereiten. Ich strengte mich mehr an als je zuvor, weil ich mir die schwer zu erreichende Eins verdienen musste, die er selten vergab.
„Das bezweifle ich. Professor Harrison wird wahrscheinlich auch gefeuert werden.“
„Gut, dass wir den los sind.“
Ich traf mich mit Professor Harrison, um ihn zu bitten, einige Notizen zu klären, die ich gemacht hatte. Jedes Treffen, das stattfand, fand in seinem Büro bei offener Tür statt. Es ging nie über das Berufliche hinaus.
„Ach, ich kann nicht glauben, dass ich auf jemanden wie Juniper eifersüchtig war. Ich dachte immer, sie wäre so schlau, aber anscheinend ist sie nur gut darin, ihre Beine zu spreizen.“
Ich blickte weiter nach vorne und hielt mein Mittagessen in den Armen. Das Blut pochte in meinem Kopf und meine Brust zog sich zusammen, sodass ich kaum noch atmen konnte. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Sie warteten darauf, dass ich etwas sagte oder tat, aber ich ging weiter und musste sofort aus dem Raum.
Über Nacht war mein Ruf ruiniert und ich hatte keine Ahnung, warum. Ich lächelte immer. Ich arbeitete hart. Ich half anderen, wenn sie mich um Hilfe baten. Ich war ein guter Mensch und eine gute Schülerin, aber jetzt sahen mich alle an, als wäre ich eine Art Ausgestoßene.
Ich musste von allen wegkommen. Ich musste herausfinden, wie das passiert war und wie ich es wieder in Ordnung bringen konnte. Ich erhaschte einen Blick auf meine beste Freundin Moira, die mit einer Gruppe ihrer anderen Freunde in der Ecke der Cafeteria saß, und ging direkt auf sie zu.
Moira und ich waren beste Freundinnen, seit ich zwölf Jahre alt war. Ihre Eltern nahmen mich bei sich auf, als ich nirgendwo unterkommen konnte, und wir spielten miteinander, während sie arbeiteten. Wir wuchsen zusammen auf. Sie war schon immer meine beste Freundin gewesen, aber sie war besser darin, neue Freundschaften zu schließen als ich. Sie war die Anführerin der Cheerleader und eines der beliebtesten Mädchen in der Schule. Sie war das, wovon jedes Mädchen träumte.
„Was willst du?“, fragte eine von Moiras Freundinnen spöttisch. Sie musterte mich von oben bis unten auf eine Art und Weise, die mir das Gefühl gab, entblößt zu sein, als würde sie all meine tiefsten, dunkelsten Geheimnisse kennen. Ihr Name war Ashley oder so ähnlich.
„Moira, kann ich mit dir reden?“
Moira saß auf dem Tisch und ließ ihre Beine über die Tischkante hängen. Die anderen Mädchen saßen auf Stühlen um sie herum, was Moiras Status in der Gruppe deutlich hervorhob. Sie feilte weiter an ihren Nägeln und machte sich nicht einmal die Mühe, mich anzusehen. Das war untypisch für sie. „Ich bin beschäftigt.“
Für mich hatte sie immer Zeit. Hatte sie das Gerücht gehört und hielt es für wahr? Nein, dafür kannte sie mich zu gut. „Bitte, ich brauche dich.“
„Hau ab. Deine Schlampigkeit wird auf uns abfärben.“ Ashley winkte mit den Händen und versuchte, mich wie eine Fliege wegzuschlagen. Sie mochte mich noch nie. Ihre Blicke hatten das deutlich gemacht. Allerdings war Ashley noch nie so unverschämt zu mir gewesen. Sie mochte mich zwar nicht, aber Moira mochte mich, und das reichte aus, um sie im Zaum zu halten.
Ich sah Moira an und erwartete, dass sie etwas sagen würde, aber sie feilte einfach weiter an ihren bereits perfekten Nägeln.
„Moira, bitte.“ Meine Stimme zitterte. Ich bettele nicht gern, aber ich brauchte meine beste Freundin. Ich konnte die Blicke und das Getuschel über mich nicht ertragen, da ich wusste, dass sie alle aus einem Grund kamen, der nicht stimmte.
„Ich sagte, verschwinde hier“, schnappte Ashley.
Moira hob die Hand. „Nein, ist schon okay.“ Sie sprang vom Tisch und reichte Ashley ihre Nagelfeile. „Ich bin gleich wieder da. Es sollte nicht lange dauern, den Müll rauszubringen.“
Ich packte Moira am Arm und zerrte sie aus der Cafeteria. Als ich eine kleine Nische fand, in der wir ungestört waren, blieb ich stehen. „Was ist in dich gefahren? Du benimmst dich seltsam.“
„Weil ich nicht mit jemandem in Verbindung gebracht werden will, der sich nach oben schläft.“
Ihre Worte trafen mich wie ein Messerstich ins Herz. „Du weißt, dass das nicht wahr ist. Du bist seit Jahren meine Mitbewohnerin. Du hast gesehen, wie ich wochenlang jede Nacht bis zur Schließung in der Bibliothek gelernt habe. Wie kannst du so ein Gerücht glauben?“
Moira kannte mich besser als jeder andere, und der Gedanke, dass sie so schlecht von mir dachte, war zu viel.
Ihr Mund verzog sich zu einem bösen Grinsen. „Das tue ich natürlich nicht, aber ich habe so hart daran gearbeitet, dieses Gerücht zu verbreiten. Ich muss den Schein wahren.“
Es war, als würde sie eine Fremdsprache sprechen. Ich wusste genau, was sie gesagt hatte, aber ich konnte nichts davon verstehen. Das musste ein schrecklicher Albtraum sein, aus dem ich jeden Moment aufwachen würde.
„Ich verstehe nicht. Du bist meine beste Freundin. Das würdest du mir nicht antun.“ Ich wollte das von ganzem Herzen glauben, aber das Grinsen in ihrem Gesicht sagte mir, dass es eine Lüge war. Es war alles eine Lüge.
„Du bist noch dümmer, als ich dachte. Ich mag deine beste Freundin sein, aber du bist nicht meine. Ich mag dich nicht einmal. Ich bin nur deine Freundin, weil meine Eltern mich dazu gezwungen haben. Sie hatten Mitleid mit einem armen Waisenkind, einer Omega-Wölfin wie dir. Kein Status, keine Eltern. Du bist nicht einmal besonders hübsch, aber in der Schule hast du mich immer übertroffen. Ich hatte es satt, mir ständig anhören zu müssen, wie toll du bist. Sie konnten nicht sehen, was für ein Mistkerl du in Wirklichkeit bist, also habe ich beschlossen, ihnen die Wahrheit zu zeigen.“
Moiras Worte waren voller Gehässigkeit, und ich spürte, wie sich mein Körper bei jedem neuen Satz, den sie sagte, wie gelähmt anfühlte.
„Ich verstehe nicht“, wiederholte ich und fühlte mich wie ein kompletter Idiot. Ich erinnerte mich an all die Momente, die ich mit Moira geteilt hatte. Wir hatten gelacht und geweint und uns gegenseitig Halt gegeben. Während des Studiums war sie distanzierter geworden, aber ich hatte immer angenommen, dass das daran lag, dass unsere Leben unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten. Sie war die Tochter des Alphatiers und die Anführerin der Cheerleader. Alle erwarteten, dass sie eines Tages die Anführerin unseres kleinen Rudels sein würde.
Ich hingegen hatte keinen Status, genau wie sie es gesagt hatte. Wenn meine Eltern noch am Leben wären, wäre es vielleicht anders gekommen, aber sie sind schon vor langer Zeit gestorben. Ich war ein Außenseiter in unserem Rudel, aber ich dachte, wenn ich hart arbeiten und gute Noten schreiben würde, könnte ich den Mangel an Familie ausgleichen und allen zeigen, dass ich mehr war als nur mein Status im Rudel.
Ich dachte, Moira würde immer auf meiner Seite stehen und mich unterstützen, aber ich habe mich geirrt. Ich hatte niemanden auf meiner Seite.
„Ich bin sicher, wenn du noch ein wenig darüber nachdenkst, wirst du es verstehen. Du lernst nur, anstatt wirklich etwas zu tun. Das wissen wir beide, und deshalb wirst du auch niemandem die Wahrheit darüber erzählen, wie dieses Gerücht entstanden ist.“ Sie sah selbstgefällig aus, als sie auf mich herabblickte. Wir waren normalerweise gleich groß, aber sie trug immer Absätze, die mich überragten.
Ihre Augen waren dunkel vor Stolz. Es war, als hätte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als mich fallen zu sehen, und soweit ich wusste, war das der Fall. Sie wollte gerade weggehen, aber ich packte sie am Arm. Ich konnte nicht einfach zusehen, wie sie den Ruf ruinierte, den ich mir so hart erarbeitet hatte.
„Ich verstehe immer noch nicht, warum du das getan hast. Wir sind Freunde. Es gibt Dinge, die man nicht vortäuschen kann. Aber ich lasse nicht zu, dass du mich wegen irgendeines Grolls, den du gegen mich hegst, ruinierst. Du verletzt nicht nur mich, sondern auch Professor Harrison. Das ist kein kleiner Streich. Du könntest Leben ruinieren.“
Moira riss ihren Arm von mir weg. „Genau. Die Menschen müssen die Wahrheit über dich erfahren, und du kannst nichts dagegen tun. Du kannst dich dagegen wehren, so viel du willst, aber hier bist du erledigt, Juniper.“
Das Klacken ihrer Absätze in meinen Ohren erfüllte mich mit Schmerz, als sie von mir wegstürmte, um zu ihrer Gruppe von Freunden zurückzukehren. Sie war nicht die Person, für die ich sie gehalten hatte, und es fühlte sich an, als wären Jahre der Freundschaft eine Lüge gewesen.
Ich war schlau. Ich war immer das klügste Mädchen in meinen Klassen gewesen, aber jetzt fühlte ich mich wie ein kompletter Idiot. Hatte ich mein ganzes Leben mit der Nase in einem Buch verbracht, sodass ich die reale Welt um mich herum nicht mehr sehen konnte?
Die Welt um mich herum wurde lauter, und das Flüstern der Gerüchte fühlte sich nicht wie Flüstern an. Finger zeigten in meine Richtung, während die Leute lachten und höhnten. Diese Schule war mein Zuhause. Ich liebte alles an ihr, von der Bibliothek über die Bäume bis hin zu den Lehrern. In den letzten drei Jahren hatte sie sich sicher und warm angefühlt, aber jetzt fühlte sie sich wie ein Albtraum an, aus dem ich nie wieder aufwachen würde.
Ich ging aus der Cafeteria weg, ohne mir mehr Gedanken über das Mittagessen zu machen. Mein Magen verkrampfte sich, und ich würde auf keinen Fall etwas essen können. Ich beschleunigte meinen Schritt, als ich hörte, wie mein Name von Mund zu Mund ging. Alle redeten über mich und ich konnte nichts dagegen tun.
Ich dachte, je weiter ich mich von der Cafeteria entferne, desto leiser würden die Gerüchte werden, aber als ich über den Platz ging, hatte ich das Gefühl, dass mich alle mit diesen verurteilenden Blicken beobachteten, als wollten sie sagen: „Ich wusste immer, dass sie scheitern würde. Ihre Eltern waren schließlich nur Omegas. Sie hat nur vorgegeben, etwas zu sein, was sie nicht ist.“
Als ich mit dem Laufen anfing, wusste ich es noch nicht, aber ich wollte unbedingt von allem und jedem weglaufen. Meine Welt brach um mich herum zusammen und es gab kein noch so langes Laufen, das das aufhalten konnte. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.
Ich konnte nicht nach Hause gehen. Moira war meine Mitbewohnerin, also gab es kein Zuhause, in das ich gehen konnte. Ich musste einfach weiterlaufen, bis ich einen Ort fand, an dem mich das Getuschel nicht erreichen konnte.
Ich bog um eine Ecke und es fühlte sich an, als wäre ich gegen eine Mauer gerannt. Meine Tasche flog mir vom Arm und meine Lernunterlagen verteilten sich überall. Mein Körper prallte von der festen Kraft ab und ich wusste, dass ich in wenigen Sekunden genauso hart auf dem Boden aufschlagen würde.
Eine Hand packte meinen Unterarm und hielt mich auf, bevor ich völlig das Gleichgewicht verlor, und zum ersten Mal verstand ich, gegen wen ich da gerannt war-oder besser gesagt, gegen wen.
Er war groß und sein dunkles Haar war gestylt. Es sah seidig aus, trotz des Gels, das es durchzog, um es in einer so ordentlichen Position zu halten. Eine Brille bedeckte seine ozeanblauen Augen und verlieh ihm ein reifes Aussehen. Das, gemischt mit dem blauen Hemd mit den bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln, ließ ihn so aussehen, als gehöre er nicht zur Schülerschaft. Er sah eher wie ein Lehrer aus, aber er konnte nicht viel älter sein als ich.
„Vorsicht.“ Er zog mich aufrecht, und meine Hand ging automatisch zu seiner Brust, um mich zu stabilisieren. Er schaute auf meine Hand und grinste. „Das ist furchtbar aufdringlich von dir. Normalerweise komme ich Leuten, die ich gerade erst kennengelernt habe, nicht so nahe.“
Mein Gesicht wurde rot und ich zog mich schnell zurück. „Es tut mir leid. Das wollte ich nicht. Ich wollte nur...“ Mir fehlten die Worte. Mein Gehirn arbeitete immer noch auf Hochtouren, weil ich ihn umgerannt hatte. Ich hätte gedacht, dass er aus Stein war, so hart hatte ich ihn getroffen, und er stolperte nicht einmal.
„Entspann dich. Ich mache nur Spaß. Ganz im Ernst, geht es dir gut?“ Er musterte mich von oben bis unten, was meine Wangen nur noch mehr zum Glühen brachte. Ich mochte die Art, wie sein Blick meinen Körper erhellte, was seltsam war. Normalerweise scheute ich den Blick eines Mannes.
Ich nickte. „Mir geht es gut. Habe ich dir wehgetan?“
Er neigte den Kopf und verzog die Mundwinkel. Meine Frage amüsierte ihn. „Es geht Ihnen nicht gut. Ihre Kleidung ist zerzaust und Ihre Wangen sind gerötet, nicht nur vor Verlegenheit. Sie hatten es furchtbar eilig. Sie sind entweder zu etwas gerannt oder vor etwas davon gelaufen.“
Ich konnte seinen Beobachtungen nur staunend zuhören. Ich wollte seine Andeutungen nicht bestätigen, weil er mich dann vielleicht bitten würde, ins Detail zu gehen. Ich erkannte diesen Mann nicht, was bedeutete, dass er wahrscheinlich die Gerüchte nicht kannte, die sich wie eine ansteckende Krankheit verbreiteten. Ich wollte den Moment der Anonymität bewahren, auch wenn er eher früher als später ruiniert werden würde.
Ich entschied, dass ein Themenwechsel der sicherste Weg war. „Sie gehen nicht auf diese Schule.“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Und woher willst du das wissen?“
„Die CUW ist keine sehr große Schule. Ich kenne alle Schüler, die hierher gehen.“ Ich bin mit einem Teil der Schüler aus meinem Rudel aufgewachsen. Die anderen Werwölfe, die die Schule besuchten, kamen aus dem ganzen Land, aber dies war mein viertes Jahr an der Schule. Ich kannte alle Gesichter der Schüler, auch wenn ich ihre Namen nicht kannte.
„Die Clandestines Uni für Werwölfe mag eine kleine Schule sein, aber es gibt immer noch Hunderte von Studenten hier. Sie können unmöglich die Namen aller Studenten hier kennen.“ Seine Augen schienen zu glitzern, als würde er die Herausforderung genießen, die er darstellte.
„Ich habe nie behauptet, ihre Namen zu kennen, aber ich erkenne ihre Gesichter. Das gehört zu meinen Aufgaben als Präsident des Studentenrates, und ich nehme meine Aufgabe sehr ernst.“ Ich stand aufrecht da, entschlossen, diesem Mann zu zeigen, mit wem er es zu tun hatte-mit meinem wahren Ich.
Sein Lächeln wurde breiter. „Das tust du, nicht wahr, aber hast du jemals in Betracht gezogen, dass ich neu hier bin?“
Mit seiner Frage hatte er mich. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Normalerweise war ich eine der ersten, die von neuen Schülern erfuhren, da ich im Schülerrat war. Aber wenn die Nachricht heute Morgen gekommen wäre, hätte ich noch keine Gelegenheit gehabt, davon zu erfahren.
„Bist du ein Austauschschüler?“, fragte ich. Er sah für mich immer noch nicht wie ein Schüler aus. Seine Stoppeln verliehen ihm ein reiferes Aussehen, das die meisten Jungen auf dem Campus nicht hatten.
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich schätze, du musst einfach deine Hausaufgaben machen. Ich bin gespannt, was du herausfindest, wenn wir uns das nächste Mal treffen.“
„Nächstes Mal? Du scheinst dich so sicher zu sein, dass wir uns wiedersehen werden.“ Ich spürte, dass unser Treffen sich dem Ende zuneigte, aber ich war noch nicht bereit dafür. Es bestand die Möglichkeit, dass dieser Mann die letzte Person auf dem Campus war, die noch nichts von den schrecklichen Gerüchten gehört hatte, aber wenn wir uns wiedersehen würden, wäre mein Image dahin. Ich wollte den Moment noch ein wenig länger genießen.
„Als Präsident des Studentenrates wäre ich überrascht, wenn ich dich nicht wiedersehen würde. Leider bin ich spät dran und du hattest es auch eilig, also sollte ich mich vorerst von dir verabschieden.“ Er nickte mir zu und ging los.
Ich packte ihn am Arm, ohne zu wissen, was ich tat. „Warte. Ich weiß nicht einmal deinen Namen.“
Er schaute auf die Stelle, an der ich ihn festhielt, und lächelte. „Ethan. Und du?“
„Juniper Johnson.“ Ich kam mir sofort albern vor, weil ich meinen Nachnamen erwähnt hatte. Das war völlig unnötig.
„Nun, Juniper Johnson, ich freue mich darauf, dich wiederzusehen. Ich hoffe, dass sich die Angelegenheit, die dich beunruhigt, zu deinen Gunsten entwickelt.“
„Warte.“ Ich umklammerte seinen Arm fester, weil ich Angst hatte, ihn gehen zu lassen.
Er hob die Augenbrauen. „Hmm?“
„Kannst du mir einen Gefallen tun?“ Ich war noch nicht bereit, diese Interaktion zu beenden.
„Einen Gefallen? Noch einmal: Du bist für jemanden, der mich gerade erst kennengelernt hat, furchtbar direkt.“ Er hielt meinem Blick stand, und seine Augen fühlten sich genauso tief an wie der Ozean. Er lächelte und neckte mich, aber ich konnte spüren, dass Ethan noch so viel mehr zu bieten hatte.
„Erinnere dich an mich, so wie ich jetzt bin. Lasse nicht zu, dass andere dein Bild von mir trüben.“ Ich wusste nicht, ob das etwas bewirken würde. Sobald Ethan die Gerüchte über meine Noten gehört hatte, war es vielleicht egal, wie unser Treffen in diesem Moment verlief, aber ich wollte es zumindest versuchen. Es fühlte sich an, als wäre er meine letzte Hoffnung auf Wahrheit, was keinen Sinn ergab. Ich sprach weniger als fünf Minuten mit ihm. Ich kannte ihn nicht und er kannte mich nicht, aber es fühlte sich an, als wäre dies meine Chance auf etwas Neues.
„Also gut, Juniper Johnson.“ Seine Augen glitten an meinem Körper auf und ab und ließen mich erschauern. „Ich werde dich als das zerzauste, forsche Mädchen in Erinnerung behalten, das mir in die Arme lief, um vor etwas davonzulaufen oder auf etwas zuzulaufen. Ich werde mich an dein schokoladenbraunes Haar und deine bernsteinfarbenen Augen erinnern, an deine vollen Lippen und deine weiche Haut. Ich werde mich daran erinnern, wie deine Stimme wie der Gesang einer Sirene klingt und dein Gesicht wie die Schönheit eines Engels aussieht. Ich werde dich so in Erinnerung behalten, wie ich dich jetzt sehe, egal, welche bösen Gerüchte ich höre.“
Meine Hand ließ seinen Arm los, schockiert von seinen Worten. Er war sanft und poetisch, und mit einem kleinen Nicken ging er von mir weg, aber ich wusste, dass dies erst der Anfang von etwas zwischen uns war.